Israel

Restvernunft

30.06.25   Lesezeit: 10 min

Gespräche mit Menschen, die gegen den Krieg aufstehen.

Von Moritz Krawinkel und Riad Othman

Die Ankunft in Tel Aviv fühlt sich unwirklich an. Noch gestern haben wir in Tulkarem im nördlichen Westjordanland mit Aktivisten unserer Partnerorganisation Jadayel über die Verwüstung der beiden Flüchtlingslager in der Stadt und die Massenvertreibung ihrer Bewohner:innen gesprochen. Auch Gaza und damit der Krieg und das Leiden sind von hier aus nur etwas über eine Stunde entfernt. Und doch meint man, auf einem anderen Kontinent zu sein. In Tel Aviv verläuft das Leben, oberflächlich betrachtet, in den gewohnten Bahnen. Menschen gehen ihrem Alltag nach, kaufen ein, gehen zur Arbeit, joggen, sitzen in Cafés. Das Land befindet sich im Krieg. Wie macht sich das bemerkbar?

Wir sind verabredet in einem griechischen Restaurant über dem alten Hafen von Jaffa, ehemals eine der wichtigsten palästinensischen Städte, heute der arabisch geprägte Stadtteil von Tel Aviv. Auf dem Platz davor wehen Dutzende israelische Fähnchen. Lee Caspi, Sima Wattad und Adar Primor von unserer langjährigen Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel (PHRI) warten bereits auf uns. Von den 39 Mitarbeiter:innen der medizinischen Hilfsorganisation, aber auch im ehrenamtlichen Vorstand sind jeweils die Hälfte Palästinenser:innen sowie Jüdinnen und Juden aus Israel. Zuletzt hat PHRI versucht, Rechtsbeistand für Ärzte aus Gaza zu leisten, die illegal nach Israel verschleppt und auf israelischen Militärbasen und in Gefängnissen routinemäßig gefoltert wurden. Darüber hat die Organisation auch umfassende Berichte vorgelegt. Lee kommt schnell zur Sache. 

„Die Militarisierung der israelischen Gesellschaft ist immer weiter vorangeschritten, selbst hier in Tel Aviv/Jaffa. Durch den Schock des 7. Oktober und die Trauer allein sei das nicht zu erklären. Ihre Kollegin Sima ergänzt: „Der Genozid hat nur deutlicher gemacht, wie rassistisch und dehumanisierend die israelische Gesellschaft ist.“ Neu sei allerdings, wie tief sich das Misstrauen überall eingenistet habe. „Du weißt nie, was die Menschen, mit denen du sprichst, über dich denken. Immer musst du aufpassen, was du sagst.“ Über das, was in Gaza wirklich vor sich geht, sprächen nur wenige, die Propaganda wirke: „Kaum jemand schaut hinter die Kulissen der offiziellen Regierungsverlautbarungen.“ Palästinensisches Leid habe darin keinen Platz, müsse ferngehalten oder infrage gestellt werden. Tauchen zum Beispiel Bilder oder Videos aus Gaza auf, werden sie in der israelischen Öffentlichkeit als propagandistische Inszenierung abgetan – als „Pallywood“, eine Wortschöpfung aus palästinensisch und Hollywood.

Bleiben oder gehen?

Seit eineinhalb Jahren dauert der Krieg nun an und ein Ende ist nicht in Sicht. Wo aber ist die Linke, wo die einstige Friedensbewegung? Lee zufolge werde der Krieg gegen Gaza auch in Israel inzwischen öfter als Genozid bezeichnet – aber eben nur in kleinen Kreisen und oft hinter vorgehaltener Hand. „Wir haben uns an das Silencing gewöhnt – daran, Angst zu haben, die eigene Meinung zu sagen.“ Doch langsam täten sich auch Risse auf in der israelischen Gesellschaft, die Scham wachse. Selbst der frühere israelische Premierminister Ehud Olmert hat geäußert, dass sein Land in Gaza Kriegsverbrechen begeht. Jede:r zweite Reservist:in weigert sich inzwischen, der Einberufung nachzukommen, erzählt Adar. Das habe zwar verschiedene Gründe, viele seien schlicht erschöpft. Andere aber sähen keinen Sinn mehr darin, das Töten fortzusetzen, ohne dass die Geiseln dadurch befreit werden.

Eben das wird auch auf regelmäßig stattfindenden Demonstrationen kritisiert, in Tel Aviv, Jerusalem, in der Nähe des Gazastreifens und andernorts. Es gibt sie, nicht mehr so groß wie in früheren Phasen des Krieges, aber inzwischen finden sich immer mal wieder mehrere Tausend Menschen in Tel Aviv zusammen. Allerdings protestiert dabei nur ein Teil gegen den Krieg als solchen. Viele fordern eher eine effizientere Art der Kriegsführung. Adar beschreibt es so: „Es gibt zwar viel Kritik an der Regierung, aber nur wenige kritisieren sie für ihren Umgang mit den Palästinenser:innen.“ In Umfragen spricht sich eine sehr große Mehrheit der jüdischen Israelis für die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen aus, genauer: vier von fünf. Adar, Lee und Sima sind Teil der kleinen Minderheit, die immer mehr an ihrem Land verzweifelt.

