Das Interview

Anwalt ohne Parkplatz

In Den Haag geht es aktuell nicht nur um russische Kriegsverbrechen: Michael Sfard über Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs in den besetzten palästinensischen Gebieten.

medico: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat im Februar 2021 erklärt, dass sich seine Gerichtsbarkeit auch auf das Westjordanland, den Gazastreifen und Ostjerusalem erstreckt. Damit hat das Gericht den Weg frei gemacht für die Aufnahme einer formalen Untersuchung dort potenziell begangener Kriegsverbrechen. Was bedeutete diese Entscheidung und was ist seitdem passiert?

Michael Sfard: Die Entscheidung hat den Weg dafür frei gemacht, Verbrechen am IStGH zu verhandeln, die in den palästinensischen Autonomiegebieten begangen wurden. Es ging um die Frage, ob Palästina ein Staat nach internationalem Recht ist, und das Gericht entschied mehrheitlich, dass es sich im Sinne des Gerichts um einen Staat handelt. Der aktuelle Stand der Ermittlungen ist allerdings nicht öffentlich. Klar ist, dass die mittlerweile abgelöste Anklägerin eine Voruntersuchung angestellt hatte, die sich bezüglich israelischer Verbrechen auf drei Fälle erstreckt, die aber – wie sie damals sagte – nur Beispiele seien. Dies sind erstens der Einsatz tödlicher Waffen gegen Demonstrant:innen im Gazastreifen beim Marsch der Rückkehr seit März 2018, zweitens die Siedlungspolitik und drittens die Bombardierung ziviler Ziele während des Gaza-Krieges 2014.

Es kann sein, dass der jetzige Ankläger weitere Untersuchungen veranlasst hat und dass vielleicht sogar Untersuchungen wegen des Verbrechens der Apartheid begonnen werden. Im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts sind jedenfalls Kriegsverbrechen begangen worden. Das Gericht untersucht auch palästinensische Verbrechen, z. B. den Abschuss von Raketen auf israelische Zivilist:innen von Gaza aus, die Selbstmordattentate und Folter in palästinensischen Gefängnissen.

Lassen Sie uns über den Apartheid-Begriff sprechen, und zwar nicht als politischen Kampfbegriff, sondern als juristische Kategorie. Sie selbst haben bereits 2020 in einem ausführlichen Bericht von Apartheid in Bezug auf das israelische Kontrollregime in der Westbank gesprochen. Worin besteht die Grundlage dieser Argumentation?

Es gibt zwei gültige Definitionen im völkerrechtlichen Sinne: Einerseits die von der UN-Vollversammlung 1973 verabschiedete „Internationale Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid“. Sie richtete sich gegen die Apartheid in Südafrika. Und dann gibt es andererseits die Apartheid-Definition des IStGH, die Apartheid als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit fasst. Diese breitere Definition bezieht sich auf das System der Apartheid und ähnelt der Definition von Folter – in dem Sinne: Folter ist das Quälen von Menschen im Namen des Staates, vollzogen von staatlichem Personal. Wenn ich als Privatperson jemanden quäle, ist das ein Verbrechen, aber keine Folter im völkerrechtlichen Sinne. Dasselbe gilt für Apartheid.

Als Apartheid bezeichnet der IStGH einen Vorgang im Rahmen eines Regierungssystems, in dem eine Gruppe von Menschen eine andere systematisch beherrscht und unterdrückt mit der Intention, dieses Unterdrückungssystem aufrechtzuerhalten. Wenn eine herrschende Gruppe Rechte und Ressourcen besitzt, während die andere daran gehindert wird, diese Rechte und Ressourcen zu erhalten, und wenn das nicht nur zeitweilig ist, sondern dauerhaft gedacht ist, dann handelt es sich laut dieser Definition um ein Apartheidregime.

Und diese Realität ist Ihrer Ansicht nach in den besetzten Gebieten gegeben?

Seit 25 Jahren vertrete ich palästinensische Organisationen und Einzelpersonen vor Gericht, die um ihre Rechte gebracht wurden, während die benachbarten israelischen Siedler:innen mit Rechten ausgestattet sind. Alle meine Anwaltskolleg:innen auf der ganzen Welt haben Parkplätze für ihre Klient:innen. Ich habe keine. Warum? Meine Klient:innen können nicht hierher nach Tel Aviv kommen, ich muss zu ihnen fahren. Ich kenne deshalb Ostjerusalem, die Westbank und auch Gaza seit vielen Jahren.

