Globale Solidarität

Eine Frage von Leben und Tod

Es fehlt der politische Wille der reichen Länder, die Weltgesundheit zu dekolonisieren. Von Dr. Unni Karunakara.

Regelmäßig findet in Berlin im frühen Herbst der World Health Summit statt, der mit schönen Worten um das Recht auf Gesundheit nicht geizt, um zugleich eine Idee von globaler Gesundheit zu propagieren, die die privaten Interessen der Gesundheitsindustrie ohne nachzudenken mit den Gemeinwohlinteressen in eins setzt. medico hat deshalb u.a. gemeinsam mit dem Geneva Global Health Hub (G2H2) eine Veranstaltung mit einem kritischen Angang organisiert, die auf großes Interesse unter Akteur:innen der Weltgesundheit stieß. In einer digitalen Podiumsdiskussion beschäftigten sich Expert:innen mit dem derzeit in der WHO debattierten Pandemie-Vertrag. Nachfolgend veröffentlichen wir die sehr kritische Beschäftigung mit dem geplanten Pandemie-Vertrag von Unni Karunakara.

Die zentrale Frage lautet: Kann ein Vertrag ein Ausweg sein, um künftige Pandemien besser zu bewältigen? Ich frage mich, warum gerade jetzt über einen solchen Vertrag gesprochen wird? Wir stecken noch mitten in der Pandemie und müssen von 250 Millionen Infizierten und mindestens fünf Millionen Toten ausgehen – und das ist wahrscheinlich eine zu niedrige Annahme. 6,8 Milliarden Impfdosen sind eingesetzt worden. Drei Milliarden Menschen müssen noch geimpft werden und die meisten von ihnen leben in armen Ländern. Also müsste der globale und universelle Zugang zur Impfung die allererste Priorität haben und nicht künftige Pandemien.

Haben wir bereits alle Lehren gezogen, die wir aus dieser Pandemie lernen können? Und können all die Fehler, die wir in der globalen Kooperation und in der Solidarität gemacht haben, damit begründet werden, dass die vertraglichen Rahmenbedingungen für ein besseres Vorgehen fehlten? Oder ist es nicht vielmehr eine Frage des fehlenden politischen Willens?

Ich kenne die Argumente des WHO-Generaldirektors Dr. Ghebreyesus Tedros und anderer, die sich für einen Vertrag stark machen, weil sie das Momentum unter der Pandemie nutzen wollen, um sich auf die nächste Pandemie vorzubereiten. Tatsache ist aber, dass wir bereits Rahmenrichtlinien und Instrumente besitzen, mit denen wir diese und folgende Pandemien gemeinsam bewältigen könnten. Was aber offenkundig fehlt, ist der politische Wille, weltweit die wichtigsten Ressourcen und Mittel zu teilen, um dies zu tun. Wir wissen doch, welche Länder diese Ressourcen, die Impfstoffe und die wichtigsten Medizinprodukte zurückgehalten und nicht geteilt haben, unabhängig von den existierenden Vereinbarungen.

Die vorhandenen globalen Solidaritätsmechanismen haben versagt. Sie haben nicht das zur Verfügung gestellt, was sie versprochen haben. Nehmen wir Covax (Covid-19 Vaccines Global Access). Nur 30 Prozent der 600 Millionen Impfdosen, die versprochen und angekündigt wurden, stehen bislang zur Verfügung. Und das Ende 2021! Während wir unfähig sind, die Produktion zu erhöhen, um lebensrettende Impfstoffe universell zugänglich zu machen, entstehen neue Varianten, die schwerwiegende Folgen haben. Wir haben es nicht geschafft, das Virus und seine neuen Varianten zu überholen. Dabei wissen wir genau, welche Länder Big Pharma erlaubt haben, Monopole zu bilden und enorme Gewinne an der Pandemie zu machen, während Milliarden Menschen ohne Impfstoffe sind.

Über 100 Länder forderten einen TRIPS-Waiver bei der Welthandelsorganisation WTO. Aber es gelang einer Handvoll Ländern, dies zu blockieren. (Der Trips-Waiver, ein Vorschlag von Indien und Südafrika, sah vor, Patentrechte während der Pandemie außer Kraft zu setzen, um weltweit die Produktion von Impfstoffen zu ermöglichen, d. Red.) Und interessanterweise sind es genau diese Länder, die jetzt den Pandemie-Vertrag vorschlagen und betreiben. Da kann man schon Verdacht schöpfen, dass er wenig mehr ist als ein Ausweichmanöver, um sich um die eigentliche Frage herumzudrücken.

Samthandschuhe für Big Pharma

Die Länder, die den TRIPS-Waiver verhindert haben, reden nun freiwilligen Leistungen der Pharmaindustrie das Wort, um universellen Zugang zu essenziellen Covid-Medikamenten zu gewährleisten. Sie behandeln also Big Pharma mit Samthandschuhen, während sie in dem Vertragsentwurf eine ganz andere Tonart gegenüber dem Globalen Süden anschlagen. Hier insistieren sie darauf, dass das Teilen von Informationen mit anderen Regierungen und der WHO verpflichtend ist. Sie verlangen per Vertrag, dass der Globale Süden unabhängige Überprüfungen bezüglich Gesundheitsdaten zulassen müsse. Damit wird unterstellt, dass der Globale Süden das eigentliche Problem ist, dass im Süden die Krankheiten produziert würden, die ein nationales Sicherheitsrisiko für die reichen Länder darstellten. Und das obwohl vollkommen klar ist, dass die Verbreitung Reisende aus dem Norden und sogar Diplomaten Covid-19 in vielen afrikanischen Ländern eingeführt haben. Wird es denn auch unabhängige Untersuchungen geben, wenn reiche Länder und ihre Gesundheitssysteme Missmanagement betreiben, wenn es um eine Pandemie geht?