Der Umgang mit der Verzweiflung kann verschiedene Formen annehmen. Yakov Garb, Professor an der Ben-Gurion University des Negev, erzählt uns bei einem späteren Treffen, dass er seine kartographischen Kenntnisse dafür nutzt, um Satellitenbilder des Gazastreifens mit den Verlautbarungen des Militärs zu vergleichen. Es ist der Versuch, Aufschluss über die nicht öffentlich kommunizierten Kriegsziele zu gewinnen; etwas zu tun; oder auch etwas zu verstehen, was er nicht verstehen kann. „Ich habe eigentlich nie daran gedacht, einmal aus Israel wegzugehen“, vertraut er uns an. „Aber mein Judentum wurde gehijacked. Vielleicht müssen wir hier weg, damit meine Kinder das Judentum kennenlernen können, das ich ihnen vermitteln möchte.“ Das sehen andere ganz anders. So werden wir im Laufe der Reise noch mit Yehuda Shaul sprechen, Aktivist und Gründer der Reservistenorganisation Breaking the Silence. Über den Gedanken, das Land zu verlassen, schüttelt er fast erbost den Kopf. „Unser Platz ist hier, wir müssen hier für eine andere Gesellschaft streiten.“ Über die Aussichten dieses Kampfes sagt diese Beharrlichkeit indes wenig.

Gegen das Vergessen

Auf der Fahrt von Tel Aviv nach Haifa legen wir einen Zwischenstopp an einem Strand unweit des ehemaligen palästinensischen Fischerdorfs Tantura ein. Im Mai 1948 verübte die Haganah, Vorläufer der Israelischen Armee, hier ein Massaker an entwaffneten Gefangenen und Dorfbewohner:innen – eines von vielen, die zur Vertreibung und Flucht von bis zu 80 Prozent der palästinensischen Bevölkerung beitrugen. Seit 2011 droht ein Gesetz in Israel Institutionen mit der (vollständigen) Kürzung öffentlicher Gelder, wenn sie den Jahrestag der Staatsgründung wegen der damit verbundenen ethnischen Säuberung als Trauertag begehen – oder wenn sie sich für einen Staat mit gleichen Rechten für alle Menschen im gesamten Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordanfluss aussprechen. Die jüdische Vorherrschaft, die seit 2018 auch explizit in der Verfassung festgeschrieben ist, soll nicht in Zweifel gezogen werden.

Gegen das Vergessen und die Versuche zur Auslöschung der palästinensischen Identität im israelischen Diskurs engagiert sich seit Jahren Nida‘a Nasser. In Haifa leitet sie die palästinensische medico-Partnerorganisation Baladna, die kurz nach Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2001 gegründet wurde. Diese versucht, der jungen Generation gegen die staatlich propagierte Geschichtsschreibung ein Verständnis der eigenen palästinensischen Geschichte zu vermitteln. „Der israelische Staat will uns davon überzeugen, dass die Zionisten kamen und uns zivilisierten, dass sie das Land modernisiert und uns die Demokratie gebracht haben“, sagt sie. Indem Baladna Begegnungen, gemeinsame Ausflüge und Jugendaustausch organisiert, soll palästinensische Gesellschaftlichkeit möglich werden. Denn: „Unsere Lebensrealitäten sind fragmentiert, geographisch und politisch.“ So haben palästinensische Schüler:innen in Israel keinen Kontakt mit Altersgenoss:innen im Westjordanland. Und während Palästinenser:innen in Israel Bürger:innen zweiter Klasse sind, genießen sie – ausgestattet mit dem israelischen Pass – gegenüber ihren Landsleuten im Westjordanland große Freiheiten und sind oft auch ökonomisch besser gestellt. Umgekehrt werden sie von diesen bisweilen gar als Kollaborateure des Unterdrückungssystems angesehen. Die Spaltung wirke, betont Nida’a. Sie be- und entfremdet und sorgt auch für innerpalästinensische Konflikte. „Wir sitzen zwischen allen Stühlen.“

In einem schönen historischen Gebäude unweit des Hafens besuchen wir den Anwalt Hassan Jabarin, Gründer der Organisation Adalah, und seine jüngere Kollegin Lubna Touma. Regale voller Gesetzessammlungen, Gerichtsurteile und juristischer Fachzeitschriften bedecken die Wände der Büroräume. Seit bald 30 Jahren setzt sich Adalah für die Rechte der arabischen Minderheit in Israel ein, befasst sich aber auch mit dem andauernden Unrecht der illegalen Besatzung des Westjordanlands. Während einer Pause erzählt Lubna Touma von den zahlreichen Verfahren, die sie seit dem 7. Oktober in Israel begleitet hat. Proteste von palästinensischen Bürger:innen Israels würden aktuell in einem Maße verfolgt, wie es das während keinem früheren Krieg und auch nicht während der Intifada gegeben habe. 

