Justizreform in Israel

Die Grenzen der Demokratie

Guy Shalev, Direktor des langjährigen medico-Partners Physicians for Human Rights – Israel, im Gespräch über die jüngsten Entwicklungen in Israel und die Perspektiven der Protestbewegung.

Am 24. Juli 2023 verabschiedete die Knesset trotz anhaltender Proteste ein Gesetz zur Abschaffung der „Angemessenheitsklausel“. Die regierende Rechtskoalition in Israel unternahm damit den ersten Schritt zur Entmachtung des Obersten Gerichtshofs. Die Angemessenheitsklausel stellt einen Mechanismus zur Sicherung der Gewaltenteilung dar. Der Oberste Gerichtshof wird nun mit dem Inkrafttreten der neuen Regelung nicht mehr in der Lage sein, Verwaltungsentscheidungen oder Ernennungen zu blockieren, die er für unangemessen hält. Eine „unangemessene Entscheidung“ wurde bisher definiert als eine Entscheidung, die unverhältnismäßig stark auf politische Interessen ausgerichtet ist und das öffentliche Interesse und dessen Schutz nicht ausreichend berücksichtigt.

medico: Am Tag seiner Verabschiedung gab es anscheinend noch ein Hin und Her zwischen der Opposition und der Koalition über kleinere Änderungen an dem vorgeschlagenen Gesetz. Wäre ein Kompromiss denkbar gewesen, mit dem die Opposition zufrieden gewesen wäre?

Guy Shalev: Die Straße war gegen jeden Kompromiss, aber einige der Oppositionsführer haben versucht, einen solchen mit Präsident Herzog als Vermittler zu erreichen. Ich sehe dies als eine Debatte zwischen Spitzenpolitker:innen, die je nach ihrer Ausrichtung sehr stark oder etwas gemäßigter nationalistisch sind, die aber alle ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Obersten Gerichtshof haben. Auch den Oppositionsführer:innen gefallen Urteile des Obersten Gerichtshofs nicht, die beispielsweise die Rechte der Palästinenser:innen oder anderer Minderheiten unterstützen oder schützen. Aber die Debatte ist sehr begrenzt und sie erstreckt sich ohnehin nicht wirklich auf die Besatzung.

Wieso waren Teile der Opposition überhaupt bereit, eine Kompromisslösung anzustreben?

Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Knesset dürfte es sich auch um einen Versuch der Schadensbegrenzung gehandelt haben. Wir sollten aber nicht verkennen, dass Teile der Opposition nicht grundsätzlich dagegen sind, die Interventionsmacht des Obersten Gerichtshofs einzuschränken. Das unterscheidet sie in gewisser Weise von den Leuten, die jetzt gegen jeden Kompromiss in der Frage auf die Straße gehen: Politiker:innen, auch jene, die sich momentan in der Opposition befinden, lassen sich nicht gerne von einem Gericht in die Entscheidungen reinregieren. Die Menschen auf der Straße aber, die jetzt gegen jede Beschneidung der gerichtlichen Befugnisse protestieren, sind sich der Schwäche der Gewaltenteilung in Israel bewusst.

Sie wissen, dass der Oberste Gerichtshof so was wie eine Brandmauer darstellt – egal, welche politische Kraft gerade die Mehrheiten stellt, und selbst wenn diese Mauer in mancherlei Hinsicht mehr symbolisch als tatsächlich als Schutz unserer Demokratie funktionieren mag. Sie stellen sich gegen die Aushöhlung dieses ohnehin schwachen Systems. Demgegenüber hat die Opposition im Parlament mehr als vor einer grundsätzlichen Schwächung dieses Systems vielleicht davor Angst, dass diese Verschiebung während der Hegemonie der extremen Rechten stattfindet und dass dadurch die Machtverteilung innerhalb der israelischen Demokratie nachhaltig zu deren Gunsten verschoben wird.

Wie weit reicht dann die Kritik? Gibt es zwischen Regierung und Opposition einen Grundkonsens in Bezug auf antipalästinensische Maßnahmen?

Ja, das kann man wahrscheinlich so sagen. Ich denke beispielsweise an die Änderungen des Gesetzes über die Zulassungskomitees in israelischen Gemeinden, die seit vielen Jahren ein Streitpunkt sind. Nach diesem Gesetz dürfen die Komitees den Zuzug von Kandidat:innen in die Gemeinde mit vagen Begründungen ablehnen. Die „Ungeeignetheit für das soziale Leben der Gemeinde“, ihr „soziokulturelles Gefüge“ oder „einzigartige Merkmale der Gemeinde, wie sie in ihren Statuten definiert sind“ gelten als Gründe hierfür. Es ist seit Jahren bekannt, dass dieses Gesetz hauptsächlich dazu dient, Araber:innen vom Zuzug in jüdische Gemeinden auszuschließen, aber es wird auch von säkularen Gemeinden benutzt, um orthodoxe Familien fernzuhalten. Der Anwendungsbereich dieses Gesetzes wurde nun erweitert.

