medico: Wir haben uns verabredet, um über die jüngsten Entwicklungen in der Türkei zu sprechen. Denn es ist viel passiert seit Jahresbeginn…
Mithat Sancar: Ja, das Jahr begann in der Tat bewegt. Nicht nur der Sturz des Assad-Regimes im benachbarten Syrien hat unmittelbare Folgen für den türkischen Staat und seinen Einfluss in der Region. Parallel zum Umsturz in Syrien bahnt sich auch in der Türkei ein neuer Friedensprozess an. Anfang Oktober 2024 sendete der MHP-Chef Devlet Bahçeli erste Signale. Dann folgte Ende Februar der Aufruf des seit 1999 inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan zur Niederlegung der Waffen und Auflösung der PKK. Anfang Mai traf der PKK-Kongress die entsprechenden Beschlüsse. Das sind historische Meilensteine. Ende März gingen dann Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu, Erdoğan größtem politischen Konkurrenten von der CHP und Bürgermeister von Istanbul, zu protestieren, der bis heute in Haft sitzt. Es sind aufwühlende Zeiten, in denen es aber auch eine Perspektive für nachhaltigen Frieden und eine Demokratisierung in der Türkei gibt.
Nicht nur Ekrem İmamoğlu sitzt nach wie vor und ohne Anklage in Haft. Auch weitere CHP-Bürgermeister wurden abgesetzt. Ist dies nicht eher der nächste Schritt Richtung Autokratie?
Die Gründe der Verhaftung von Ekrem İmamoğlu und seinen Mitarbeitern sind grundsätzlich politisch motiviert und so wurde es auch international wahrgenommen. Durch seine Verhaftung will Erdoğan die Bedingungen für seinen Machterhalt bei der kommenden Präsidentschaftswahl verbessern. Es ist auch nichts Neues, dass die Justiz für derartige politische Ziele instrumentalisiert wird. Kurz nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Unter diesen Bedingungen des Ausnahmezustandes ist dann die Verfassung durch ein Referendum im April 2017 geändert und das Präsidialsystem eingeführt worden. Damit hat die Exekutive ihre Kontrolle und ihren Einfluss über die Justiz erheblich vertieft und ausgeweitet. Der Prozess der Autokratisierung wurde jedenfalls in den Jahren nach dem Putschversuch und mit der Verfassungsänderung rasant beschleunigt.
Der Putschversuch ist mittlerweile fast zehn Jahre her. Würdest du die Türkei denn heute als Autokratie bezeichnen? Und welche Rolle spielt dabei die von dir beschriebene politische Justiz?
Wir stehen sicherlich an einer Schwelle. Die Türkei verwandelt sich Schritt für Schritt in eine Autokratie und es fehlt nicht mehr viel, bis wir von einer vollen Autokratie sprechen können – aber noch ist es nicht so weit. Die Justiz ist schon seit vielen Jahren nicht unabhängig, vielmehr wird sie als politisches Mittel benutzt, um politische Gegner und Oppositionelle auszuschalten. Seit 2016 hat es mehrere Wellen politisch motivierter Verhaftungen und Prozesse gegeben, nicht zuletzt gegen Personen unserer Parteispitze wie Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, Abgeordnete, Bürgermeister:innen, Parteimitglieder und viele mehr. Viele von ihnen sitzen noch immer im Gefängnis. Und sehr viele Bürgermeister:innen von unserer Partei wurden abgesetzt. All das kritisieren auch Berichte der EU und des Europarates, es ist also kein Geheimnis.
Was muss in deinen Augen passieren, damit sich diese Transformation noch aufhalten lässt?
In der Türkei sind die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte, die sich gegen die Autokratisierung einsetzen, immer noch lebendig. Sie können noch die Notbremse ziehen. Es gibt die demokratische Tradition einer vielfältigen Gesellschaft. Die ist natürlich polarisiert, aber bislang kommt es nicht zu direkten Konfrontationen innerhalb der Gesellschaft. Dass wir diese Gegen-Dynamiken auf keinen Fall aus dem Blick verlieren dürfen, haben nicht zuletzt die Demonstrationen nach der Inhaftierung von İmamoğlu gezeigt.
Wer hat da demonstriert und warum?
Es haben nicht nur CHP-Anhänger:innen gegen die Verhaftung von İmamoğlu protestiert. Die große Beteiligung Jugendlicher und Studierender war auffällig und drückt die große Unruhe in unserer Gesellschaft aus, die besonders die unter Perspektivlosigkeit leidende Jugend betrifft. Viele sind unzufrieden mit Erdoğans Willkürregime und sehnen sich nach einer Alternative. Das muss die Opposition allerdings jetzt verstehen und eine echte politische Zukunftsperspektive für die jungen Menschen entwickeln. Denn nur mit Protesten und Versammlungen allein kann gesellschaftlicher Wandel nicht erreicht werden.