Wir reden auch nicht darüber, welchen Druck Bill Gates auf die Forschung und Produktion der Oxford-Universität ausgeübt hat, um deren ursprüngliche Idee eines frei zugänglichen Wissens und des Technologietransfers beim Astra-Zeneca-Impfstoff zu verhindern. Eines der Argumente von Bill Gates bestand darin, dass im Süden keine Fabriken vorhanden wären, die auf dem erforderlichen technologischen Niveau Impfstoffe produzieren könnten. Gerade erst in der New York Times veröffentlichte Recherchen haben nachgewiesen, dass das komplett falsch ist. Es ist also klar, dass man mit weltweit vergebenen Lizenzproduktionen sehr wohl die Engpässe bei der Produktion von Impfstoffen schnell hätte überwinden könnte.

Es ist geradezu kurios, dass im Herzen der Ideologie vom freien Markt eine extreme protektionistische Tendenz vorliegt. Wir wissen längst, dass Patente keine Innovation befördern. Im Gegenteil, viele Patente und Patentverlängerungen verhindern Innovationen. Die Patentgesetzgebung schützt die Monopole und die Profitmöglichkeiten von Big Pharma. Allein Pfizer erwartet 3,5 Milliarden Gewinne durch den Impfstoff-Verkauf 2020/21. Dabei handelt es sich um eine Gewinnspanne von 20 Prozent. Das heißt, selbst in einer extremen Notfall-Situation stellen die reichen Länder den Gewinn privater Unternehmen vor das Wohl der Menschen. Meiner Ansicht nach hat die Privatwirtschaft die Governance- und Regierungsfähigkeit im Fall von Covid gekapert.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verteilungsfähigkeit. Mit Pandemie-Vertrag oder ohne – alle Bemühungen können nur so weit reichen, wie Verteilungskapazitäten, also eine Gesundheitsinfrastruktur, vorhanden sind, die überall Menschen den Zugang zu notwendigen Medikamenten ermöglichen. Ausgehend von dem Scheitern der globalen Solidarität – und es gibt keinen Zweifel, dass wir von einem spektakulären Scheitern sprechen müssen –, ist es absolut vernünftig, dass Länder ihre Ressourcen und Versorgungsstrukturen im Notfall vorhalten wollen, ohne auf irgendeine „Solidarität oder Barmherzigkeit“ vertrauen zu müssen. Die afrikanischen Länder und auch die Afrikanische Union haben drei Mal mehr Impfstoffe von China oder Russland erhalten als durch Covax. Jeder zukünftige Vertrag über einen globalen Solidaritätsmechanismus muss also Unternehmensinteressen widerstehen und einer veränderten geopolitischen Landschaft Rechnung tragen. Das bedeutet, dass arme Länder und Regionen einen souveränen Zugriff auf notwendige Medikamente und Lieferketten haben müssen. Man muss sich gegen den kolonialen Impuls in diesem Entwurf eines Pandemie-Vertrages zur Wehr setzen, der die Kontrolle über die Gesundheitsagenda von Ländern und Regionen zentralisieren will.

Wenn Länder und Regionen zu Recht eine Souveränität über die Lieferketten verlangen, geschieht das zu einer Zeit, da Gesundheitspraktiker und Fachleute verlangen, dass die globale Gesundheit dekolonisiert werden muss. Eine erfolgreiche Dekolonisierung bedeutet eine De-Imperialisierung. Es geht nicht nur darum, Macht und Kontrolle abzugeben, sondern es geht auch darum, Wissen und Fähigkeiten weiterzugeben und zu teilen. Eine dekolonisierte Verteilungsfähigkeit ist eine Art Pandemie-Versicherung. Wenn man sich hundert Jahre Pandemie-Bekämpfung ansieht, stellt man fest, dass immer die gleichen Fehler gemacht werden. Wir haben nicht viel gelernt. Dabei gibt es viel mehr internationale Vereinbarungen und Instanzen oder Produktionskapazitäten als früher. Trotzdem stecken wir im dritten Jahr der Pandemie fest. Jenseits von Verträgen braucht es einen fundamentalen Wandel im Denken, um erfolgreich gegen eine Pandemie vorzugehen. Ein neuer Vertrag wird die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass Menschen, insbesondere in den armen Ländern, als Überflüssige behandelt werden und keinen Schutz erhalten.

Wir leben in einer multipolaren Welt mit einem wachsenden Nationalismus und immer weiter wachsenden Ungleichheiten. Globale Solidarität heißt, das Leiden genauso wie die Errungenschaften zu teilen. In Zeiten der Pandemie ist das buchstäblich eine Frage von Leben und Tod.

Für eine tatsächliche Demokratisierung der politischen Weltverhältnisse streitet medico seit 20 Jahren gemeinsam mit dem People’s Health Movement (PHM), dem globalen Netzwerk, das gesundheitspolitische Aktivist:innen aus dem Globalen Süden und Norden verbindet. Das Geschehen in und um die WHO verfolgen die WHO-Watcher kritisch, die alljährlich den zentralen Tagungen der WHO beiwohnen, Stellungnahmen einbringen und das Gespräch mit den nationalen Delegationen der Mitgliedsstaaten suchen. Ergänzt und unterstützt wird diese wichtige Arbeit auch vom 2016 gegründeten Geneva Global Health Hub (G2H2), in dem medico Mitglied ist und maßgeblich zur Finanzierung beiträgt.

Spendenstichwort: Globale Gesundheit

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 25. November 2021

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