Zeit des Aufstands

Ostafrika: Der sudanesischbritische Schriftsteller Jamal Mahjoub über das westliche Bild des Hungers, somalische Piraten, die Rolle der Hilfe und den Terror der Ökonomie

Jamal Mahjoub ist ein Kosmopolit, der die erste Hälfte seines Lebens zwischen dem Sudan und Großbritannien verbrachte und in seinen Romanen immer wieder beschreibt, wie Kulturen aufeinanderprallen. Heute wohnt er in Barcelona und kam nach Frankfurt, um den von medico mitinitiierten Aufruf „Rechte statt Mitleid“ vorzustellen, mit dem afrikanische und europäische Autoren die Beseitigung der strukturellen Ursachen der ostafrikanischen Hungerkatastrophe einfordern.

Der große Hunger in Äthiopien liegt 20 Jahre zurück. Was empfanden Sie, als sie jetzt die ersten Fernsehbilder der aktuellen Not in Ostafrika sahen?

Jamal: Damals schrieb ich meinen ersten Roman, lebte in London und hatte das Gefühl überhaupt den gesamten Sudan erklären zu müssen, bevor ich meine Geschichte beginnen kann, in der ein junger Mann aus England in den Sudan, das Land seines Vaters, reist und sich in einem Bürgerkrieg wiederfindet. Es war die Zeit der großen Hungersnot und die britischen Medien berichteten breit darüber. Bob Geldorf initiierte die Band Aid-Bewegung und einen Sommer später folgte das globale Live Aid-Konzert. Auf einmal sollten wir alle Afrika vor dem Hungertod bewahren, nur die Afrikaner selbst wurden dabei in passive Opfer ohne jede Stimme verwandelt. Heute, 20 Jahre später, sind viele Dinge gleich geblieben. Noch immer werden die Ursachen von Hunger und Bürgerkriegen als unergründliche Mysterien betrachtet, die ihre Ursachen in tribalen und ethnischen Strukturen haben, die man weder erklären noch begreifen kann.

Die Hungersnot in Ostafrika war eine angekündigte Katastrophe und kein Erdbeben. Die Warnsysteme der UN funktionierten, die Signale wollte aber niemand hören. Auch die Verbindung zwischen der Spekulation auf Nahrungsmittel, als einer Folge der Finanzkrise von 2008, und der Liberalisierung der Finanzmärkte war bekannt.

Ja sicher, die Verbindung wird heute hergestellt, aber für die Mehrheit der Menschen, die spenden oder gebeten werden zu spenden, hat sich der Kontext nicht wesentlich verändert. Es gibt zwar seit der Finanzkrise eine wachsende Aufmerksamkeit für die ökonomischen Zusammenhänge und mehr und mehr Menschen ahnen, dass wir nicht immer über alle Hintergründe, die zu Hunger und Elend führen, informiert werden, aber viele Hilfsorganisationen appellieren dennoch nur ans Gewissen und bitten um Spenden für die armen leidenden Kinder. Es gibt nur wenig Verständnis davon, wie das Geld eigentlich eingesetzt werden kann und welche Spende wirklich hilft.

Aber was können wir tatsächlich tun, wenn die Regierungen nicht willens sind die Börsengesetze zu verschärfen und damit den Tod Tausender billigend in Kauf nehmen? Die Presse berichtet offen über die Zusammenhänge, aber nichts geschieht.

Das Problem ist ein vollkommen dereguliertes kapitalistisches System. Die Wirtschaft ist liberalisierter als je zuvor und fast alle Regierungen und maßgeblichen Politiker agieren in der Logik der Banken und Finanzmärkte. Die Spekulation auf Nahrungsmittel als ein Weg Geld zu verdienen, treibt Millionen von Menschen weltweit in den Hunger, weil sie ihre Familien nicht mehr ernähren können. In den letzten zwei Dekaden erlebten wir im Norden den Abbau von Regierungsverantwortlichkeiten und den Machtzuwachs der Märkte. Die Ökonomie diktiert alles. Betrachten wir aber die Situation aus dem Blickwinkel des Südens, so gilt in vielen Fragen weiterhin das Primat der Politik. Selbst die Möglichkeit des Aufstandes - wie er aktuell z.B. in der arabischen Welt stattfindet - ist zurückgekommen. Die Menschen suchen nach Wegen, wie eine Gesellschaft durch politische Mittel transformiert werden kann.

Sie nennen Somalia einen künstlich geschaffenen „Nicht-Ort“. Was meinen Sie damit?