Mitten in diese neu entfachten Proteste fällt der mögliche Beginn eines historischen türkisch-kurdischen Friedensprozesses...
Der Aufruf von Öcalan am 27. Februar zur Niederlegung der Waffen der bewaffneten Einheiten der PKK und die Entscheidung des PKK-Kongresses von Anfang Mai, sich aufzulösen, sind Meilensteine. Doch wir stehen gerade erst am Anfang eines sehr langen Weges. Bemerkenswert ist allerdings, dass der angestoßene Friedensprozess etwas Einmaliges darstellt. Ich habe lange zu der Frage der Konfliktlösungen und Auflösungen bewaffneter Gruppen gearbeitet, habe Bücher, Aufsätze, Kolumnen über Südafrika, Nordirland, Spanien und Kolumbien geschrieben, war mit vielen Akteuren im Gespräch. Normalerweise beginnt ein Dialog damit, dass in Hinterzimmern Gespräche geführt werden. Dann kommt es zu Verhandlungen, dann zu Vereinbarungen und am Ende werden die Waffen niedergelegt. Die bisherigen Lösungsversuche in der Türkei, die es mit einem solchen Modell versucht haben, sind alle gescheitert – es gab ja bereits zwei Mal den Versuch, einen Friedensprozess in der kurdischen Frage einzuleiten. Öcalan ist schon lange bereit für die Niederlegung der Waffen, 1993 erklärte er zum ersten Mal einseitig den Waffenstillstand. Diesmal hat er es anders gemacht und bereits zu Beginn die Niederlegung der Waffen und ihre Auflösung verkündet. Zwar ist die PKK in der Türkei militärisch inzwischen viel schwächer als vor zehn Jahren. Aber sie ist eben nicht nur eine bewaffnete Organisation, sondern hat auch einen großen politischen und zivilgesellschaftlichen Flügel – und zwar nicht nur in der Türkei, sondern auch in Syrien, im Irak und im Iran. Dort haben sie direkten Einfluss.
Inwieweit haben die Entwicklungen und Machtverschiebungen in der Region – in Syrien, im Libanon und in Palästina/Israel – diesen Friedensprozess befördert?
Die regionalen Entwicklungen spielen eine ganz entscheidende Rolle für den Zeitpunkt. Die AKP/MHP-Regierung sieht ihre Vormachtstellung in der Region bedroht, sie wissen, dass sie etwas ändern müssen. Nach dem
7. Oktober 2023 ist nichts mehr so wie früher und die Region sortiert sich neu: Die Machtübernahme von HTS in Syrien, die von Israels Angriffen extrem geschwächte Hamas und Hisbollah und dadurch auch ein geschwächter Iran: Es war strategisch sehr schlau, in diesen Zeiten den Friedensprozess anzustoßen – und zwar von beiden Seiten. Damit wollen alle Akteure unter diesen heiklen Bedingungen ihre Rolle in der Region neu bestimmen. Bei Friedensprozessen ist es verständlich und fast unumgänglich, dass alle Akteure eigene Ziele verfolgen. Aber für einen ernsthaften Start eines Prozesses ist es ebenso entscheidend, dass sich die Interessen in wichtigen Punkten überschneiden. Dann muss man Mechanismen für den Aufbau und Etablierung des Friedens und auch gemeinsame Narrative schaffen – da stehen wir in der Türkei allerdings noch am Anfang.
Gibt es denn eine gesellschaftliche Akzeptanz für einen solchen Prozess? Ich kenne viele Kurd:innen, die skeptisch darauf blicken und unsicher sind.
Vor einigen Tagen wurde eine Umfrage veröffentlicht, die in 16 kurdischen Städten durchgeführt worden war. Die Akzeptanz für einen Friedensprozess in der Bevölkerung liegt bei über 70 Prozent. Das ist wichtig. Aber natürlich haben viele auch Zweifel, Sorgen und Unsicherheiten. Das gilt besonders für die westlichen Teile des Landes. Die Mehrheit will einen Frieden – aber zu welchen Bedingungen? Hierbei gibt es viele offene Fragen. Das ist auch normal. Die Zurückhaltung kommt auch daher, dass viele dem AKP/MHP-Machtblock nicht trauen und vermuten, dass sie den Friedensprozess für ihre Zwecke instrumentalisieren. Daher braucht es nun Maßnahmen und Schritte, um diese Sorgen zu entkräften.
