Psychosoziale Arbeit

Die Angst politisieren

30.04.2025   Lesezeit: 6 min  
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Rechtsruck, Aufrüstung, Klimakatastrophe: Die Gegenwart lähmt viele. Perspektiven kann ein Blick in die psychosoziale Widerstandsgeschichte Lateinamerikas bieten.

Von Julia Manek

Ende 2021, da hatte sich die neue Außenministerin gerade als feministisch und die neue Innenministerin als antifaschistisch bezeichnet, schien man sich durchaus Optimismus leisten zu können. Obwohl Konzepte wie das einer „feministischen Außenpolitik“ letztlich kaum überzeugen konnten, wirken sie im Rückblick wie aus der Zeit gefallen. Drei Jahre später liegt die erste rot-grün-gelbe Bundesregierung auf dem Scherbenhaufen der Geschichte. Die nächste Legislaturperiode bricht mit einem Antifeministen an der Spitze an, die Rechtsextremen sitzen bequem in der Warteposition. Rechtsruck, Aufrüstung, Klimakatastrophe: Anfang 2025 ist bei der Realitätsprüfung definitiv kein Optimismus mehr zu spüren.

Das große Gruseln

Der Blick in die Welt macht es nicht besser. Insbesondere das Geschehen in den USA lässt jeden Tag aufs Neue gruseln. Im Stakkatotakt zerstören die Angriffe der Trump-Administration demokratische Errungenschaften, zivilgesellschaftliche Infrastrukturen, internationale Wissenschafts- und Wirtschafts- sowie gesundheits- und entwicklungspolitische Beziehungen. Viele Maßnahmen scheinen zu absurd, um wahr sein zu können.

Das Trumpsche Kabinett scheint einen Blockbuster zu inszenieren, in dem groteske Schurken, die allesamt auf dem psychopathologischen Spektrum rangieren, die Weltbevölkerung in Angst und Schrecken versetzen. Wo aber bleiben Batman und Wonderwoman, um alles zum Guten zu richten? In der kontemporären Real-Inszenierung wartet man vergeblich auf die Superheld:innen. Man wartet bislang auch vergeblich auf eine lautstarke Antwort der US-Gesellschaft: Wo bleiben die Massenproteste, wo bleibt die Wut? Aus dem Realitätscheck scheint ein Realitätsschock geworden zu sein. Schockstarre inklusive.

Das Unbehagen angesichts der rasanten Entwicklungen in den USA lädt auch dahingehend zum Gruseln ein, dass sich Ähnliches vor der eigenen Haustür zusammenbrauen könnte. Vielerorts – ja, in Deutschland – fragen sich Menschen, wohin sie gehen könnten, falls es wirklich hart auf hart kommen und falls anderorts vom Recht auf Asyl noch etwas übrig sein sollte. Leider macht der Blick auf die Weltkarte deutlich, was man möglicherweise schon befürchtete: Autoritarismus, Militarisierung, patriarchale Rückschläge sind keine Einzelfälle, sondern vielerorts auf der Welt längst Standard. Hinzu kommen die längst schon realen und die bereits absehbaren Auswirkungen der Klimaveränderungen. Viele Sehnsuchtsorte von gestern haben ihre Strahlkraft verloren.

Angst als Ressource

Fast 10.000 Kilometer von Deutschland entfernt füllen Proteste die Straßen einer zentralamerikanischen Stadt. Es ist der 8. März. Auf einem selbstgebastelten Schild steht mit Filzstift geschrieben, „Mi miedo se volvió fuerza“„Meine Angst hat sich in Stärke verwandelt“. In den extremen Gewaltverhältnissen Zentralamerikas erwächst Widerstand trotz oder vielleicht gerade wegen des Bewusstseins der eigenen Verletzungen und der Verletzungen der Anderen. Mitten in der Demo hält eine junge Frau ein Schild hoch, auf dem steht „Libertad para las presas políticas en Nicaragua“ – „Freiheit für die politischen Gefangenen in Nicaragua“. Auch dieser frühere Sehnsuchtsort der globalen Linken ist längst keiner mehr: Nach der brutalen Niederschlagung der Protestbewegung gegen das Ortega-Regime mit über 300 Toten sind inzwischen knapp 12 Prozent der Nicaraguaner:innen ins Ausland migriert oder wurden mit Gewalt ins Exil gezwungen.