Und das wurde von einigen Oppositionsmitgliedern unterstützt, auch aus der zionistischen Linken, zum Beispiel der Arbeiterpartei, die sinngemäß sagten: „Wir werden nicht mit der Regierung stimmen, weil die Regierung so und so ist, aber wir unterstützen das Gesetz.“ Und das sind Politiker:innen, die hierzulande zur sogenannten zionistischen Linken zählen, die die Vorrechte der jüdischen Bevölkerung Israels wenn nötig auf Kosten der Gleichheit aller Staatbürger:innen gewahrt sehen möchten. Es besteht ein Konsens unter fast 100 der 120 Parlamentsmitglieder, dass Maßnahmen gegen Palästinenser:innen oder solche, die die jüdische Vorherrschaft stärken, legitim sind und dass jede Einmischung des Obersten Gerichtshofs in diese Aspekte in gewisser Weise begrenzt werden sollte. Die nun verabschiedete Abschaffung der Angemessenheitsklausel ist übrigens nur das erste in einer Reihe von geplanten Gesetzen, die den Obersten Gerichtshof schwächen und der Regierung mehr Spielraum geben sollen.

Wenn du sagst, dass antipalästinensische Maßnahmen nicht wirklich umstritten sind: Welche Interessen stehen dann im Mittelpunkt dieses begonnenen Umbaus der Justiz?

Es gibt eine Koalition aus drei verschiedenen Ideologien, und jede von ihnen hat ein Motiv, den Obersten Gerichtshof zu schwächen. Der Likud und Netanjahu wollen, dass der Oberste Gerichtshof geschwächt wird, damit „Bibi“, wie Netanjahu im Land genannt wird, aus den Prozessen, die gegen ihn anhängig sind, herauskommt und so seine Macht über das Land stärker wird. Die Ultra-Orthodoxen möchten die Rechte von Homosexuellen und Frauen zurückdrehen. In dieser Hinsicht war der Oberste Gerichtshof sehr effektiv. Dies ist auf der ultraorthodoxen politischen Landkarte sehr problematisch.

Und schließlich die Siedler:innen: Es gibt einige wenige kleinere Siedlungen, deren Räumung der Oberste Gerichtshof gefordert hat. Sie sehen in der Schwächung des Obersten Gerichtshofs eine Möglichkeit, das Siedlungsprojekt zu stärken und die Fähigkeit und Möglichkeiten der Palästinenser:innen, sich vor Gericht zu wehren, zu schwächen. Ich habe den Eindruck, dass dies letztlich eine Interessenallianz bildet, von der alle drei Lager profitieren. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass, wenn es etwas gibt, das diese Koalition zum Scheitern bringen könnte, es vielleicht die Tatsache ist, dass all dies zusammengenommen einfach zu viel sein könnte. Vielleicht nicht so sehr für die Wähler:innen der rechtsextremen Regierungsparteien Religiöser Zionismus und Jüdische Kraft, aber für die Wählerschaft des Likud und der Ultra-Orthodoxen. Wenn sie den Coup gegen den Obersten Gerichtshof auf ihre Weise machen könnten, würden sie es vorziehen, sich nur auf ihre eigenen Interessen zu konzentrieren. Aber wenn beispielsweise die Ultra-Orthodoxen es auch für die  Nationalreligiösen oder für die kriminellen Motive von Netanjahu tun müssen, dann riskieren sie die Unterstützung ihrer eigenen Wählerschaft, und wir können in den aktuellen Umfragen in Israel sehen, dass die Koalition nur 52 oder 53 Sitze im Parlament bekommen würde, was erheblich weniger ist als die 64 Sitze, die sie derzeit hat.

Die jetzt mit der Beschränkung des Obersten Gerichtshofes in Gang gesetzte Stärkung der Exekutive wird jedem zugutekommen, der zukünftig an der Regierung sein wird. Und die Mehrheiten sind brüchig, wie Du sagst. Wovor fürchtet sich die parlamentarische Opposition bei einem so breiten Konsens über einen großen Teil der Politik?

Wie gesagt: Die Stärkung der Exekutive stößt nicht grundsätzlich auf Ablehnung. Deshalb glaube ich Benny Gantz, einem der Oppositionsführer, nicht, wenn er sagt: „Keine Sorge, wir werden das Gesetz wieder ändern, wenn wir an der Macht sind.“ Ich glaube nicht, dass sie diese Macht wieder hergeben würden. Aber ich glaube ihnen, wenn sie sagen, dass sie sich Sorgen machen, dass dies der erste Schritt zu einem autoritären Regime ist. Denn das wird es ihnen auch sehr viel schwerer machen, wieder gewählt zu werden und überhaupt an die Macht zu kommen. Aber wie wir von anderen Beispielen in der Welt wissen, gibt auch die Opposition, wenn sie selbst dann die Macht erlangt hat, diese nicht wieder ab.

