Gaza-Interview

Hilfsorganisation über Nacht

25.09.2025   Lesezeit: 11 min  
#gaza 

Wie ein kleines Museum zum Ausgangspunkt von humanitärer Hilfe für Tausende wurde.

Wir sprachen mit Mohammed Abu Lahia und Najlaa Abu Nahla, den Gründern des Al-Qarara-Museums für Kultur und antike Artefakte im Zentrum von Gaza. Mit der Unterstützung von medico wurde das seit langem zerstörte Museum zu einer Hilfsorganisation, die von Freiwilligen betrieben wird und Suppenküchen, Unterkünfte und Bildungsprogramme für Kriegsflüchtlinge im Gazastreifen organisiert.

medico: Mayasem ist keine Organisation, die erst während des Krieges entstanden ist, sondern existierte bereits zuvor. Was habt ihr gemacht?

Mohammed Abu Lahia: Das Mayasem-Zentrum hat als Initiative unter dem Dach des Al-Qarara-Museums begonnen, das schon länger in dem gleichnamigen Dorf nördlich von Khan Yunis existiert. Es widmete sich dem Schutz von Altertümern und Kultur in Gaza, insbesondere der antiken Geschichte. Wir haben das Mayasem-Zentrum 2021 zunächst dafür ins Leben gerufen, das kulturelle Bewusstsein und historische Wissen über die sogenannten „Bakiyehs” in Gaza zu vermitteln. Ein Bakiyeh ist ein traditionelles Haus, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Lehm und Ziegeln gebaut wurde. Nach der Nakba 1948, als Hunderttausende von Flüchtlingen in den Gazastreifen gedrängt wurden, waren sie eine wichtige Wohnmöglichkeit. Zunächst lebten die Menschen in Zelten, aber mit der Zeit begannen sie aus offensichtlichen Gründen – Privatsphäre, Hygiene usw. – massenhaft Bakiyehs zu bauen. In Gaza waren sie lange Zeit ein Zeichen für die Standhaftigkeit und Ausdauer der Palästinenser:innen.

Als Zentrum haben wir damit begonnen, einige davon zu sanieren. Während der Identifizierung von Bakiyehs und unserer allgemeinen Arbeit konnten wir mehr als 5.500 historische und archäologische Objekte sammeln und archivieren. Viele wurden uns von Menschen in Gaza gespendet, die die palästinensische Geschichte bewahren wollten. In unserem Museum befinden sich kanaanitische, römische, byzantinische, persische, arabisch-muslimische und osmanische sowie britische und ägyptische Artefakte. Damit die Erhaltung des Kulturerbes und die Forschung daran in einem formellen und legalen Rahmen stattfinden kann, haben wir das Mayasem-Zentrum im September 2021 offiziell als eigenständige Initiative gegründet.

Najlaa Abu Nahla: In den folgenden zwei Jahren haben wir im Rahmen dieses Programms eine Reihe weiterer Projekte initiiert, die sich größtenteils mit bildender Kunst beschäftigt haben. Letztlich sind wir alle Künstler:innen oder haben auf die eine oder andere Weise einen starken Hintergrund in diesem Bereich. Daher erschien es uns nur natürlich, die palästinensische Geschichte in Gaza mit der Kunst zu verbinden. Um einige Beispiele zu nennen: Als wir begannen, Bakiyehs zu identifizieren und zu sanieren, fanden wir weitere historische Stätten, zu denen wir begonnen haben, Führungen zu organisieren. Wir sprachen uns mit lokalen Komitees und einigen Schulen ab, brachten Menschen zu den Fundorten und erzählten ihnen die historischen Hintergründe.

Ein weiteres Programm war eine Art Bus für Kunst und Musik. Wir fuhren in ein Viertel oder eine Gemeinde in der Nähe einer der historischen Stätten. Mit Musik und Kunstprojekten für Kinder führten wir sie zu der Sehenswürdigkeit, um ihnen Kultur und Geschichte näherzubringen. Dazu gab es Theateraufführungen, Dabkeh (traditioneller palästinensischer Tanz) und Spiele für die Kinder.

Die Ressourcen für solche Projekte sind in Gaza sehr begrenzt. Wie habt ihr das geschafft?