Am Straßenrand stehen medico-Partner:innen aus Nicaragua. Aus der begründeten Angst vor Verfolgung, auch im Ausland, müssen sie unerkannt bleiben. Sie arbeiten unter dem Regime im Verborgenen, begleiten Betroffene von Repression im Land und auch ins Exil mit psychosozialer Unterstützung. Eine von ihnen ist sichtlich gerührt angesichts der Demonstration tausender Frauen und Menschen mit diversen Identitäten. „In Nicaragua können wir nicht mehr öffentlich protestieren. Das würde den direkten Weg ins Gefängnis bedeuten.“ Später erzählen mir die Kolleg:innen von ihrer Arbeit und der Gefahr für sie, denn jede zivilgesellschaftliche Organisierung wird in Nicaragua unterdrückt. Warum sie trotz der Angst weiter machen? „Weil wir die Ungerechtigkeit nicht aushalten.“  

Psychologie der Befreiung

„¡Tantos exilios en nuestro siglo!“ – „So viel Exil in unserem Jahrhundert!“ lautet ein Buchtitel von Marie Langer. Als Jüdin und Kommunistin ging sie 1939 selbst aus Österreich ins Exil. Zwischen Argentinien, Mexiko und Nicaragua war ihre Arbeit als Psychoanalytikerin Teil des Widerstands gegen die Militärdiktaturen, deren ausgefeilte Repressionsstrategien gezielt Körper und Psychen, die sozialen Netze und Träume ihrer politischen Gegner:innen angriffen. Marie Langer betonte deshalb die psychologischen Folgen der Gewalt und der politischen Situation auf die Betroffenen. Die Auswirkungen der Repression auf die Kämpfe um Befreiung müssen in die psychoanalytische Arbeit einbezogen werden, sagte sie in öffentlichen Reden und so arbeitete sie auch in ihrer Praxis als Therapeutin. Nur so könnten die Fehler der 1930er Jahre vermieden werden – als genau das nicht gemacht wurde.

Zeitgleich mit Langers Wirken in Lateinamerika entstand dort in Reaktion auf die psychischen Folgen von Folter, Massakern und Verschwindenlassen die Befreiungspsychologie: die „psicología de la liberación“. Zentral für deren Theorie und Praxis ist das Wissen darum, dass Repression intendierte emotionale Folgen hat. So können psychische Belastungsreaktionen der Menschen als normale Reaktion auf krankmachende Verhältnisse verstanden werden. Statt Angst und Traumata allein durchzustehen, kämpfen die Aktivist:innen für die Schaffung sicherer Räume an unsicheren Orten. Um die politischen Ursachen angreifen und verändern zu können, sind auch und künstlerische Ausdrucks- und Protestformen Teil der psychosozialen Arbeit: Nicht zuletzt geht es darum, angesichts der anhaltend schockierenden Realität Stimme, Sprache und Handlungsfähigkeit wiederzufinden. Das versuchen auch die medico-Partner:innen in Nicaragua. Bis heute leiten die befreiungspsychologischen Grundsätze ihre psychosoziale Arbeit.

Ein politisches Realitätsprinzip

Wie weit der designierte Bundeskanzler das Spiel mit der Lüge, den Populismus und den Angriff auf hart erkämpfte demokratische Errungenschaften weitertreiben wird? Wie viele Stimmen die Rechten bei der nächsten Wahl bekommen werden? Ob die geistigen Brandstifter des demokratischen Spektrums die Reste der sogenannten Brandmauer am Ende selbst abfackeln? Auch auf tausende Kilometer Distanz macht es atemlos oder apathisch, jede groteske Entgleisung verstehen, alle Angriffe auf die Asyl- und Grundrechte nachvollziehen oder eine Erwiderung auf jede populistische Lüge finden zu wollen. Und wie geht es eigentlich mit den Entwicklungen in den USA, der Militarisierung und der Klimakrise weiter?

Zwar liefert der Blick in die geographische Ferne keine Patentrezepte für die politischen Krisen in Deutschland. Doch haben politische Bewegungen und Aktivist:innen in den sich verändernden Gewaltverhältnissen der letzten Jahrzehnte immer wieder kluge Analysen und kreative Wege erarbeitet, um Angst und Unsicherheit zu politisieren und daraus gar widerständige Praxen zu entwickeln. Marie Langers politisches Verständnis des psychoanalytischen Realitätsprinzips steht dafür sinnbildlich: niemals als Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse, sondern immer als innere wie äußere Auflehnung gegen bestehendes Unrecht und Ungleichheit.

Gemeinsam mit Partnerorganisationen in Mexiko, Guatemala und Nicaragua baut medico seit zwei Jahren ein transnationales Netzwerk zur psychosozialen Begleitung von Exilierten und intern Vertriebenen auf. Kern des Projektes ist es, Menschen im Exil und intern Vertriebene zu stärken, damit sie weiter Teil politischer Kämpfe bleiben können. Nicht nur in Lateinamerika: Überall auf der Welt machen die Kämpfe von medico-Partner:innen im psychosozialen Bereich deutlich, wie wichtig es gerade unter politischem Druck ist, Räume offen zu halten, in denen auch Dissens besprechbar bleibt und das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Nicht zuletzt für einen gemeinsamen, politischen Umgang mit individuell erscheinenden emotionalen Belastungen.

Julia Manek

Julia Manek ist Psychologin und Humangeographin. In der Öffentlichkeitsarbeit von medico international ist sie als Referentin für psychosoziale Arbeit tätig.

Twitter: @ju_manek


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