Nordostsyrien

Henker ohne Richter

Noch immer sind die Menschenrechtsverletzungen in Syrien nicht juristisch aufgearbeitet, denn der Zugang zu Justizmechanismen auf internationaler Ebene gestaltet sich kompliziert.

Von Andreas Schüller

Gerechtigkeit und rechtliche Verantwortung in Syrien stehen seit mehr als zehn Jahren auf der internationalen Agenda. Vor allem in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern haben groß angelegte Ermittlungen und eine Reihe von Strafverfolgungen stattgefunden. Darunter ragen die Urteile im so genannten al-Khatib-Prozess des Oberlandesgerichts Koblenz gegen zwei ehemalige Offiziere des Assad-Regimes sowie Verurteilungen wegen des Völkermords an den Jesid:innen durch andere Gerichte heraus. Andererseits wurden viele Verbrechen, die vom Assad-Regime, von nichtstaatlichen oder internationalen Akteuren begangen wurden, bisher noch nicht vor Gericht gebracht. Dies betrifft unter anderem den Nordosten Syriens, einschließlich Verbrechen, die von der Türkei und den Mitgliedstaaten der Anti-ISIS-Koalition begangen wurden.

Fehlender Zugang zu internationalen Gerichten

Aufgrund des besonderen Status der Region können Überlebende und zivilgesellschaftliche Gruppen bei der Suche nach rechtlicher Verantwortlichkeit und Strafverfolgung wegen wahlloser Angriffe auf Zivilisten:innen, Tötungen, Folter und Verschwindenlassen nur begrenzte staatliche Unterstützung erwarten. Die kurdische Selbstverwaltung, die seit 2018 unter dem offiziellen Namen "Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien" (AANOS) agiert, sieht sich einer Fülle von Herausforderungen gegenüber. Einerseits ist diese mit anhaltender Instabilität und aufgrund der fehlenden völkerrechtlichen Anerkennung  mit eingeschränktem Zugang zu internationalen Mechanismen konfrontiert. Andererseits können Überlebende von Menschenrechtsverbrechen sich auch nicht darauf verlassen, dass das syrische Regime selbst Fälle vor internationale Gerichte bringt, da mit großer Wahrscheinlichkeit bei jeder Untersuchung kriminellen Verhaltens auch die Verbrechen des syrischen Staates selbst Gegenstand werden würden.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) steht zudem als Rechtsforum nicht zur Verfügung, da Syrien nicht Vertragspartei des Römischen Statuts ist und die Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht anerkennt. Zwar kann der UN-Sicherheitsrat die Situation in Syrien als solche an die Anklagebehörde des IStGH verweisen, doch wäre hier sicher mit einem Veto Russlands zu rechnen. Das Verfahren, das die Ukraine genutzt hat, um den IStGH um Ermittlungen zu bitten, steht der AANOS wiederrum nicht zur Verfügung. Nach diesem Verfahren kann beim IStGH eine Ad-hoc-Erklärung gemäß Artikel 12 Absatz 3 von Staaten eingereicht werden, die nicht Vertragspartei des Statuts sind, die Zuständigkeit des IStGH aber dennoch anerkennen wollen. Dieses Verfahren ist allerdings auf Nationalstaaten beschränkt und kann von der autonomen Region, wie sie die AANOS anstrebt, nicht ausgelöst werden.

Aber selbst wenn die Region innerhalb eines demokratischen Syriens einen verfassungsmäßigen Status als halbautonome Region erhalten sollte, würde dieser Status keine neuen Möglichkeiten in Bezug auf staatlich orientierte Einrichtungen wie den IStGH oder aber auch dem Internationalen Gerichtshof (IGH) schaffen.

Da die AANOS nicht anerkannt ist, ist es für sie ebenso schwierig, Zugang zu Mechanismen im Hinblick auf die Verfolgung ehemaliger ISIS-Mitglieder zu erhalten oder diese zu beantragen. Zehntausende ehemalige ISIS-Mitglieder befinden sich nach wie vor in Haft oder in Lagern innerhalb der selbstverwalteten Region.

Fehlender politischer Wille

Aber auch die Möglichkeit nicht-strafrechtliche Verantwortlichkeiten für Verstöße gegen das Völkerrecht herzustellen, sind für die Region Nordostsyrien eher begrenzt.

Obwohl viele ehemalige ISIS-Kämpfer:innen aus europäischen Ländern in die Region gereist sind, war die AANOS aufgrund ihrer fehlenden Anerkennung als Staat nicht in der Lage, formelle Auslieferungsabkommen einzugehen oder abzuschließen. Die Regierung hat die Einrichtung eines internationalen Kriegsverbrechertribunals innerhalb ihrer Grenzen gefordert, doch nur wenige Länder waren bereit, der kurdischen Selbstverwaltung durch die Unterstützung eines solchen Projekts Legitimität zu verleihen. Forderungen nach einem gemeinsamen Gericht zwischen der Selbstverwaltung und den Anti-IS-Koalitionskräften stießen ebenfalls auf Hindernisse. Stattdessen konnten die Verfahren lediglich vor lokalen Gerichten fortgesetzt werden, die bereits Tausende von ISIS-Verdächtigen vor Gericht gestellt und verurteilt haben.