Mohammed Abu Lahia: Der aktuelle Krieg ist nicht der erste Krieg gegen Gaza. Wir hatten zerstörerische Kriege in den Jahren 2008-09, 2012, 2014 und 2018 während des Großen Marsches der Rückkehr. Und auch zwischen diesen Kriegen gab es regelmäßig Bombardierungen und Angriffe. Natürlich nicht in dem Ausmaß wie der Genozid, den wir heute erleben, aber aufgrund dieser früheren Kriege wollten wir Maßnahmen ergreifen, um Kulturgüter angemessen zu behandeln, zu identifizieren, zu klassifizieren und zu konservieren, aus Angst, dass sie bei unsachgemäßer Handhabung zerstört werden könnten.

Mit der Zeit haben wir versucht, unsere Arbeit im Bereich der Denkmalpflege zu verfeinern und professioneller zu gestalten: wir gründeten ein „Erste-Hilfe”-Labor für Kulturerbe. Wir erhielten Schulungen und lernten viel über Denkmalpflege. 2022 konnten wir sogar ein Labor eröffnen. All dies unter dem Schirm des Al-Qarara-Museums, das als kostenlose, für alle zugängliche Einrichtung, einen Beitrag für die lokale Gemeinschaft von Al-Qarara leistet.

Wie hat sich eure Arbeit nach dem 7. Oktober 2023 verändert?

Najlaa Abu Nahla: Im ersten Monat des Krieges wurden viele Hunderttausende Palästinenser:innen im nördlichen Gazastreifen vertrieben. Sie gingen in die Städte und Dörfer des südlichen Teils. Einige hatten Familie und Unterstützung, die meisten jedoch nicht. Und viele landeten nur mit ihren Kleidern am Leib in Al-Qarara. Wir richteten damals sofort eine Suppenküche und eine Kleidersammlung aus dem Museum heraus ein. Wir sammelten Töpfe, Brennholz, Lebensmittel usw. und begannen, in einer provisorischen Suppenküche Mahlzeiten zuzubereiten. Wir bauten auch Lehmöfen, da die israelische Regierung kein Kochgas oder andere Materialien zuließ, sodass wir erfinderisch sein mussten. Mit diesen Öfen haben wir Brot für die Vertriebenen in unserem Dorf gebacken. Außerdem riefen wir die Menschen in der Gemeinde dazu auf, Kleidung zu spenden, die wir an die Flüchtlinge verteilen konnten. Das hat sich in den ersten Monaten des Krieges fortgesetzt.

Anfang Dezember ereilte Al-Qarara das gleiche Schicksal wie den Norden Gazas, und wir wurden zwangsweise evakuiert. Zunächst gingen wir nach Khan Younis, aber dort war der Platz begrenzt und die Armee griff unerbittlich an. Nach ein oder zwei Wochen zogen wir weiter nach Rafah.

Mohammed Abu Lahia: Als wir in Rafah ankamen, richteten wir als Erstes eine Tekiya (kommunale Suppenküche) ein, die täglich mehrere hundert Menschen versorgte. Dieses Projekt wurde mit Unterstützung von medico ins Leben gerufen. Bald darauf wurde World Central Kitchen auf unser Modell aufmerksam und bot uns an, dabei zu helfen, es auszuweiten. Glücklicherweise konnte medico mehr Ressourcen zur Verfügung stellen, sodass wir Köche einstellen, mehr Töpfe kaufen und mehr Materialien beschaffen konnten usw., bis wir schließlich täglich rund 10.000 Menschen mit Mahlzeiten versorgten. Durch die gesteigerte Produktion und größere Lagerkapazitäten verbesserte sich auch die Qualität der Mahlzeiten, und World Central Kitchen begann, sich stärker zu engagieren und versorgte uns mehrere Monate lang mit Lebensmitteln.

Welche Initiativen konntet ihr außer der Suppenküche noch umsetzen?