Welche Maßnahmen und nächsten Schritte wären das?
Das Parlament muss ins Handeln kommen. Wenn sich eine Organisation entscheidet, die Waffen niederzulegen, müssen die rechtlichen und faktischen Bedingungen dafür geschaffen werden. Darum muss es jetzt gehen. Es muss eine Kommission geschaffen werden, mit Vertreter:innen aller Parteien, in der rechtliche Garantien und demokratische Reformen verhandelt werden. Sie muss Transparenz für die Bevölkerung herstellen. Ohne den engagierten Friedenswillen von allen Akteuren und von der Zivilgesellschaft wird es keinen Erfolg geben. Außerdem müssen rechtliche und politische Mechanismen aufgesetzt werden. Darauf wartet die PKK jetzt. Denn es stellen sich ganz konkrete Fragen: Wie soll die Niederlegung der Waffen ablaufen? Wie sieht die gesellschaftliche Zukunft der PKK-Kader und der Kämpfer:innen aus? Für solche Fragen gibt es zahlreiche Erfahrungen in verschiedenen Ländern und auch Expert:innen, die gehört werden sollten. Es gibt beispielsweise das UN-Programm „Disarm, Demobilisation, Reintegration“, das rechtliche und physische Bedingungen in solchen Konflikten verarbeitet und wichtige Standards entwickelt. Solch ein Programm muss jetzt auf die kurdische Frage angepasst werden. Der Reintegrationsprozess wird sehr umfangreich sein, auch hier braucht es internationale Expert:innen und Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen.
Wie schätzt du die Erfolgsaussichten ein? Du hast ja selbst gesagt, dass dies nicht der erste Versuch ist.
Ich bin positiv gestimmt. Denn es gibt diesmal die Chance, dass alle wichtigen Parteien, insbesondere die MHP und auch die CHP, den Prozess unterstützen. Das ist zentral, weil nur so der Prozess von großen Teilen der Gesellschaft akzeptiert wird. Bei den Versuchen 2013 und 2015 stand die CHP nicht voll umfänglich hinter dem Friedensprozess, die MHP war strikt dagegen, andere Parteien auch. Das ist jetzt anders. Auch deswegen ist die Verantwortung aller politischen Akteure sehr groß, sachlich vorzugehen und die nächsten Schritte gut zu wählen. Nur so wird die Akzeptanz größer und werden die Sorgen kleiner.
Du hast schon zu Beginn gesagt, der Friedensprozess ist für dich ein wichtiger Schritt für die Demokratisierung der Türkei. Inwiefern?
Ich spreche von einem wichtigen Potenzial, denn neben den Chancen und Möglichkeiten gibt es natürlich auch Risiken. In den letzten 40 Jahren war die „Terrorismusbekämpfung“ ein entscheidendes Argument, um die Lage der Menschenrechte und Demokratie in der Türkei nicht zu verbessern, sondern sie sogar zu verschlechtern. Ein nachhaltiger Frieden in einem Konflikt, der seit über 40 Jahren bewaffnet geführt wird und eine Lösung in der Kurdenfrage, die seit über 100 Jahren besteht, wäre eine große Errungenschaft für die gesamte Gesellschaft. So würden auch Türen für eine Demokratisierung hier und einen gesellschaftlichen Frieden in den Nachbarländern und im Nahen Osten geöffnet. Deshalb ist der Prozess international von großer Bedeutung. Eine große Gefahr sehe ich darin, dass Demokratieforderung gegen Friedensbestrebung ausgespielt wird. Alle Kräfte dieser beiden Stränge zusammenzubringen, das ist jetzt unsere Aufgabe. Ein nachhaltiger Frieden kann nicht ohne Demokratie, Rechtstaatlichkeit und rechtliche Garantien funktionieren. Umgekehrt sind Demokratie und Rechtstaatlichkeit ohne Frieden nicht möglich. Die Lage in der Türkei
Es gibt in der Türkei immer noch eine demokratische Tradition und eine vielfältige Gesellschaft.
muss also entspannt werden, um die Willkürherrschaft zurückzudrängen. Deshalb müssen wir die Verhaftungen der Bürgermeister verurteilen und dagegen protestieren – und gleichzeitig die Friedensbestrebungen in der Kurdenfrage ernst nehmen und unterstützen. Nur so lässt sich eine breite gesellschaftliche Akzeptanz erreichen – und damit die Etablierung eines nachhaltigen Friedens unter demokratischen Verhältnissen.
Das Interview führte Anita Starosta.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 02/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!