Irgendwann wurde mir klar, dass das Paradigma der Besatzung eine zu enge Beschreibung für das war, was die Realität, die ich dort antraf, ausmacht. Der juristische Begriffsapparat ist nicht nur dafür da, Dinge zu regeln, sondern auch die Wirklichkeit in legalen Begriffen zu beschreiben. Und der Begriff Apartheid erklärt in diesem Sinne vieles von dem, was man in der Westbank und in den palästinensischen Dörfern sowie den Siedlungen antrifft. Besatzung ist als Begriff hilfreich, er reicht aber nicht aus.

Doch diese Terminologie ist alles andere als unumstritten…

Das stimmt, und auch ich war lange Zeit skeptisch. Apartheid ist ein rechtlich relevanter Begriff, er hat eine große Bedeutung und man möchte ihn lieber nicht verwenden, schon gar nicht inflationär. Schon vor 20 Jahren bin ich diesem Begriff zur Beschreibung der israelischen Dominanz über die Palästnenser:innen begegnet, als die Mauer errichtet wurde und manche sie als die „Apartheidmauer“ bezeichneten. Ich war damals ganz und gar gegen diesen Begriff, weil ich es für gefährlich hielt, ihn zur Skandalisierung zu verwenden und ihn damit billig zu machen. Mein Einwand damals war: Nicht jeder Mord ist ein Genozid und nicht jede Diskriminierung ist Apartheid.

Nun ist es allerdings so, dass es in der jüngeren Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg viele Besatzungen gab, aber sehr wenige, in denen der Besatzer ein kolonisierendes Siedlungsprojekt betrieb. Selbst das würde jedoch noch nicht ausreichen, um von Apartheid zu sprechen. Es muss auch nachgewiesen werden, dass eine Intention vorliegt, dieses Projekt dauerhaft aufrechtzuerhalten. Israel hat all die Jahre über behauptet, dass es eine solche Intention nicht verfolge, und hat auf den Friedensprozess verwiesen, obwohl vollkommen offensichtlich ist, dass die eine Gruppe auf Kosten der anderen Gruppe Rechte und Ressourcen erhält.

Es hat einen Friedensprozess gegeben, der in der internationalen Politik immer noch als gültig gilt. Ist das kein Argument, das zählt?

Man muss auf die Taten der israelischen Regierung schauen. Sie sprechen alle dafür, dass sie das System der Unterdrückung verlängern und aufrechterhalten will. Wenn man beispielsweise immer weiter Siedlungen baut, dann sagt man: Ich bin hier, um zu bleiben. In den internationalen Beziehungen zählen allerdings Worte oft mehr als Taten. Solange die israelische Regierung behauptet, dass sie den israelisch-palästinensischen Konflikt über Verhandlungen und Konsens lösen will, akzeptiert sie formal, dass es keine unilaterale Lösung und keine Annexionen geben darf. Man darf allerdings nicht vergessen, dass sie anders als der Rest der Welt von umstrittenen und nicht von besetzten Gebieten spricht. 2017 hat sich die Kluft zwischen Worten und Taten allerdings geschlossen. Mit dem Machtantritt von Trump in den USA outete sich die israelische Regierung als die bis dato rechteste der Geschichte. Nun lief die offizielle Politik auf die unilaterale Annexion bestimmter Gebiete hinaus.

Es gibt israelische Stimmen, die bezüglich der Menschenrechtsarbeit von „Terrorismus in Anzügen“ sprechen, die also Versuche, israelische Täter:innen anzuklagen, als Terrorismus bezeichnen. Wie sieht die Antwort der israelischen Regierung auf die Bemühungen beim IStGH und anderswo aus?

Das Team der Ankläger:innen im IStGH besteht aus hochprofessionellen Juristinnen und Juristen. Aber sie brauchen für eine haltbare Anklage gute und professionelle Kontakte zu den Opfern, zu den Augenzeug:innen und zu den Beweisen. Nur palästinensische Organisationen können ihnen eine Art Roadmap der Ereignisse zeichnen. Die Gegenstrategie besteht darin, die Untersuchungen des Gerichtshofes zu behindern und ins Leere laufen zu lassen. Dazu gehört auch, die Zusammenarbeit mit dem IStGH zu kriminalisieren. Wir werden wohl bald erleben, dass die Knesset einem Antrag zustimmt, der Israelis kriminalisiert, die mit ihm kooperieren.

