Nicaragua

Von Liebe und Finsternis

27.11.2024   Lesezeit: 8 min  
#psychosoziales  #zentralamerika 

Anfang September schob das Ortega-Regime 135 politische Gefangene ins Exil ab. Zwei von ihnen berichten, wie die Diktatur fast ihre Familie zerstört hätte.

Von Jana Flörchinger und Moritz Krawinkel

Als Sofía und Jorge, die nicht wirklich so heißen, im April 2023 verhaftet wurden, war Nicaragua längst keine internationalen Schlagzeilen mehr wert. Die breite Protestbewegung, bei der Hunderttausende die Diktatur herausgefordert hatten, lag Jahre zurück. Seit der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2018 hat sich das Regime von Präsident Ortega und seiner Frau und Vize Rosario Murillo weiter gefestigt. Über 320 Tote, die Folter politischer Gefangener, die Flucht Hunderttausender ins Exil und das Verbot fast aller zivilgesellschaftlichen Organisationen haben Ortega-Murillo zwar international isoliert, aber bislang nicht ins Wanken gebracht.

Doch das Ausbleiben neuer Proteste und die heftige Repression, mit der die Schergen der Regierung gegen jede kritische Meinungsäußerung vorgingen, schreckten nicht alle. Jorge und eine Gruppe Gleichgesinnter verteilten im April 2023 Flugblätter, auf denen sie die Freilassung des damals inhaftierten Bischofs Rolando Álvarez forderten und die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen durch das Regime anprangerten. Kameras nahmen ihre Aktion auf, die Verhaftung folgte wenig später. Mit aller Gewalt hätten sie ihn aus dem Haus gezerrt, berichtet uns Jorge, als wir ihn, Sofía und ihre beiden Kinder in Guatemala-Stadt treffen. Die damals 2-jährige Tochter musste mitansehen, wie das Haus von vermummten und schwerbewaffneten Polizisten gestürmt und ihr Vater misshandelt wurde. Ihre zwei Jahre ältere Schwester fand bei ihrer Rückkehr nach Hause die aufgelöste Schwester und ihre Großeltern vor. Sofía wollte bei der Polizei in Erfahrung bringen, wohin ihr Mann gebracht worden war, am Tag darauf wurde auch sie festgenommen. Sie sollte Jorge erst 17 Monate später wiedersehen.

Der Widerstand

Jorge und Sofía stammen aus der 50.000-Einwohner:innen-Stadt Jinotega im Norden von Nicaragua, wo sie sich bei der Arbeit für eine Organisation kennengelernt hatten, die für die Rechte von Kindern und Frauen eintrat. Sofía in der Buchhaltung, Jorge in der Öffentlichkeitsarbeit. Beide seien in ihren Elternhäusern mit einem starken Gerechtigkeitsgefühl erzogen worden, berichten sie. Die Erfahrungen bei der Arbeit hätten sie weiter politisiert: Vergewaltiger, die auf freien Fuß gesetzt wurden, weil sie dem Regime nahestanden; Jugendliche, aus denen Erwachsene gemacht wurden, um sie als solche härter verurteilen zu können; die allgegenwärtige Straflosigkeit für Übergriffe der Polizei. Immer wieder habe ihre Organisation die staatliche Verantwortung in Fällen von Feminiziden angeprangert und gegen Menschenrechtsverletzungen protestiert. Schon 2015 hätte das erheblichen Druck zur Folge gehabt.

Die Institution wurde zurückhaltender, doch als 2018 der zivile Aufstand gegen das Regime losbrach und Scharfschützen die ersten Jugendlichen getötet hatten, wurde das organisationseigene Radio für die Berichterstattung über die Proteste und die Gewalt genutzt. Nachdem aus einem internen Meeting Informationen an die Sicherheitsbehörden gelangten und der Druck stieg, zog sich die Organisation zurück. Doch unter den Mitarbeitenden fand sich eine Gruppe, der sich auch Sofía und Jorge anschlossen, um sich aktivistisch gegen das Regime zu betätigen. Luftballons in den nicaraguanischen Nationalfarben hätten sie in den Straßen fliegen lassen, Flyer verteilt und Plakate geklebt. 2021 sei er dann entlassen worden, berichtet Jorge. Damals hätten sie gegen die Präsidentschaftswahlen protestiert, die nur als Farce zu bezeichnen seien. Ortega wurde offiziell mit 75 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Irgendjemand hätte ein paar Namen genannt und um die Organisation zu schützen, habe man ihn und weitere Mitstreiter:innen entlassen. Genützt hat es der Institution nicht, sie ist eine von inzwischen gut 5000 Nichtregierungsorganisationen, die in den vergangenen Jahren vom Regime geschlossen wurden.

