Gaza-Krieg

Hilfe verteidigen

Lokale und internationale Helfer:innen sind in Gaza unter Beschuss. Doch eine Zukunft wird es nur mit ihnen geben.

Von Radwa Khaled-Ibrahim

Ein verregneter Nachmittag. Beim Scrollen auf Social Media stoße ich auf ein Video: Eine Gruppe weißer Hilfsarbeiter:innen lächelt in die Handy-Kamera im Selfie-Modus. Sie stehen vor einer Kochstation in Gaza und sprechen darüber, dass sie gleich Essen verteilen werden. Das Video stammt von einem arabischsprachigen Account, darunter steht: „Ein paar Stunden bevor diese armen Menschen getötet worden sind.“ Es folgt eine weitere Videoaufnahme: Die sieben Mitarbeiter:innen liegen in Leichensäcken auf dem Boden, eine Hand in Gummi-Handschuhen hält drei ihrer Pässe in die Kamera: britisch, polnisch, australisch. Schnitt. Eine weitere Aufnahme: Die Pässe liegen auf den toten Körpern, die Kamera zoomt auf die Pässe. Meine Augen füllen sich mit Tränen, einmal mehr während dieses Krieges.

Natürlich erfüllt mich Trauer über den Tod der sieben Helfer:innen. Aber auch Trauer über die stumme Frage, die die Hand zu stellen scheint, die die Pässe ins Bild hält: „Wo sind wir angekommen, wenn sogar Menschen, die nicht als ‚menschliche Tiere‘ bezeichnet wurden, Menschen, deren Menschlichkeit im Gegensatz zu uns nie in Frage gestellt wurde und die als humanitäre Helfer:innen diese Menschlichkeit sogar verkörperten, nun vor uns in Säcken liegen? Was bedeutet es, wenn Menschen, die unter internationalem Schutz standen und sogar mit Billigung der israelischen Armee vor Ort waren, von eben dieser Armee beschossen und tot aus ihren Autos gezogen werden? Wenn es schon diejenigen trifft, die eigentlich geschützt waren, wie ist dann die Situation der Zivilist:innen, die nicht geschützt werden?“ Ich frage mich: Gibt es die Kategorie „Zivilist:in“ in diesem Krieg noch? Es sind Fragen, die sich an die israelische Regierung stellen, und gleichzeitig an uns, die wir Zeug:innen dieses Krieges sind.

Wessen Leben zählen?

Die sieben getöteten Mitarbeiter:innen von World Central Kitchen (WCK) sind nicht die ersten Helfer:innen, die getötet wurden. Lange vor dem Angriff auf die Autos der Organisation hatten Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten in weiten Teilen Gazas eingestellt, weil sie die Sicherheit ihrer Mitarbeitenden nicht garantieren konnten. Laut der von den USA finanzierten Datenbank für die Sicherheit von Entwicklungshelfer:innen wurden seit Oktober 2023 mehr als 196 von ihnen im Gazastreifen getötet, unter ihnen 176 UN-Mitarbeiter:innen, mehr als je zuvor in der Geschichte der Vereinten Nationen.

Aus der Datenbank wird allerdings auch ersichtlich: Die bisher Getöteten sind vor allem palästinensische Mitarbeiter:innen. Kaum eine:r von ihnen hatte einen ausländischen Pass, den man in die Kamera hätte halten können. Sie bleiben namenlos, ihre Gesichter in den Leichensäcken. Uns erreichen sie nur als Zahl und auch das nur, wenn ihre Anzahl die Vorstellungskraft zu sprengen beginnt.

Zurecht empören sich weltweit Menschen über die Tötung der WCK-Mitarbeiter:innen. Doch für lokale Helfer:innen blieb sie bisher meist aus. Sie werden nie den gleichen Status erlangen wie entsandte ausländische Kolleg:innen – nicht nur in Gaza. Hier wird ihnen zudem noch unterstellt, sie seien Terrorist:innen. Auch wenn die UNRWA jedes Jahr der israelischen Regierung eine Namensliste der Mitarbeiter:innen vorlegt. Man kann das Humanitäre nicht verkörpern, wenn man nicht als vollwertiger Mensch wahrgenommen und behandelt wird. Rassismus ist nicht nur Teil der globalen Weltordnung, sondern weiterhin auch Teil der Struktur einer internationalen Hilfe, die ihre koloniale (Entstehungs-)Geschichte nie wirklich aufgearbeitet hat.

