Gaza wird ausgehungert. Das scheint mittlerweile endlich auch in größeren Teilen des Deutschen Bundestages, der Regierung sowie in den Medien zur Gewissheit zu werden. Wer hätte wissen wollen, dass dies nicht erst seit dem 2. März 2025 der Fall war – dem Beginn einer erneuten vollständigen Abriegelung Gazas –, hätte sich nur die Zahlen der obersten israelischen Besatzungsbehörde COGAT in den 15 Monaten nach dem 7. Oktober 2023 ansehen müssen. Bis Ende 2024 veröffentlichte sie regelmäßig mit großer Selbstsicherheit die Anzahl der Lastwagen, die sie in die größtenteils zerstörte Enklave ließ. Sie wollte damit beweisen, dass der Vorwurf des Kriegsverbrechens, der palästinensischen Bevölkerung dort überlebensnotwendige humanitäre Hilfe vorzuenthalten, haltlos sei.
Dabei zeigen ihre Zahlen vor allen Dingen eines: Die israelische Regierung hat selbst nach ihren eigenen Angaben im genannten Zeitraum ein knappes Viertel dessen an Hilfsgütern nach Gaza gelassen, was auch die Vereinten Nationen als das absolute Minimum definiert hatten. International hatten deshalb Regierungen, darunter Berlin, im Verlauf der letzten 20 Monate wiederholt den uneingeschränkten oder zumindest stark verbesserten Zugang nach Gaza gefordert. Entsprechende Schritte hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag der israelischen Regierung bereits Ende Januar 2024 rechtsverbindlich aufgetragen. Zwei weitere Male ordnete er vorläufige Maßnahmen an, um die Gefahr eines Genozids an der palästinensischen Bevölkerung Gazas abzuwenden – auch weil die israelische Regierung das genaue Gegenteil tat und mit dem Vorgehen ihrer Armee die Situation in dem Küstengebiet immer weiter verschlimmerte.
Dabei sollte allen Beteiligten klar sein – und Deutschland ist qua seiner Unterstützung Israels beteiligt –, dass es hier nicht nur um den Zugang zu humanitärer Hilfe geht. Die von der israelischen Regierung wiederholt angekündigte Zwangsumsiedlung der Menschen aus großen Teilen des Gazastreifens in immer kleinere Enklaven soll nach Netanjahus Willen nicht vorübergehend sein. Sie dient auch keinem übergeordneten militärischen Ziel. Vielmehr ist die ethnische Säuberung mittlerweile selbst mehrfach artikuliertes Kriegsziel, wie der bekannte Menschenrechtsanwalt Michael Sfard erst jüngst in einem Kommentar für die israelische Tageszeitung Haaretz schrieb. Seit der unilateralen Aufkündigung der Waffenruhe durch die israelische Regierung am 18. März haben ihre Streitkräfte 34 Befehle zur Zwangsumsiedlung gegen die Bevölkerung erlassen. Bis zu 80 Prozent der Enklave sind davon betroffen. „Eines der Ziele der IDF, wie in den Operationsbefehlen definiert, ist die ‚Konzentration und Umsiedlung der Bevölkerung‘. Halten Sie einen Moment inne und lassen Sie sich den Begriff ‚Konzentration der Bevölkerung‘ auf der Zunge zergehen“, kommentierte Sfard. Die seither intensivierten Angriffe, denen an vielen Tagen über 100 Menschen zum Opfer fallen, zählen zu den tödlichsten seit Beginn der Gaza-Krieges infolge des 7. Oktober 2023. Alleine seit dem Ende der Waffenruhe Mitte März 2025 sind laut UNICEF in Gaza 1.309 Kinder getötet und 3.738 verletzt worden.
Sinneswandel ohne Konsequenzen
Diese Entwicklungen ließen in vielen europäischen Hauptstädten sowie in Kanada die Alarmglocken schrillen. Ein Wandel schien auch in Deutschland Einzug zu halten, als der neue Bundeskanzler Friedrich Merz sagte, dass er die Zielsetzungen der israelischen Regierung nicht mehr nachvollziehen könne, wenn die palästinensische Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft gezogen werde wie – so Merz – „in den letzten Tagen“. Außenminister Johann Wadephul, der noch kurz vor dem Besuch seines israelischen Amtskollegen Gideon Sa’ar in Berlin bekundet hatte, die Waffenexporte auf den Prüfstand stellen zu wollen, ruderte dann allerdings zurück. Deutschland werde weiter Waffen liefern. Ein fatales Signal. Auch der Vorwurf Ursula von der Leyens an die Adresse Israels, unverhältnismäßige Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza anzuwenden, stand ganz im Zeichen einer sich abzeichnenden, rhetorischen Trendwende. Die Autorin und Publizistin Charlotte Wiedemann kommentierte: „Wofür gestern noch Menschen ihren Job verlieren konnten, ist heute in aller Munde. Als hätten die Kinder in Gaza erst jetzt begonnen zu sterben.“
Sollte sich die Reaktion Europas in unterschiedlichen Empörungsbekundungen erschöpfen, wird sie wirkungslos bleiben. Die nun durch Großbritannien, Norwegen, Neuseeland, Australien und Kanada angekündigten Sanktionen gegen die israelischen Kabinettsmitglieder Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich gehen zwar in die richtige Richtung. Sie erfolgen jedoch mit explizitem Bezug zu deren negativer Rolle bei der Eskalation der Gewalt im Westjordanland. Vor allem aber beschränken sie sich auf jene Regierungsmitglieder, die unumstritten schon lange als Extremisten gelten und die weder zentrale noch alleinige Verantwortung für das israelische Vorgehen im Gazastreifen tragen. Das Problem sind nicht nur einzelne, extremistische Politiker. Das Problem ist ein System, das auf Landraub, Verdrängung bzw. Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und jüdische Vorherrschaft aufbaut. Werden diese Parameter nicht adressiert, wird es weder in Gaza noch im Westjordanland zu signifikanten Veränderungen im Sinne einer Verwirklichung des legitimen Selbstbestimmungsrechts der palästinensischen Bevölkerung kommen.