Mit nur noch einem Einkommen setzten Sofía und Jorge ihre Aktionen fort. Sie gründeten ein Internet-Radio, thematisierten indigene Rechte und prangerten sexualisierte Gewalt und Menschenrechtsverletzungen an. Nicht zu offensiv und nie direkt gegen das Regime, sagen sie. Pläne, ins Exil zu gehen, hätten sie zu Beginn des Jahres 2023 gehabt, sich dann aber doch entschieden, vorerst zu bleiben. Mit fatalen Folgen.

Das Gefängnis

Die ersten Wochen der Haft beschreiben Jorge und Sofía als eine Zeit voller Angst und Unsicherheit. Sie wussten nichts voneinander, doch ihre größte Sorge teilten sie: Was passiert mit den Kindern? Sofía erzählt unter Tränen, ihr sei von Wärterinnen gesagt worden, es könne gut sein, dass ihre Kinder in staatliche Obhut kämen. Was eine ehrliche Aussage sein kann, wirkt als psychische Folter: Wir können uns auch deine Kinder holen. Erst zwei Wochen später hatten beide die Gewissheit, dass die Kinder sicher bei den Großeltern sind. Erst viel später erfuhren sie von ihren psychischen und körperlichen Reaktionen auf die Verhaftungen. Die Jüngste entwickelte tagelanges Fieber, die Große sprach nicht.

Jorge berichtet uns, dass ihm in den ersten beiden Wochen der Haft immer wieder damit gedroht worden sei, dass auch seine Frau verhaftet würde. Dass sie längst im Gefängnis war, habe er nicht gewusst. Die Ungewissheit, die Sorge um die Liebsten – Foltermethoden eines grausamen Regimes. Neun Monate seiner Haftzeit hat Jorge in Isolation verbracht. Zwei Mal die Woche durfte er aus seiner kleinen Zelle in einen Hof, kaum größer, überdacht und ohne Sonne. Sofía war zwar nicht allein, besser erging es ihr aber nicht. Lange musste sie dafür kämpfen, überhaupt eine Liege in die Zelle zu bekommen. Was sie schließlich bekam war voller Ungeziefer. Wahrscheinlich löste ein Tier, das ihr ins Ohr krabbelte, die Infektion aus, die Ohr und Backe tagelang anschwellen ließen. So stark, dass sie den Mund nicht habe schließen und nichts essen können. Versorgt wurde die Infektion erst, als sich eine Wärterin für sie einsetzte. Sofía und Jorge beschreiben die absolute Willkür, der sie ausgeliefert waren, die Abhängigkeit von den Wärter:innen. Konnte man ihnen trauen, nutzten sie ihre Macht aus?

Die Freilassung

Ende August 2024 nahm Jorge eine Veränderung der Abläufe wahr, endlich durfte er auf einen offenen Hof, sah die Sonne. Da habe er gedacht, etwas passiert, sagt er. Doch am 4. September ging dann alles ganz schnell. Zusammen mit 133 weiteren politischen Gefangenen wurden Jorge und Sofía nach Guatemala abgeschoben. Völlig überraschend sei das für sie gewesen, sagt Sofía. Abends sei sie aus ihrer Zelle geholt, eingekleidet und von einem Raum in den nächsten gebracht worden, bis sie schließlich in einem Bus zum Flughafen saß. Von weitem habe sie Jorge gesehen, doch erst am Gate hätten sie sich endlich in die Arme schließen können. Sie waren frei – aber ihr Land mussten sie verlassen und dürfen nicht mehr zurückkehren. Der Aktion vorausgegangen waren Verhandlungen zwischen den USA und Nicaragua, um insbesondere eine Gruppe US-amerikanischer Geistlicher freizubekommen. Was das Regime in Managua im Gegenzug für die Freilassung der Menschen bekommen hat, ist unklar. Sicher ist, dass allen nicaraguanischen Abgeschobenen ihre Staatsbürgerschaft entzogen wurde, alle Einträge in staatliche Register gelöscht, Titel und Diplome annulliert wurden und all ihr Eigentum an den Staat fällt. Ein Neuanfang mit nichts.