Najlaa Abu Nahla: Als die erste Vertreibung aus dem Norden Gazas in den Süden stattfand, bemerkten wir sofort das Trauma, das eine solche Vertreibung bei Menschen jeden Alters auslöste. Bei der älteren Generation weckte die Vertreibung Erinnerungen an die Nakba, und bei der jüngeren Generation erinnerte sie an die Geschichten, die sie von ihren Großeltern gehört hatten. Die Last wurde von allen getragen. Wir begannen, mit Ärzt:innen und anderen ausgebildeten Fachleuten zu diskutieren, wie wir ihnen psychosoziale Unterstützung bieten könnten. Als wir schließlich einige Finanzmittel erhielten, konnten wir eine Vielzahl von Spezialist:innen einstellen, die mit den Menschen arbeiteten. Wir konnten Einzelgespräche, Gruppengespräche und spezielle Dienstleistungen für Kinder anbieten. Zum Beispiel kunsttherapeutische Aktivitäten oder körperliche Erholung unter Berücksichtigung der Umstände oder Gesangs- und Tanzaktivitäten. Es wurden viele verschiedene Dinge umgesetzt, um den Menschen etwas Erleichterung und einen Ort zur Bearbeitung ihrer seelischen Verletzungen zu bieten.

Mohammed Abu Lahia: Eine weitere wichtige Aktivität, die wir Anfang 2024 starteten, war ein Projekt zur Wasserverteilung. Gaza ist stark von Wasserleitungen aus Israel abhängig, und die Israelis hatten zu diesem Zeitpunkt schon seit Monaten die gesamte Wasserversorgung unterbrochen. Aber natürlich brauchen die Menschen Wasser. Jeden Tag suchten Hunderttausende an verschiedenen Orten nach Wasser. Viele von ihnen gruben private oder kleine Gemeinschaftsbrunnen, aber das Wasser ist in den meisten Fällen in irgendeiner Weise verunreinigt. Der Zugang zu frischem Wasser war in der Regel gefährlich, insbesondere in großer Zahl. Also haben wir einen kleinen Lastwagen gemietet und große Wassertanks gekauft. Wir schickten ein kleines Team zu den Frischwasser-Entnahmestellen, wo sie die großen Tanks füllten. Dann fuhren sie zu abgelegenen oder isolierten Gemeinden oder direkt zu Notunterkünften und lieferten Wasser. Wir begannen damit zunächst in Rafah und weiteten das später auf den nördlichen Gazastreifen aus.

Die Armee marschierte im Mai 2024 in Rafah ein. Was habt ihr damals getan?

Najlaa Abu Nahla: Irgendwann wussten wir, dass die Armee kommen würden und mussten eine Entscheidung treffen: entweder zu bleiben und zu versuchen, alles, was wir aufgebaut hatten, zu erhalten, oder wegzugehen und noch einmal von vorne anzufangen. Natürlich entschieden wir uns dafür, zu gehen, und das war die richtige Entscheidung. Die israelische Armee hat über 90 Prozent von Rafah zerstört, viele Tausende Menschen getötet und unterstützen nun kriminelle Banden, die dort plündern und morden. Damals war es eine schwere Entscheidung, all die großartige Arbeit, die wir geleistet hatten, aufzugeben, aber im Nachhinein war es eine der besseren Entscheidungen, die wir in den letzten zwei Jahren gezwungen waren zu treffen.

Ende April 2024 zogen unser gesamtes Team und viele hundert Vertriebene, die wir unterstützten, nach Mawasi Al-Qarara an der Küste. Wir haben uns sofort neu organisiert und begonnen, unsere Aktivitäten fortzusetzen, wie Wasserverteilung, Zeltbau, Sanitärversorgung und natürlich die Suppenküche. Wie ich bereits erwähnt habe, war es zwar eine schwere Entscheidung, Rafah zu verlassen, aber die Rückkehr nach Al-Qarara war kein freudiges Ereignis. Die meisten von uns stammen aus Al-Qarara, und als wir dort ankamen, fanden wir nur Ruinen vor. Die meisten Häuser waren zerstört, und die Felder, für die Al-Qarara bekannt ist, waren planiert und verwüstet.

Die Schule, die wir als Kinder besucht hatten und in der wir so viel Zeit verbracht hatten, war komplett zerstört. Es war sehr schmerzhaft, unsere Erinnerungen zerstört zu sehen, aber wir haben uns davon nicht unterkriegen lassen. Für mich persönlich war es besonders schmerzhaft, die Zerstörung des Museums zu sehen. Ich dachte an die Tausenden Objekte, die ich beschafft und gepflegt hatte, und daran, wie leichtfertig sie zerstört worden waren, und wie symbolisch es in der aktuellen Situation ist, wenn Israel ein palästinensisches Museum in Gaza angreift.

Apropos Schulen: Welche Rolle spielte Bildung für euch?

