Leitartikel

Im Nebel der Moral

Wie man sich hierzulande an den Krieg gewöhnt. Der Leitartikel des medico-Rundschreibens 01/2024.

Von Katja Maurer

In den sozialen Medien geht derzeit eine automatisch scrollende Liste mit Namen und Geburtsdaten vor schwarzem Hintergrund viral: In einer Endlosschleife wandern Namen von Kindern, die bei den israelischen Angriffen in Gaza ums Leben kamen, über den Bildschirm. Man wird aufgefordert, wenigstens so lange hinzuschauen, bis man ein Kind findet, das das zweite Lebensjahr erreicht hat. Tatsächlich flimmern vor den Augen zu lange Namen, die nicht einmal das erste erreichten. Es ereilt einen einer dieser flachen Schrecken, wie ihn die Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie wecken können. Fast die Hälfte der Toten in Gaza sind Kinder.

Nicht gezählt, oder besser: nicht veröffentlicht wird die Anzahl der toten Soldat:innen in dem nun ins dritte Jahr gehenden Krieg in der Ukraine. Hunderttausende sollen es sein. Sie sterben noch anonymer als die Kinder in Gaza, deren Namen man wenigstens im Internet finden kann. Noch glaubt die ukrainische Gesellschaft an einen Sieg über Russland und will die Zahlen ihrer Toten nicht wissen. Aber immer mehr Männer verstecken sich vor der Einberufung. Ein neues Gesetz zur Wehrdiensterfassung soll derweil für eine „transparente“ Mobilmachung sorgen, denn der Armee gehen die Soldat:innen aus. Die Einberufung kommt nun aufs Mobiltelefon. Es soll kein Entrinnen vor der Vaterlandspflicht mehr geben.

Krieg und Konsumfrieden

Kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs veröffentlichte der spanische Philosoph Raúl Sánchez Cedillo mit Unterstützung medicos ein Buch über dessen Hintergründe und Folgen: „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“: Nicht nur mit dem Titel behielt er Recht. Er vertrat auch die These, dass die westlichen Gesellschaften einem Kriegsregime anheimfielen, das sich tief in Wirtschaft, Politik und Kultur einschreiben werde. Vor zwei Jahren hätte man das noch als zu düstere Prognose abweisen können. Heute ist die veröffentlichte Meinung geprägt von Bekenntniszwang und Gut-Böse-Weltbildern. Das Kriegsregime setzt auch die ökonomischen Prioritäten neu. Statt Klimaschutz gibt es jetzt Aufrüstung. Der militärisch-industrielle-Komplex feiert eine rasante Wiederauferstehung. Dass eine Kriegsökonomie zeitweilig gut funktionieren kann, zeigt das Putin-Regime: Während russische Soldaten aus der Provinz genauso verheizt werden wie ihre ukrainischen Gegenüber, führt man in Moskau ein normales Konsumleben. Starbucks heißt jetzt Tasty und Ikea Good Luck. Der unbeschränkte Zugang zu Waren ist das, was für die Mehrheit zählt. Die Parallelität von Krieg und Konsumfrieden ist ein Kennzeichen unserer Zeit.

So kann man vor sich selbst verbergen, dass die Kriege heute nicht von ihrem möglichen Ende künden, also irgendwie ein unmoralisches Mittel politischer Fernziele sind, sondern von der Wiederkehr längst nicht mehr für möglich gehaltener kriegerischer Formen der Konfliktaustragung: in der Ukraine ein sinnloses soldatisches Massensterben um kaum messbare Geländegewinne wie einst bei Schlachten des Ersten Weltkriegs, im Gazastreifen ein von Israel mit künstlicher Intelligenz geführter Krieg, den ein israelischer Geheimdienstoffizier in der Zeitung Haaretz als „Massenmordfabrik“ bezeichnete. Nun werden viele einwenden, es gäbe Gründe für diese Kriege: der russische Angriff, das Hamas-Massaker. Das ist richtig. Aber wenn man diese Kontextualisierung verlangt, dann ist auch an anderer Stelle die Frage nach Ursachen und Zusammenhängen zu stellen. Doch anstatt sich um ein Verstehen zu bemühen, zieht man sich auf eine Ontologie des radikal Bösen zurück. Die scheinbare Zwangsläufigkeit des Krieges, die jegliches Nachdenken zum Verrat erklärt, reproduziert zugleich ein westliches Überlegenheitsgefühl im Zeichen des eigenen Hegemonieverlusts. So wird vom Westen kein Frieden ausgehen. Krieg begleitet seinen sinkenden Stern.