Somalia ist ein interessantes Beispiel dafür, wie der Kalte Krieg an seinem Ende eine Art Ödland hinterließ. Jahrzehntelang wurde es von einem ruchlosen Diktator regiert, der die Unterstützung des Westens genoss. Nachdem ihr Mann Geschichte war, versuchten die Amerikaner weiter ihren Einfluss zu behalten. Sie scheiterten mit einer militärischen Intervention, die sie humanitär begründeten, und hinterließen 1993 das Fiasko der Operation Restore Hope. Das gegenwärtige Bild Somalias ist das der Piraten, die die Ungerechtigkeit anklagen, wenn auch mit gewalttätigen Mitteln. Somalische Fischer verlieren ihr Einkommen, da die Gewässer durch europäische und japanische Fischerboote leer gefischt werden. Gleichzeitig fahren große Containerschiffe vorbei und haben Güter im Wert von Millionen Dollar an Bord. Diese Boote sind wie ein lockendes Symbol: Das Geld segelt vor den Augen der arbeitslosen Fischer, sie sehen es nicht, sie bekommen es nicht zu fassen, es fährt einfach vorbei. Und dann werden aus Fischern genau diese Männer, die aufstehen, rausgehen und das Geld zurückholen. Sie sind ein Beispiel für unsere wechselseitigen Abhängigkeiten in der heutigen Welt. Wenn wir billigen Fisch essen wollen, der am Horn von Afrika gefangen wurde, müssen wir verstehen, dass wir das so erzeugte Elend mitessen. Somalia ist ein Druckpunkt auf das zentrale Nervensystem, das Afrika und Europa verbindet. Wir sollten versuchen diese Zusammenhänge zu verstehen und nicht allein die Gesetzlosen bekämpfen.

In Afrika gibt es immer mehr Leute, die eine Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit fordern. Sie sagen, lasst uns alleine und wir helfen uns selbst.

Ja, genau und dagegen kann man nicht gut argumentieren. Es geht aber eigentlich um die Frage: Was wurde mit dem Geld tatsächlich erreicht und was passiert danach? Entwicklungsorganisationen und Geber operieren wie eine regelrechte Industrie, inklusive entsprechender politischer Macht. Wir müssen die Hilfe neu erfinden. Die einzige Weise das zu tun, ist es, neue Wege zu bestreiten und dabei aufzuzeigen: So stärken wir Euch, so bringen wir afrikanische Produkte auf den Markt. Den Menschen muss gestattet werden, ihren eigenen Fisch zu verkaufen, ihre Shrimps selbst aus dem Wasser zu holen, anstatt dass sie von spanischen Schiffen gefischt werden. In Sudan und Äthiopien wurden riesige Landflächen mit dem Versprechen verpachtet, dass 10 % der Erträge lokal investiert werden. Aber viele dieser Abkommen haben keine Nachhaltigkeit sowie keine überprüfbaren Klauseln und führen in der Folge zu neuen Konflikten. Oft werden die Menschen einfach enteignet oder die Verträge werden mit einem Kriegsherrn geschlossen, wie im südlichen Sudan. Die Regierungen geben die Verantwortung ab. Die Lebensmittel werden aus Hungerländern exportiert, als billige Alternative für den Weltmarkt. Mit der Spekulation auf Lebensmittel kauft sich das Modell des liberalen Marktes selbst.

Kann die Finanzkrise als die Krise der Demokratie oder als Krise des westlichen Marktmodells gesehen werden?

Gestern besuchten wir das Protestcamp vor der Europäischen Zentralbank. Wir sehen gegenwärtig diese Proteste überall in Europa und in Nordamerika. Die Menschen demonstrieren und besetzen die öffentlichen Plätze. Sie fragen nach Gerechtigkeit, und ich meine: nach sozialer Gerechtigkeit. Es ist eine Forderung, die alle vereint, von Kairo bis Barcelona, New York und London. Die Idee breitet sich aus, dass diese absolute Unverantwortlichkeit seitens der Finanzwelt nicht länger annehmbar ist. Jetzt werden die Politiker aufgefordert für ihre jahrelang verweigerte Verantwortung geradezustehen. Das politische System wurde ein Sklave der Ökonomie. Die Protestierenden akzeptieren das nicht mehr. Die Menschen im Westen sahen, was im Nahen Osten passierte. Sie identifizierten sich mit den Protesten auf dem Tahrir-Platz und fragten sich, warum tun wir nichts? Wir erreichen jetzt den Punkt, an dem die Kluft zwischen Politik und den Bedürfnissen der Menschen dazu führen kann, dass - wie in London geschehen - die Gesellschaft auseinander bricht. Die Frage bleibt, was geschieht, wenn Politiker hierauf nicht reagieren können - was tun wir dann?

Interview: Anne Jung und Martin Glasenapp

Projektstichwort

Mit einem integrierten Nothilfeprojekt an der Grenze zu Somalia verbindet das People's Health Movement Kenya die Verteilung von Gütern zur Linderung der akuten Not mit der Bekämpfung der strukturellen Ursachen der Hungerkrise. Es sollen alternative sowie langfristige Lösungen gefunden werden und die Betroffenen in ihrer Auseinandersetzung um das Recht auf Gesundheit und Ernährung gegenüber den kenianischen Behörden unterstützt werden. Das Spendenstichwort lautet: Ostafrika.

Veröffentlicht am 01. Dezember 2011

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