Palästina

Es geht um Anerkennung

Hinter Begriffen wie „Konflikt“ oder „Sicherheitsmaßnahmen“ wird die Wirklichkeit der Palästinenser:innen verborgen. Von Mariam Barghouti

Dieser Text soll nicht noch einmal beschreiben, was in Palästina geschieht und wie Palästinenser:innen der israelischen Siedlungspolitik entgegentreten. Es ist vielmehr der Versuch, ihren Umgang mit ihrer Lebensrealität einzuordnen. Dabei wird auch deutlich, wie sehr sie geografische und kulturelle Grenzen überwinden und transnationale Verbindungen aufbauen. Die Räume, die dabei entstehen, sollen helfen, unterdrückerische Systeme zu durchbrechen und ungleiche Machtverhältnisse auszugleichen. Das mächtigste Werkzeug hierbei ist die Weitergabe unserer Zeugenberichte und Forderungen. Die Beharrlichkeit, mit der wir mit der Welt interagieren, ist Ausdruck unserer tiefen Sehnsucht, frei zu sein. Es ist der Wunsch, die Isolation zu überwinden, die uns von einem Narrativ auferlegt wird, das unsere Erfahrungen verzerrt und Verbrecher davonkommen lässt.

Politik der Verunglimpfung

Im letzten Jahr haben wir eine der härtesten und organisiertesten Angriffe bewaffneter Siedler:innen erlebt, die dabei von offiziellen Militäreinheiten unterstützt wurden. Zudem waren fünf Verwaltungseinheiten in der Westbank und im Gazastreifen, die seit mehr als 15 Jahren unter militärischer Belagerung stehen, mit massiven israelischen Militäraktionen konfrontiert. Diesen Angriffen gehen fast immer eine Reihe kleinerer Angriffe voraus. Siedler:innen zerstören landwirtschaftliche Bäume, zünden Häuser von Familien an oder enteignen Beduinengemeinschaften in schwer zugänglichen Gebieten. Informationen hierüber sind in großer Zahl frei verfügbar. Dennoch sind die Berichte der palästinensischen Seite konstant Zweifeln, Kriminalisierung und Verunglimpfung ausgesetzt, von der fehlenden Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit ganz zu schweigen. Israelische Institutionen und Behörden schützen die Siedler:innen und gewährleisten auf Basis ethnisch-religiöser Zugehörigkeit Immunität. Die Aufrechterhaltung der Besatzung ist der Kern der gesamten israelischen Siedlungspolitik. Sie zielt auf den Austausch einer Bevölkerung durch eine andere. Palästinenser:innen sind lediglich ein Hindernis bei der Verwirklichung eines größeren israelischen Staats in der Levante.

Das zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit der Ermordung der bekanntesten palästinensischen Journalistin, Shireen Abu Aqleh. Erschossen wurde sie während einer Razzia im Flüchtlingslager Jenin, wo militante Palästinenser bewaffneten Widerstand leisteten. Auffällig an dem Verbrechen ist nicht nur, dass Scharfschützen des Militärs sie ins Visier nahmen, obwohl sie gut sichtbar eine Pressejacke trug. Es ist die Art und Weise, in der israelische Medien und auch öffentliche Stellen immer wieder Zweifel zu säen versuchten, ob Shireen Abu Aqleh denn wirklich von der israelischen Armee getötet worden ist. Trotz vieler Aussagen, Augenzeugenberichten und Kameraaufnahmen, die das Gegenteil belegen, weisen die israelischen Behörden jede Anschuldigung zurück. Mehr noch: Sie behindern eine echte Untersuchung, die Angehörige des Militärs zur Rechenschaft ziehen könnte.

Demgegenüber bemühen sich Palästinenser:innen, das Bild und den Namen Shireens in den sozialen Medien lebendig zu halten – in der Hoffnung auf internationale Solidarität und Anerkennung des Verbrechens über politische Grenzen hinweg. Dabei sehen sie sich allerdings mit neuen Versuchen konfrontiert, sie zum Schweigen zu bringen. So haben große Tech-Unternehmen Algorithmen entwickelt, mit denen palästinensische Posts unterdrückt, offen zensiert und sogar ganze Konten gelöscht werden können. Eben das ist auch mit meinem passiert.

Palästinensische Imagination

Trotz der Gewalt und Zensur, der wir ausgesetzt sind, besteht die palästinensische Imagination fort. Sie wird von einem unbeugsamen Wille getragen, sich zur eigenen Befreiung zu organisieren. In den letzten zehn Jahren haben wir in den sozialen Medien ein palästinensisches Lexikon erstellt, das unsere Realität genauso beschreibt wie die unablässige Entwicklung von Begriffen, sie zu verhüllen. Nehmen wir den Begriff „Konflikt“. Aus unserer Sicht ist die Rede vom Konflikt eine absichtliche Zweideutigkeit, um die ethnische Säuberung, der wir unterliegen, zu verschleiern. Ein anderes Beispiel: Was wir als „Apartheid“ erleben, wird zu „Sicherheitsmaßnahmen“ umgedeutet. Das ist die Wirklichkeit, in der wir leben und über die wir berichten. Doch sogar die Zeugenschaft hierüber müssen wieder immer wieder neu belegen und verteidigen. Dabei sind wir permanent mit Zensur konfrontiert. In jeder Stunde jeden Tages werden unsere Bilder, Videos und Worte mit einer Triggerwarnung versehen. Das ist unsere Realität in den sozialen Medien und es gibt nicht einmal eine Stelle, in der man sich dagegen zur Wehr setzen kann.

Was uns hilft, ist die palästinensische Imagination. Auch wenn wir als Bevölkerung verstreut sind zwischen Flüchtlingslagern, von israelischen Militärs zerstörten und zerrissenen Gebieten und in der Diaspora, stellen wir über Netzwerke und Verbindungen her. Wir sind es gewohnt, in fremden Ländern zusammenzukommen, und uns auf digitalen Plattformen zu treffen und auszutauschen. Das haben wir schon gemacht, bevor die COVID-19-Pandemie die restliche Welt dazu gebracht hat. Nichtsdestotrotz wäre es für uns von immenser Bedeutung, wenn unserer Zeugenschaft über unsere Wirklichkeit und das, was uns angetan wird, international anerkannt wird – auch wenn es das Bild von Israel als demokratischem Staat im Nahen Osten zerstören würde.

Mariam Barghouti ist Journalistin und Bloggerin und lebt in Ramallah im Westjordanland. Kommentare von ihr sind u.a. in The New York Times, The Huffington Post, Newsweek oder Al-Jazeera English erschienen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 12. Juli 2022

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