Allein wegen Posts in den sozialen Medien seien 160 Personen angeklagt worden, der Vorwurf sei immer der gleiche: Aufhetzung zu Terror oder Befürwortung von Terrorismus – selbst wenn es sich nur um Sympathiebekundungen mit den Menschen in Gaza gehandelt habe. Sogar Koran-Zitate oder simple Gebete seien als Terrorunterstützung ausgelegt worden. Hierbei greifen auch über 30 Gesetze, die in den letzten zwei Jahren verabschiedet worden sind und sich explizit gegen die palästinensische Bevölkerung des Landes richten. Zum Beispiel können nun legal Angehörige von palästinensischen Attentätern zwangsweise aus Israel nach Gaza verbracht werden. Lubna sagt es so: „Während der Rechtsstaat für palästinensische Bürger:innen Israels bis zum 7. Oktober 2023 mehr oder weniger funktioniert hat, wird unsere Existenz nun sogar verfassungsmäßig infrage gestellt.“

Uni-Campus oder Militärcamp?

Hassan, der an der Universität lehrt, berichtet, wie extrem angespannt die Situation auch dort inzwischen sei. Manche palästinensischen Studierenden seien wegen Äußerungen zum Krieg, die sie außerhalb der Uni getätigt haben, exmatrikuliert oder anderen Disziplinarmaßnahmen unterworfen worden. Viele würden den Campus inzwischen ganz meiden – während einige jüdische Studierende in Uniform und mit Waffe im Hörsaal säßen. „Es fühlt sich an wie ein Militärcamp.“ Er fühle sich wie ein Schwarzer Dozent in den 1950er-Jahren in den USA, der mit seinen weißen Studierenden über die Legitimität der Segregation diskutieren soll, sagt Hassan. „Es seien sogar Steckbriefe palästinensischer Studierender mit Zitaten aus Social-Media-Posts verbreitet worden. So würden sich immer weniger Menschen trauen, ihre Meinung zu sagen. Repression sei nichts Neues, ergänzt Hassan: „Aber so schlimm wie jetzt ist es noch nie gewesen.“ Darüber muss er lachen. Ihm fällt auf, dass sein Vater diesen Satz schon vor Jahrzehnten gesagt habe und auch er habe ihn schon mehrmals in seinem Leben gesagt.

Am Abend sind wir in einem Szenerestaurant verabredet, das ausschließlich vegane und vegetarische Gerichte serviert, dazu Craft Beer und Weine aus Israel. Auf der Terrasse feiert eine fröhliche Gesellschaft. An der Hauswand gegenüber prangt ein großes Graffito, das die Elemente und den Aufbau von Picassos berühmtem Antikriegsgemälde „Guernica“ paraphrasiert: Fratzen, Figuren, der Stier, das Auge. Betitelt ist es mit „7.10.“. Wir treffen den israelischen Historiker Nimrod Ben Zeev. „Für viele hier beginnt und endet die Geschichte am 7. Oktober“, erklärt er. „Als wäre die Zeit stehengeblieben.“ Dieser Bann werde aber immer wieder hergestellt und verfestigt, etwa dadurch, dass eine reißerische Berichterstattung immer neue Details des Hamas-Angriffs veröffentliche und die israelische Gesellschaft das Grauen immer wieder neu durchleben lasse. 

Als Historiker erinnert Nimrod Ben Zeev daran, dass alles Geschichte und Kontext habe. So sei die ausbleibende Empathie gegenüber Palästinenser:innen Folge davon, dass Gaza, nicht zuletzt durch die jahrelange Abriegelung, zu „dem Anderen“ gemacht worden sei, eine Welt fernab, die nur deshalb relevant sei, weil man sich vor ihr schützen müsse. „Vorherrschaft ist eine Droge“, sagt er. Es gebe schlicht kein Interesse, die Vormachtstellung der Jüdinnen und Juden gegenüber Palästinenser:innen aufzugeben. Und eine „Gesellschaft unter Drogen“ halte Zweifel oder Widersprüche nicht aus.

Auf verlorenem Posten und dennoch unabkömmlich: Die medico-Partnerorganisationen in Israel prangern Menschenrechtsverletzungen an, leisten medizinische Hilfe und streiten für Gerechtigkeit.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 02/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist er in der Redaktion tätig und für die Kommunikation zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr
Bluesky: @mrtzkr

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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