Du sagtest eben, dass die Regierungskoalition in den Umfragen jetzt „nur“ 53 Sitze erhält, aber wenn man sich ansieht, wie viele Hunderttausende von Menschen gegen diesen Justizputsch auf die Straße gegangen sind, dann finde ich es sehr bemerkenswert, dass sie immer noch 44 Prozent der Stimmen erhalten würde. Vor ein paar Tagen gab es sogar in Tel Aviv eine große Demonstration von Befürworter:innen der Gesetzesnovelle…

Richtig. Allerdings kamen die meisten der Teilnehmer:innen aus dem Westjordanland. Man erkannte das an der Kleidung und auch an einigen Slogans auf deren Schildern, zum Beispiel „Wir wollen Theokratie“. Sie unterstützen die Ideologie dieses Justizputsches, sie sind keine Protestwähler:innen. Die eigentlichen Anführer:innen des Justizputsches stammen aus einem bestimmten Segment der Gesellschaft, dem religiösen Zionismus, bei denen Nationalismus und Religion zu einem gefährlichen Gebräu fusionieren. Es ist eine Minderheit in der israelischen Wählerschaft, aber sie sind die Anführer dieser Bewegung. Und ein großer Teil der israelischen Gesellschaft unterstützt sie und diesen Coup. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen.

Gegen das gerade verabschiedete Gesetz ist umgehend eine Petition eingereicht worden. Das bringt den Obersten Gerichtshof in eine Lage, in der er die Zulässigkeit einer Petition prüfen muss, die sich gegen ein Gesetz richtet, das seine eigenen Befugnisse als Gericht betrifft. Was heißt das?

Als Laie würde ich sagen, dass sie die Diskussion nicht ablehnen kann, aber ich glaube nicht, dass sie das Gesetz tatsächlich außer Kraft setzen werden. Sie sind zu schwach, um die dann drohende Verfassungskrise zu verursachen. Aber wenn das passieren sollte, wird das ein Moment der Wahrheit sein, weil alle – beispielsweise die Sicherheitskräfte und die Polizei - sich dann entscheiden müssen, ob sie auf den Gerichtshof oder auf die Regierung hören. Das wäre ein sehr interessanter Moment in der israelischen Geschichte. Übrigens hat der amtierende Mossad-Chef für den Fall, dass es so weit kommen wird, schon angekündigt: „Ich werde auf dem richtigen Platz stehen.“ Er hat nicht gesagt, welcher Platz das ist, aber es schien mir klar, dass er auf der Seite des Gerichts stehen würde. Aber wie gesagt: Ich persönlich glaube nicht, dass das Gericht den nötigen Mut aufbringen wird.

Wohin wird sich die Protestbewegung deiner Meinung nach entwickeln und in welche Richtung sollte sie gehen?

Ich bin nicht der Richtige, um zu fragen, wohin es gehen soll, denn ich habe mich von Anfang an nicht als Teil davon betrachtet. Wer bin ich also, um zu sagen, wohin es gehen soll? Ich stehe all diesen Prozessen sehr ambivalent gegenüber.

Was für eine Art von Protestbewegung müsste es sein, damit du dich dazugehörig fühlst?

Ein Protest, der nicht nur „Demokratie“ sagt, sondern Demokratie meint. Ein Protest, der gleiche Rechte für alle in Betracht zieht und nicht ein militaristischer, rechter, im Grunde zionistischer, d. h. auch die Vorrechte der jüdischen Mehrheitsgesellschaft schützender Protest ist, wie wir ihn jetzt sehen. Es gibt definitiv viele verschiedene Stimmen innerhalb dieser Protestbewegung, sie ist sehr groß. Es gibt einen sehr hartnäckigen Block gegen die Besatzung – ich weiß nicht, ob er zahlenmäßig bedeutend ist, aber auf jeden Fall, was die Sichtbarkeit angeht. Auch das ist Teil der Bewegung, und ich bin sehr froh, dass es sie gibt. Es ist jedoch ganz klar, dass dieser Protest hauptsächlich aus der Mittelschicht, aschkenasischen Jüdinnen und Juden und Zionist:innen besteht, die diesen Protest anführen und in gewisser Weise auch um die Erhaltung ihrer Privilegien kämpfen, nicht so sehr für echte Demokratie.

Die Bewegung sollte sich meines Erachtens entschlossener gegen die staatliche Macht wehren und sich auf eine viel umfassendere Diskussion über Gleichberechtigung verlegen. Ich kann aber auch sehr gute Dinge über diese Proteste sagen: zum Beispiel über die Idee, sich dem Militärdienst zu widersetzen, die jetzt normaler geworden ist – was ganz erstaunlich ist, weil dies so viele Jahre lang unausgesprochen war. Außerhalb von sehr marginalen Teilen der israelischen Linken war dies lange unaussprechlich. Es gibt Dinge, die wirklich interessant sind, und es gibt positive Verschiebungen. Aber ich bin nicht optimistisch, dass sich der Protest weiter in diese Richtung bewegen wird.

Das Interview führte Riad Othman.

Veröffentlicht am 09. August 2023

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