Mohammed Abu Lahia: Wir hörten ständig von Eltern und Kindern, wie sehr sie die Möglichkeit zum Schulbesuch vermissten und wie dringend das benötigt wurde. Im Mai 2024 starteten wir deshalb eine kleine Bildungsinitiative im westlichen Teil von Al-Qarara, in Qatif. Zu Beginn war das Ganze sehr informell, es handelte sich eher um einen Gemeinschaftsraum. Die Menschen brauchten etwas zu tun und einen Ort, an den sie gehen konnten. Nach ein paar Monaten wurde daraus eine formellere Initiative. Wir mieteten ein Grundstück und entwarfen Pläne für den Bau einer Schule.

Aufgrund der israelischen Blockade waren Materialien leider sehr schwer zu finden und natürlich sehr teuer. Wir legten medico unsere Pläne vor und sind von euch daraufhin unterstützt worden. Wir kauften also Materialien und konnten eine Reihe von Gebäuden für die Schule und eine größere Suppenküche bauen. Schon im Herbst 2024 war die Schule In Betrieb und funktionsfähig, mit fast 3.000 Schüler:innen und 35 festangestellten Lehrer:innen. Mit Unterstützung von UNICEF konnten wir die Bücher und andere Materialien für die Kinder beschaffen. UNICEF hat auch ein Bildungsportal eingerichtet, und die Schüler:innen konnten für ihren Schulbesuch eine ordnungsgemäße Anerkennung erhalten.

Ist die Schule heute noch geöffnet?

Mohammed Abu Lahia: Nein, leider nicht.

Was ist passiert?

Najlaa Abu Nahla: Im Mai 2025 erhielten wir von der israelischen Armee einen sofortigen Zwangsräumungsbefehl für ganz Al-Qarara. Wir hatten nur ein paar Stunden Zeit, um zu gehen. Wir nahmen mit, was wir konnten: Töpfe, Pfannen, Bettzeug, Wassertanks usw., aber natürlich konnten wir nicht alles mitnehmen. Am Ende mussten wir viele Dinge zurücklassen.

Zwei unserer Kollegen wurden bei ihrer Rückkehr, um weiteres Material zu holen, von israelischen Soldaten getötet. Ihre Namen waren Anas und Ayman Abu Lehia, sie waren nur 19 bzw. 20 Jahre alt. Als sie über ihre Handys nicht mehr erreichbar waren, hatten wir zwar bereits vermutetet, dass sie nicht mehr lebten, aber es dauerte viele Wochen, bis wir Gewissheit hatten. Sie wurden in ihren Mayasem-Westen gefunden, ihre Körper lagen m Freien und wiesen Schusswunden auf. Offenbar waren sie von Scharfschützen getötet worden.

Am Tag nach ihrer Ermordung bombardierte die israelische Armee unsere Schule, die Suppenküche und den verbliebenen Teil des Museums.

Was macht ihr jetzt?

Mohammed Abu Lahia: Seit der Zwangsevakuierung sind wir in der Gegend von Qatif, zwischen Mawasi und Al-Qarara, wo sich viele tausend vertriebene Familien aus dem Norden Gazas niedergelassen haben.

Wir haben eine neue Zeltstadt namens Shaqa’eq al-Nu’man errichtet, deren Schwerpunkt auf Bildungsräumen und Bildungsmöglichkeiten für Kinder liegt. Die Schule, die wir in Al-Qarara gebaut hatten, war für uns etwas ganz Besonderes, und wir haben gesehen, was Bildung für die Kinder und Eltern bedeutet: einen Raum der Halbnormalität zu haben, trotz der Hungersnot, der Vertreibung, der Massenmorde usw. Die Schule gab ihnen eine Art Sinn, und wir haben verstanden, dass wir das irgendwie wiederherstellen müssen. Wir haben auch psychosoziale und Kunsttherapie integriert. Zusätzlich haben wir das Wasserverteilungsprojekt wieder aufgenommen und Dutzende von Toiletten in den Unterkünften gebaut.

Das ist der Stand der Dinge. Jetzt hoffen wir, diesen Krieg zu überleben.

Das Interview führte Riad Othman.

Noch unter den schlimmsten Bedingungen leisten medico-Partner:innen in Gaza Hilfe für andere. Unterstützen Sie diese Arbeit mit einer Spende.


Jetzt spenden!