Spanien hat den nun Staatenlosen die Staatsbürgerschaft angeboten, die USA versprachen beschleunigte Asylverfahren und eine Starthilfe. Eine Entscheidung, die viele überfordert, berichten uns Kolleg:innen von der medico-Partnerorganisation ECAP in Guatemala, die seit Jahrzehnten Opfer von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen mit psychosozialer Hilfe begleitet. Spanien sei weit weg, vom dortigen Gesundheitssystem wisse kaum jemand etwas und weil viele Nicaraguaner:innen Angehörige in den USA haben, sei dies oft die erste Wahl. Auch Jorge und Sofía haben den Asylantrag in den USA gestellt. Sie sagen, es scheine bei ihnen schneller zu gehen als bei den Venezolaner:innen, Salvadorianer:innen und anderen, die sie vor den Interviews treffen. Aber einen Zeithorizont haben sie nicht.

Die Wiedervereinigung

Unmittelbar nach der Ankunft in Guatemala hätten sie endlich auch ihre Kinder das erste Mal aus der Freiheit anrufen können, berichten Sofía und Jorge. Und dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu sich holen zu können. Schließlich seien die Großeltern mit den Mädchen über die „grüne“ Grenze ausgereist – um Kontrollen zu vermeiden und um zu verhindern, eventuell an der Aus- oder Wiedereinreise gehindert zu werden. In Guatemala wurden Eltern und Töchter endlich wieder vereint, eine kaum fassbare Erleichterung. Einfach ist die Situation aber nicht nach anderthalb Jahren Trennung, traumatisiert, zu viert in einem Hotel, in dem die UN sie untergebracht hat und in einer ungewohnten Umgebung, ohne Freundinnen von Zuhause und das gewohnte soziale Netz. Allein hätten sie sich dennoch nie gefühlt, sagen Jorge und Sofía. Betreut werden sie von medico-Partnerorganisationen, unter ihnen ECAP, mit denen medico seit zwei Jahren ein transnationales Netzwerk zur psychosozialen Begleitung von Exilierten und intern Vertriebenen aufbaut. Die Betreuung der abgeschobenen politischen Gefangenen aus Nicaragua ist die erste Bewährungsprobe des Projekts.

Um sich auf die neue Familiensituation einzustellen und langsam anzufangen, die Erfahrungen im Gefängnis zu verarbeiten, sei die Betreuung enorm wichtig, sagen Sofía und Jorge. Die Töchter bekommen psychologische Unterstützung, um mit dem Erlebten umzugehen. Doch neben den psychischen Auswirkungen hat die Haft auch deutliche körperliche Spuren hinterlassen. Die Folgen der Mangelernährung für die Zähne, die Infektion im Ohr, Rückenschmerzen und andere Leiden werden noch lange spürbar sein. Mit gut der Hälfte der Abgeschobenen haben sie deshalb eine Koordination gegründet, um sich gegenseitig zu unterstützen und an verschiedene Türen zu klopfen, um die Versorgung mit Medikamenten und die ärztliche Behandlung zu verbessern.

Zum Ende des Gesprächs überrascht uns der Optimismus, den Sofía und Jorge trotz allem ausstrahlen. Keine Diktatur halte sich ewig, sagen sie. Es brauche ja nur ein Minimum an demokratischen Freiheiten, um für ein anderes Nicaragua werben zu können. Ein Nicaragua, das keine Familien zerstört.

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Jana Flörchinger

Jana Flörchinger ist Referentin für Mexiko und Zentralamerika in der Abteilung für transnationale Kooperation bei medico international.

Twitter: @jj_floerch

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist er in der Redaktion tätig und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr


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