Während es für die AANOS schwierig ist, sich in Foren zu engagieren, die auf staatliche Parteien beschränkt sind, können Überlebende und zivilgesellschaftliche Gruppen aus allen Regionen Syriens zumindest theoretisch Untersuchungsmechanismen in Anspruch nehmen, die extra eingerichtet wurden, um Beweise für auf syrischem Staatsgebiet begangene Verstöße gegen das Völkerrecht zu sammeln. Dazu gehört der Internationale, unparteiische und unabhängige Mechanismus (IIIM), der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen eingerichtet wurde, um Beweise für die spätere strafrechtliche Verfolgung von Gräueltaten, die seit März 2011 in Syrien begangen wurden, "zu sammeln, zu konsolidieren, zu sichern und zu analysieren". Auch die unabhängige internationale Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien, die im April 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzt wurde, um "alle mutmaßlichen Verstöße gegen die internationalen Menschenrechtsnormen zu untersuchen und die Fakten und Umstände solcher Verstöße und der begangenen Verbrechen zu ermitteln", gehört dazu. Das Beispiel der raschen und weitreichenden Zusammenarbeit zwischen den nationalen Staatsanwaltschaften Europas bei der Untersuchung von Beweisen für zentrale internationale Verbrechen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine in diesem Jahr zeigt, dass es mit politischem Willen möglich ist, neue Mittel der Beweiserhebung zu mobilisieren.

Vereinzelte Verurteilung

Durch den Grundsatz eines universell geltenden Weltrechtsprinzips , der es ermöglicht, Völkerstraftaten weltweit unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters, des Opfers oder des Tatortes zu verfolgen, können allerdings  trotzdem Ermittlungen zu Prozessen für die Feststellung individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit in verschiedenen nationalen Rechtssystemen geführt werden. So verurteilte das Oberlandesgericht Koblenz im Februar 2021 einen ehemaligen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes Eyad A. wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Jahr später seinen Vorgesetzten Anwar R. zu einer lebenslangen Haftstrafe.

Rolle der Türkei

Während Syrien keinem regionalen Menschenrechtsmechanismus beigetreten ist, ist die Türkei ein Vertragsstaat der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unterliegt. Das Land kann daher nicht nur innerhalb seiner Grenzen, sondern auch in den Gebieten, die unter seiner tatsächlichen militärischen und administrativen Kontrolle stehen, für Verstöße gegen die Normen der Konvention verantwortlich gemacht werden.

Das Ausmaß der türkischen Besetzung Nordostsyriens erfüllt wahrscheinlich die Voraussetzungen für die Feststellung der Zuständigkeit für diese Region. Der Gerichtshof hat aber bisher noch nicht über Fälle von Verstößen unter türkischer Kontrolle in Syrien entschieden,  ein Urteil des EGMR könnte allerdings zu einer Entschädigung der syrischen Opfer führen und die internationale Aufmerksamkeit auf die Verantwortung der Türkei für die Handlungen ihrer Truppen und der ihr angeschlossenen Milizen lenken.

Recht und Gerechtigkeit

Was die Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen durch die Selbstverwaltung selbst betrifft, so würde die Stärkung ihres internen Disziplinar- und Strafsystems sicherstellen, dass die AANOS die internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren einhält. Den Überlebenden stünden somit neben internationalen Ermittlungsmechanismen, Strafverfahren in Drittstaaten nach dem universellem Weltrechtsprinzip oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mehr lokale Möglichkeiten zur Verfügung, um juristische Verantwortlichkeit zu fordern.

Gerechtigkeit ist, wie sich zeigt keine leichte Aufgabe und deren Thematisierung und Einforderung voraussetzungsvoll. Letztlich bedarf es des politischen Willens die dafür nötigen Strukturen, Zugänge und Ressourcen zu schaffen und zu ermöglichen.

Andreas Schüller ist Leiter des Programmbereichs Völkerstraftagen und rechtliche Verantwortung des ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights)

Zehn Jahre nach der friedlichen Übernahme Kobanês möchten wir gemeinsam mit Weggefährt:innen zurück-, aber auch nach vorne schauen: Die Konferenz „10 Jahre Rojava. Vom demokratischen Experiment zum Hoffnungsträger einer Region“ wird am 10./11. September 2022 im Frankfurter medico-Haus stattfinden.

Veröffentlicht am 05. September 2022

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