Das Zweite ist die Einstufung palästinensischer Organisationen als terroristisch, was zum Beispiel die Menschenrechtsorganisation Al-Haq schon betrifft. Die palästinensischen Organisationen sind sehr wichtige Kooperationspartnerinnen des IStGH. Das Ziel der israelischen Politik ist es, sie zu schließen. Mit deren Einstufung als terroristische Organisationen sollte erreicht werden, dass sie keine Gelder aus dem Ausland mehr bekommen. Das war durchaus erfolgreich. Viele europäische Länder haben ihre Unterstützung für die betroffenen palästinensischen Organisationen eingefroren.

Sie vertreten Al-Haq anwaltlich und wurden dafür auch attackiert…

Ich habe Rechtsmittel gegen die Einstufung von Al-Haq beim Innenministerium eingelegt. Drei Tage vor der Anhörung bekam ich die Mitteilung eines Rechtsvertreters des Innenministeriums, dass ich eine Straftat begehe, wenn ich ein Honorar von Al-Haq für diese rechtsanwaltliche Tätigkeit nähme. Das wäre „Transaktion von terroristischem Eigentum“ und könne mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft werden. Auch umsonst könne ich nicht für Al-Haq arbeiten, weil das eine Spende an eine terroristische Organisation darstellen würde. Er wies mich darauf hin, dass ich eine Erlaubnis bräuchte, und zwar von ihm. Das habe ich verweigert. Jetzt liegt die ganze Angelegenheit auf Eis.

Israel lehnt den IStGH ab. Für viele Palästinenser:innen dauert das Verfahren viel zu lang. Ist der IStGH in der Sache wirklich hilfreich?

Ich halte den IStGH für einen wirklichen Joker. Es ist richtig, dass die Chancen, israelische Verantwortliche vor dem Gerichtshof in Den Haag zu sehen, nicht sehr aussichtsreich sind. Aber er könnte eine Schlüsselrolle spielen, um das Kräfteverhältnis in diesem Konflikt zu verändern. Es gibt zwei Parteien. Die eine ist eine militärische Supermacht und die andere ein Nobody. Israel ist militärisch, ökonomisch und politisch vollkommen überlegen. Das internationale Recht ist hingegen das Werkzeug der Unterdrückten und Schwachen. Aber richtig ist auch: Auf der Prozessliste des IStGH stehen fast nur afrikanische Straftäter. Die afrikanischen Regierungen kritisieren nicht zu Unrecht, dass sie der Schaffung eines weltweiten Gerichts zugestimmt haben, aber dann ein Gericht bekommen haben, in dem der weiße Norden wieder einmal den Süden sanktioniert. Der Gerichtshof muss jetzt beweisen, dass seine Standards weltweit und für alle gelten.

Seit Wochen protestieren Hunderttausende Israelis gegen die Regierung und ihre Versuche, die Justiz zu entmachten. Sehen die Protestierenden Verbindungen zur Besatzung?

Der entscheidende Grund, warum die israelische Rechte den Obersten Gerichtshof schwächen will, besteht darin, freiere Hand in Palästina zu haben. Die israelische Justiz ist eine der wichtigsten Komplizen der Besatzung. Trotzdem legt sie der Politik Zügel an und verlangsamt den Prozess. Wir haben aber eine neue Generation von Siedler:innen, die sich nicht mehr auf solche langwierigen Auseinandersetzungen einlassen wollen. Sie möchten alles sofort haben. Sie wollen palästinensisches Land enteignen und den Palästinenser:innen sofort die Felder wegnehmen. Die Siedler:innen begehen eine Art von Vatermord, denn der Oberste Gerichtshof hat das Siedlungsprojekt mit vorangetrieben.

Was ist der Ausblick?

Ich glaube, dass die Massenproteste in Israel sehr bedeutsam sind. Wenn die israelische Regierung scheitert, also die parlamentarische Einschränkung des Obersten Gerichtshofes nicht durchkommt, verändert das viel. Die israelische Öffentlichkeit ist bezüglich des Verständnisses von Demokratie systematisch verdummt worden. Die letzten Wochen haben den Israelis eine Menge ziviler Lektionen verpasst. Jedes Baby weiß nun, dass Demokratie nicht einfach die Regierung der Mehrheit ist, sondern dass bestimmte Werte und Verfahren der Gewaltenteilung unbedingt dazugehören. Ich glaube, dass Veränderungen möglich sind, wenn Risse, die unter der Oberfläche verborgen waren, sichtbar werden. Und genau das geschieht gerade in Israel – mit offenem Ausgang.

Das Gespräch führten Mario Neumann und Katja Maurer.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 28. Juni 2023

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