Von der Selbstverteidigung zum Genozid
In der Genozidforschung ist bekannt, dass die meisten, wenn nicht sogar alle, Völkermorde historisch mit einem Narrativ der Selbstverteidigung einhergingen. Gerade Deutsche sollten das wissen. Der Holocaustforscher Omer Bartov erinnerte jüngst in einem Artikel für die New York Review daran, dass der unmittelbare Anlass des deutschen Genozids an den Herero und Nama zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Namibia Überfälle dieser indigenen Gruppen auf Farmen weißer Siedler waren. Dieses Ereignis traf damals auf die schon zuvor vorhandene sozialdarwinistische und rassistische Sicht auf Indigene und die brutale Logik westlicher Kolonialregime.
Sein Kollege, der Genozid-Forscher Mark Levene, beschrieb das gängige Narrativ zur Legitimation genozidaler Gewalt: „Es sind deshalb ‚sie‘, die gegnerische Bevölkerung, denen wegen ihrer fehlgeleiteten Handlungen und Glaubenssysteme, um nicht zu sagen, wegen ihrer Grausamkeiten gegen ‚uns‘ die Schuld und Verantwortung für den ‚Selbstverteidigungskrieg‘ der Täter gegeben wird, der folglich bis zum Äußersten und ohne Gnade gekämpft werden muss.“ Der 7. Oktober schuf in Israel einen Anlass, „tief verwurzelte […] Antipathien gegenüber einer Bevölkerungsgruppe“ [den Palästinenser:innen] in die Tat umzusetzen. Die internationale Solidarität mit Israel und seine massive Ausrüstung mit US-amerikanischen und deutschen Waffen trugen entscheidend dazu bei, die Möglichkeiten zur Umsetzung zu schaffen und aufrechtzuerhalten.
Auf all das ist die Forderung nach mehr oder uneingeschränkter Hilfe keine ausreichende Antwort. Die Hilfe, wie wir sie derzeit in Gaza sehen, gleicht dem Versuch, ein System zu errichten, das die Bevölkerung nicht versorgen, sondern sie in kleinen Sektoren konzentrieren soll. Unsere Partnerorganisationen und uns stellt all das vor nicht gekannte Herausforderungen. Denn natürlich streiten wir gemeinsam für das Recht auf Hilfe und den ungehinderten Zugang zur Zivilbevölkerung. Und ohne Zweifel wissen wir um die überlebensnotwendige Bedeutung jener Hilfsgüter, denen der Weg nach Gaza weiterhin versperrt wird. Doch niemand sollte sich der Illusion hingeben, mehr humanitäre Hilfe würde die Situation grundsätzlich verändern. Im Kern handelt es sich um ein politisches Problem. Der kürzlich für seine Reportagen mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete palästinensische Dichter Mosab Abu Toha aus Gaza brachte es im Mai im Kurznachrichtendienst X einmal mehr auf den Punkt: „Wir wollen keine Hilfe. Wir sind keine armen Leute. Beendet einfach den Genozid. Beendet die Besatzung. Beendet die Blockade.“
Viele Tausende Menschen haben bei medico in den vergangenen Wochen Zehntausende Postkarten und Poster bestellt, auf denen steht: „Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein.“ Das ist der Titel eines kürzlich erschienenen Buches des Schriftstellers Omar El Akkad. Für die kommenden Wochen sind Proteste in zahlreichen deutschen Städten angekündigt. Es ist höchste Zeit, dass die 80 Prozent, die sich jüngst erst wieder in einer Umfrage des ZDF gegen den Krieg geäußert haben, auch Gesicht zeigen, auf die Straße gehen und sich in ihrem Umfeld für die Haltung einsetzen, dass alle Menschen auch wie solche behandelt werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 02/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!