Deutschland, eine Provinzposse

Deutschland gibt dabei eine besondere Art der Provinzposse. Denn die kriegerische Zeitenwende ist mit dem Selbstverständnis eines wieder gut gewordenen Deutschlands schwer vereinbar. Im Nebel der Moral wehen die israelischen und ukrainischen Flaggen vor unseren Rathäusern und behaupten: Wir sind die Guten. Politiker:innen ziehen durch Schulen, um im Namen der Aufklärung Konformität zu erzwingen. Der Konsens von oben, dass das Abschlachten von fast 30.000 Palästinenser:innen ein „Verteidigungskrieg“ ist, eine Sprachregelung, die an das russische Wording von der „Spezialoperation“ erinnert, wird durchgesetzt, auch wenn Deutschland dadurch noch provinzieller wird. Man denke nur an die jüngste Absage von der US-amerikanischen Künstlerin Laurie Anderson, die sich einer deutschen Gewissensprüfung nicht unterziehen wollte. Vergessen sind Alexander und Margarete Mitscherlich, die schon in der „Unfähigkeit zu Trauern“ 1967 warnten, dass der Philosemitismus der deutschen Eliten nur eine verdeckte Form des Antisemitismus ist. Antisemit:innen sind heute die anderen: kritische Juden und Jüdinnen, Palästinenser:innen qua Existenz, all die Migrant:innen, die sich schweigend mit den Menschen in Gaza solidarisieren, auch weil sie sich selbst gemeint fühlen. Vergessen ist auch Thomas Mann. Er sagte 1945 in seiner Rede „Deutschland und die Deutschen“, die man heute wieder lesen muss, dass „das böse Deutschland auch das fehlgegangene gute“ sei. Aus diesem Grund könne man das „schuldbeladene Deutschland nicht ganz verleugnen und erklären: ‚Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleide, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.‘“ Thomas Mann hielt die Rede, als er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm. Nach Deutschland ist er nur als Besucher zurückgekehrt. Mit der Entkoppelung von Auschwitz aus der deutschen Geschichte zu einem zwölfjährigen Sünden- und Ausnahmenfall hat man dieses „böse Kleid“ nun endgültig entsorgt.

Der antisemitische Sündenfall heißt stattdessen und neuerdings Postkolonialismus. Mit seiner Delegitimierung wird nicht nur Israel in seiner widersprüchlichen Existenz verteidigt, wo das Ansinnen der Befreiung und das Begehren nach einer sicheren Zuflucht dem auch kolonialen Ursprung und der daraus folgenden immerwährenden Angst des Kolonisten vor den Kolonisierten diametral gegenüberstehen. Der Westen verteidigt sich und seine koloniale Überformung und Ausbeutung der Welt damit vor allen Dingen selbst. Denn die Versprechen der Globalisierung von wachsendem Wohlstand für alle haben sich entleert. Geblieben ist der ungeheure Hunger nach Ressourcen, um den eigenen Wohlstand gegen alle anderen zu verteidigen. Afrika wird neu aufgeteilt in einem Run auf Wasserstoffgewinnung und Sonnenergie. Die dekoloniale Sprechweise der deutschen Außenpolitik kann diesen Hunger nur schwer verbrämen. Seit Gaza ist sie nicht einmal mehr Stückwerk. Hannah Arendt würde heute den Hannah-Arendt-Preis nicht erhalten, sagte die US-amerikanische Publizistin Masha Gessen kürzlich. Denn für Arendt war die Verbindung der kolonialen Verbrechen zu Auschwitz offenkundig. In „Elemente und Ursprünge des Totalitarismus“ zieht sie eine direkte Linie von den Kolonialverbrechen, ihrem Rassismus und ihren imperialistischen Wurzeln zum NS-Kolonialismus und der Judenvernichtung.

Lücken im System

Wer Hoffnung sucht, wird sie kaum im Globalen Süden finden, der das Begehren nach einer neuen Weltgestaltung, wie sie die Blockfreien in Bandung 1957/58 forderten, unter dem Zwang der Verhältnisse längst aufgegeben hat. Und doch sind die Lücken, die sich in den Auseinandersetzungen um die multipolare Weltordnung auftun, die Orte, an denen etwas entstehen kann, was die Allmacht des Kriegsregimes einschränken könnte. Die UNO, die sich in den letzten Jahrzehnten von den sozialdemokratisch geprägten Reformversuchen Kofi Annans weitestgehend verabschiedet hat und zu einem Stabilisator des Status quo geworden ist, dient als letzter verbliebener ziviler Austragungsort für die Weltkonflikte. Hier erweisen sich die Antisemitismusvorwürfe von Israel und dem Westen mehr als Verbalinjurien denn als ernsthaft vorgetragene Argumente. Sie reichen nur hin, um die Bekämpfung des Antisemitismus um seinen eigentlichen Gehalt weiter zu entleeren.

Bei der südafrikanischen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, die einen möglichen Genozid in Gaza verhindern sollte, trat in Erscheinung, was noch von sich hören lassen wird. Dass nämlich die Anrufung des Menschen- und des Völkerrechts, wie es sich nach den nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschheit geformt hat, nur noch von denen ernsthaft vertreten wird, die sie nicht zu ihrer eigenen Legitimation der Macht missbrauchen. Die südafrikanischen Jurist:innen haben sie nicht als staatliche Vertreter:innen, sondern mit ihren Biografien in der Auseinandersetzung mit der Apartheid und den Postapartheid-Konflikten repräsentiert. Dem Ende der westlichen Hegemonie muss nicht das Kriegsregime folgen. Es kann auch in der Besinnung auf das universelle Menschenrecht bestehen, und hier zuallererst in dem Recht auf Rechte, das allen Bewohner:innen dieses Planeten zusteht. Gaza ist ein Menetekel und wirft die Frage auf, ob wir Privilegierten zu einer allumfassenden Humanität überhaupt noch in der Lage sind. Die südafrikanischen Jurist:innen haben mit ihrem Beharren darauf, dass den Palästinenser:innen das Recht auf Rechte zusteht und der Krieg gegen sie sofort enden muss, einen Horizont eröffnet. Es ist nicht nur der einzig verbliebene Horizont, sondern auch die Möglichkeit der Wahrheit, die Möglichkeit eines neuen Anfangs.

Katja Maurer ist jede Kriegsbegeisterung suspekt. Sie weiß, wovon sie spricht: Für medico bereiste sie nicht nur mehrfach Israel, Gaza und die Westbank, sondern im Jahr 2022, einige Monate nach Ausbruch des Krieges, auch die Ukraine.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreibens 1/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 15. Februar 2024
Katja Maurer

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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