Ja zur Kontrolle, nein zur Verantwortung

Die mit Logo ausgewiesenen Autos von World Central Kitchen bewegten sich in einer sogenannten „deconflicted zone“, das heißt in einer Zone, die qua Vereinbarung zwischen den Kriegsparteien frei von direkten militärischen Aktionen ist. Der von der israelischen Armee begangene „Fehler“, die Autos dennoch zu beschießen, reiht sich dabei in den bisherigen Umgang mit Hilfe ein.

Zivile Strukturen, die humanitäre Hilfe in Gaza leisten, werden angegriffen, die UNRWA delegitimiert und ihre finanziellen Mittel gestrichen, lokale und internationale Helfer:innen getötet, die Institutionen und Strukturen der lokalen Zivilgesellschaft zerstört. Durch den willkürlichen Ausschluss von erlaubten Gütern, durch langwierige Kontrollen und erschwerten Zugang werden zudem die Handlungsmöglichkeiten ziviler Organisationen zugunsten der militarisierten Hilfe verdrängt. Militarisierte Hilfe heißt dabei nicht per se mehr Effizienz, wie man vielleicht denken könnte. Dass nach dem Tod der sieben WCK-Mitarbeiter:innen plötzlich die Grenzpassage von 322 Hilfskonvois zugesagt und problemlos durchgeführt wurde, zeigt drastisch, dass dies zuvor nicht an fehlenden Kapazitäten oder logistischen Unzulänglichkeiten scheiterte, sondern durch politischen (Un-)Willen verhindert wurde.

Militarisierung der Hilfe in Gaza bedeutet, dass sie stark vom israelischen Militär kontrolliert und reguliert wird – also von einer Kriegspartei, die politische, militärische und damit anti-humanitäre Interessen verfolgt. Militarisierung in diesem Zusammenhang heißt, Kontrolle darüber auszuüben, wem welche Hilfe an welchen Orten zugänglich gemacht wird, und wem und wo nicht. Auf diese Weise kann Hilfe politisch und militärstrategisch instrumentalisiert werden, ohne dass Verantwortung für die Umsetzung entsprechend humanitärer Standards übernommen würde. Die geringe Hilfe und damit der Hunger und die katastrophale Situation im Norden Gazas beispielsweise verunmöglichen ein Leben dort. Eine Rückkehr der Vertriebenen wird damit auch ohne weitere Bomben de facto verhindert und die Gegend militärisch leichter kontrollierbar.

Ein anderes Beispiel sind die 40.000 12-Personen Zelte, deren Aufbau durch das israelische Verteidigungsministerium Anfang April bei Rafah begonnen wurde. Auch wenn zehntausende Zelte mehr immer noch eine gänzlich unzureichende Situation hinterlassen, kann so die Übernahme der eigenen und international eingeforderten Verantwortung demonstriert werden, ohne von einer Bodenoffensive Abstand zu nehmen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die humanitäre Krise dramatisch verschärfen wird.

Die Verunmöglichung von Gegenwart und Zukunft

Der Historiker Howard Zinn schrieb: „In dunklen Zeiten hoffnungsvoll zu sein, ist nicht nur töricht romantisch. Es beruht auf der Tatsache, dass die menschliche Geschichte nicht nur eine Geschichte der Grausamkeit ist, sondern auch des Mitgefühls, der Aufopferung, des Mutes und der Güte. (…) Und wenn wir handeln, und sei es auch nur im Kleinen, müssen wir nicht auf eine große utopische Zukunft warten. Die Zukunft ist eine unendliche Folge von Gegenwarten.“

Trotz berechtigter und nötiger Kritik an Hilfe besteht aktuell die vordergründige Aufgabe und Herausforderung darin, sie gegen Angriffe und Zugriffe zu verteidigen. Denn wie soll eine menschenwürdige Zukunft in Gaza ohne sie aussehen? Verkörpert Hilfe doch, wenn auch nur teilweise und nicht immer, die Möglichkeit, der Grausamkeit etwas entgegen zu setzen. Die, wenn oft auch nur notdürftig aufrechterhaltene Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Grundversorgung ist nicht nur eine Frage des Überlebens, sondern steht auch für die Verteidigung gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Möglichkeit einer anderen Zukunft. An dieser halten die zivilgesellschaftlichen Strukturen in Gaza, unter ihnen die medico-Partner:innen, weiterhin fest. Trotz allem.

    Mehr über die Hilfe unserer Partnerorganisationen in Gaza und Möglichkeiten zu ihrer Unterstützung finden Sie hier:

    Veröffentlicht am 16. April 2024

    Radwa Khaled-Ibrahim

    Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico. Außerdem ist die feministische Politikwissenschaftlerin in der Spender:innenkommunikation tätig.


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