Angriff auf Dschenin

Israelische Unsicherheitspolitik

Die Militäroperation in Dschenin wird dargestellt, als handle es sich um eine Abweichung vom sonstigen Vorgehen in den besetzten Gebieten. Die jüngste Gewalt markiert jedoch nur die Zuspitzung des Normalzustands.

Von Chris Whitman

Die Bilder aus dem Flüchtlingslager Dschenin sind erschreckend: Hunderte palästinensische Familien werden in den späten Nachtstunden evakuiert, Häuser und Straßen durch Bulldozer und Luftangriffe zerstört, Krankenhäuser und Journalist:innen werden angegriffen und beschossen und Krankenwagen daran gehindert, verletzte Palästinenser:innen zu erreichen. Dies sind nur einige der Bilder, die sich hinter den aktuellen Zahlen von 12 getöteten Palästinensern verbergen. Mehr als 100 sind verletzt, 20 von ihnen in kritischem Zustand. Dass die Hälfte der Bevölkerung von Dschenin unter 18 Jahre alt ist, macht diese Bilder umso erschütternder.

In israelischen und westlichen Medien wird die aktuelle Situation teilweise so dargestellt, als stünde Israel am Rande einer Katastrophe, in der die Sicherheit nur durch eine Militär-Operation dieser aggressiven Art und Weise gewährleistet werden können. Eine Bürde, zu der man sich gezwungen sieht. Sie stellt aber alles andere als eine Abweichung von der israelischen Politik im Westjordanland dar: Ähnliche, wenn auch kleinere Operationen wurden in den letzten zwei Jahren regelmäßig, ja sogar täglich durchgeführt. Übergriffe, bei denen fünf oder mehr Palästinenser getötet werden, werden immer häufiger. Allein im Jahr 2023 wurden 185 Palästinenser getötet, davon 152 im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem. Ein großer Teil von ihnen wurde bei vergleichbaren Operationen getötet, wie sie derzeit im Flüchtlingslager Dschenin durchgeführt wird. Dabei hat sich im Laufe der letzten zwei Jahre die Aggressivität der israelischen Armee immer weiter gesteigert, bis hin zu Luftangriffen mit Drohnen und Kampfhubschraubern.

Schon das vergangene Jahr bietet viele Erkenntnisse über die Tödlichkeit dieser Übergriffe. Mehr als 61 Prozent aller von Israel getöteten Palästinener:innen waren Zivilist:innen, 27 Prozent 17 Jahre alt oder jünger. Auch im Jahr 2022 gab stammten über die Hälfte der getöteten Palästinenser:innen aus Dschenin und Nablus, also dem Norden der West Bank. Obwohl 2022 das bislang tödlichste Jahr für Palästinenser:innen seit der Zweiten Intifada war, wurde dieser zweifelhafte Rekord nur in den ersten sechs Monaten dieses Jahres bereits überholt.

Die aktuelle Mobilisierung von mindestens 2.000 israelischen Soldat:innen in Kombination mit Dutzenden Panzern, Drohnen und Hubschraubern ist die größte Invasion einer palästinensischen Stadt im Westjordanland seit 20 Jahren. Das letzte Mal, dass Dschenin einen solchen Einmarsch erlebte, war im April 2002 während der Operation „Defensive Shield“, bei der mindestens 52 Palästinenser:innen getötet und rund 4.000 durch die Zerstörung des Flüchtlingslagers mit Bulldozern und Luftangriffen obdachlos wurden.

In den frühen Morgenstunden des 3. Juli begann der Angriff auf Dschenin mit dem erklärten Ziel, dem „sicheren Hafen des Terrorismus“ durch Luftangriffe und eine Bodeninvasion ein Ende zu setzen. Im Verlauf der Invasion wurde die Wasser- und Stromversorgung in weiten Teilen des Lagers zerstört, Krankenhäuser wurden zu Zufluchtsorten für Hunderte Familien. Sie und Schutzsuchende auf den Straßen wurden immer wieder mit Tränengas und gelegentlich auch durch Versuche, sie mit Fahrzeugen zu rammen, angegriffen. Den ganzen Tag über wurde das Lager von Raketenangriffen und systematischen Durchsuchungen von Haus zu Haus heimgesucht. Als die Nacht hereinbrach, forderte die israelische Armee Hunderte Familien auf, das Lager zu verlassen, und kündigte an, dass gegen Mitternacht eine weitere Invasion beginnen würde.

Es stellt sich natürlich die Frage, welchen Platz die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in dieser Konstellation einnimmt. In den letzten Jahren hatte die PA aufgrund ihrer diktatorischen Politik und wegen ihrer Vetternwirtschaft in Verbindung mit einem wirtschaftlichen Abschwung in Dschenin rasant an Legitimation verloren und ihre Autorität eingebüßt. Die wenigen PA-Einrichtungen, die es in der Stadt gibt, werden aufgrund ihrer Sicherheitskooperation mit Israel, die immer wieder zur Verhaftung lokaler Anführer bewaffneter Gruppen führt, regelmäßig angegriffen. Es sind zurzeit folglich eher kleine, im Flüchtlingslager ansässige militante Gruppen, wie das Jenin Battalion, die bewaffnete Gegenwehr leisten und von den meisten Einwohner:innen als einzige Verteidigungslinie gegen die ständigen Überfälle und Tötungen der israelischen Armee und als Helden angesehen werden.

Die militärischen Interventionen werden von einer Intensivierung der Siedlungspolitik begleitet. Erst kürzlich hat die israelische Regierung den Teil des einseitigen israelischen Rückzugsgesetzes von 2005 aufgehoben, der zur Räumung von Siedlungen in der Gegend von Dschenin geführt hatte. In der Folge sind bereits Siedler:innen zurückgekehrt, was wiederum die Spannungen vor Ort verschärfen und die Unsicherheit für die lokalen palästinensischen Gemeinschaften erhöhen wird. Wo nämlich Siedler:innen auftauchen, tritt unmittelbar die israelische Armee in Erscheinung, deren Hauptaufgabe darin besteht, jegliche palästinensische Gegenwehr gegen die Landnahme im Keim zu ersticken und den Palästinenser:innen klar zu machen, wo ihr Platz ist. Seit Jahren begleitet sie auch regelmäßig meist junge männliche Siedler auf ihren Streifzügen in palästinensische Dörfer und sichert dort deren Gewalttaten ab. In dieser asymmetrischen Konstellation sitzen die Palästinenser:innen am kürzeren Hebel. Letztlich werden deshalb sie es sein, die den Preis für die Privilegien der Siedler:innen, den Landraub und die tödlichen Übergriffe zur Aufrechterhaltung der israelischen Hegemonie und zur Niederschlagung des bewaffneten oder unbewaffneten palästinensischen Widerstands zahlen werden.

Veröffentlicht am 04. Juli 2023

Chris Whitman

Chris Whitman ist medico-Büroleiter Israel und Palästina.


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