Jedes Jahr gedenken Palästinenser:innen in Israel, in Palästina und weltweit am 15. Mai der ethnischen Säuberung von etwa 750.000 Menschen aus dem Gebiet, das im Krieg von 1948 zu Israel wurde. Palästinenser:innen bezeichnen das Ereignis als Nakba (arabisch: Katastrophe).
In Haifa arbeiten mehrere medico-Partnerorganisationen gegen die Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung in der Gegenwart, aber auch gegen ein Verschweigen und ein Vergessen des Leids. Sie setzen sich für eine Offenlegung der Verbrechen im Zuge der israelischen Staatsgründung und für einen anderen Umgang damit ein.
Auf dem Weg nach Haifa machen wir einen Stopp an einem Strand in der Nähe des Kibbuz Nahsholim, etwas abseits der Autobahn, die entlang der Mittelmeerküste nach Norden führt: dem Strand des Moshav Dor. Bis 1948 existierte hier das palästinensische Fischerdorf Tantura, in dem die Alexandroni-Brigade der Haganah, die es auch heute noch unter dem gleichen Namen in der israelischen Armee gibt, in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai 1948 ein Massaker an Dorfbewohner:innen verübte. Die Überlebenden wurden vertrieben: nach Syrien, ins Westjordanland und zum kleinen Teil in eine andere palästinensische Ortschaft, unweit von Tantura. Ihr Dorf wurde in der Folge über mehrere Jahre zerstört, bis 1956 fast nichts mehr davon übrig war. Seine Bewohner:innen wurden an der Rückkehr gehindert – selbst diejenigen, die sich nach dem Waffenstillstand von 1949 innerhalb des neu gegründeten Staates Israel nur wenige Kilometer weit entfernt befanden.
Unter dem Parkplatz, der heutzutage Besucher:innen des Strandressorts dient, befindet sich ein Massengrab. Ein Hinweis darauf, dass hier Menschen, entwaffnete palästinensische Kämpfer ebenso wie Zivilist:innen, ermordet und verscharrt worden sind, findet sich nirgends. Das änderte sich auch nicht, nachdem die medico-Partnerorganisation Adalah aus Haifa am 23. Mai 2023 im Auftrag von elf Vertriebenen aus dem Dorf und des Tantura-Komitees „sofortige Maßnahmen zur Markierung, Einfriedung und Beschilderung der Massengräber und Friedhöfe von Tantura“ von israelischen Behörden gefordert hatte.
Eine ebenfalls von Adalah in Auftrag gegebene Untersuchung des Massakers durch die in Großbritannien ansässige Organisation Forensic Architecture hatte Indizien auf weitere Massengräber in Tantura geliefert. Die Kolleg:innen von Forensic Architecture, mit denen auch medico immer wieder zusammenarbeitet, dokumentierten dies sowohl in einem Bericht als auch in einem 17-minütigen Kurzfilm:
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In Israel dauert die jahrzehntelange Leugnung der in Tantura und zahlreichen anderen palästinensischen Dörfern und Städten begangenen Verbrechen an. Das Nakba-Gesetz von 2011 soll das Schweigen im Land unter Androhung von Sanktionen fortschreiben. Von den rund 14 Millionen Akten, die sich in den Archiven der israelischen Armee und des Sicherheitsestablishments befinden, sind gerade mal 50.000 der Öffentlichkeit zugänglich. Das sind 0,4 Prozent der Akten, wie die auf solche Fragen spezialisierte medico-Partnerorganisation Akevot sagt.
Während im Gazastreifen, kaum zwei Autostunden von Tantura, so viele Menschen aus ihren Häusern vertrieben und ermordet worden sind wie selbst im Krieg von 1948 nicht, können wir heute, am Nakba-Tag, nicht nur der Opfer der historischen Verbrechen gedenken, sondern müssen uns dafür einsetzen, dass der Genozid, der in Gaza in der Gegenwart stattfindet, endlich aufhört.

Vor aller Augen geht das Töten in Gaza weiter. Wer die Menschenrechte dort nicht verteidigt, wird sie auch hier verlieren. Sprechen Sie darüber. Nicht eines Tages. Jetzt.