Kenia

Wut und Rosen

Die Proteste in Kenia richten sich nicht nur gegen die Regierung. Sie sind auch ein Aufbegehren gegen die fortgesetzte Unterwerfung des Landes unter ausländische Interessen – und damit gegen Europa.

Von Radwa Khaled-Ibrahim

„Sie bewerfen sogar Schulen mit Tränengas.“ Wanjiras wuterfüllte Stimme hallt von Nairobi aus per Video-Call in den medico-Raum. Die Aktivistin sucht für einen Moment zuhause Schutz. Rund um die Uhr engagiert sie sich gerade im „Zentrum für soziale Gerechtigkeit“ in Mathare, einem der größten der zahlreichen Slums der kenianischen Hauptstadt. In diesen Tagen des Aufruhrs werden in dem Zentrum Verletzte versorgt, Aktionen organisiert und Polizeigewalt dokumentiert. Seit Wochen schon gehen die Menschen in den meisten Landkreisen Kenias und vor allem in den Städten auf die Straße. Die Proteste richten sich gegen explodierende Lebenshaltungskosten und angekündigte Steuererhöhungen. Die Regierung reagiert mit massiver Härte. Das Ausmaß des Aufbegehrens ist neu. Und es ist Ausdruck einer großen Enttäuschung. „Tumechoka“, rufen die Menschen, erzählt Wanjira, „wir sind müde“.

Zugespitzt hat sich die Lage bereits im Zuge der Präsidentschaftswahlen 2022. Bei diesen setzte sich mit hauchdünner Mehrheit William Ruto gegen den Oppositionschef Raila Odinga durch. Obwohl Ruto selbst mehrfach Minister und langjährig Vizepräsident gewesen war, hatte er einen Wahlkampf „gegen das Establishment“ geführt. Er inszenierte sich als „Hustler“: als ein jedermann, der sich wie so viele im Land durchschlagen muss, von einem Straßenjob zum nächsten, um irgendwie den Lebensunterhalt zusammenzubekommen. Vollmundig versprach Ruto, dass sich die Ökonomie künftig an den Bedürfnissen der einfachen Leute orientieren würde. Als „Anwalt der Armen“ würde er es mit IWF und Weltbank aufnehmen. Und er kündigte eine „Mumumbuga-Regierung“ an. Mumumbuga bedeutet Kioskverkäufer, das unterste Glied in der Kette, ein Super-Hustler. All das fand Zuspruch, in Kenia, aber auch in linken Strömungen anderer afrikanischer Länder.

Alles sollte anders werden. Alles wurde teurer

Ein Jahr später ist die Frustration groß. Seit Ruto im Amt ist, wurden staatliche Subventionen auf lebensnotwendige Güter wie Mais, Mehl und Treibstoff gestrichen. Kenia ist in eine Ernährungskrise gestürzt. Mehr als jede:r Dritte lebt mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze, viele leiden Hunger. Flankiert wird der Sozialabbau von einer noch repressiveren Sicherheitspolitik. Menschenrechtler:innen und Aktivist:innen sind einer permanenten Polizeipräsenz und immer wieder auch -gewalt ausgesetzt. Was vor Ort los ist, beschreibt Dan Owalla. Er ist für die medico-Partnerorganisation Sodeca aktiv und setzt sich seit vielen Jahren mit der staatlichen Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in den abgehängten Vierteln Nairobis auseinander. Er schreibt: „Sie haben es jetzt auf Aktivist:innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft abgesehen. Leute verschwinden oder werden getötet. Noch sind wir sicher. Aber die Verfolgung rückt immer näher.“

Rutos Gegenkandidat Raila Odinga, Angehöriger der zweitgrößten Bevölkerungsgruppe der Luos, versucht die kochende Wut zu nutzen. Schon unmittelbar nach der Wahl hatte er von Manipulation gesprochen. Und schon damals mobilisierte er gegen die Regierung Ruto. Als diese eine neue Steuer ankündigte, brachte das das Fass zu überlaufen. Neu ist, dass die Proteste quer durch die verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes verlaufen. Die Regierung hat die breite Gesellschaft gegen sich aufgebracht. Wie außergewöhnlich das für Kenia ist, betont auch Wanjira: „Das haben wir schon lange nicht mehr erlebt. Die Leute gehen einfach auf die Straße und organisieren sich selbst.“ Und sie macht deutlich, dass sich da mehr entzündet als eine Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung. „Als die US-Botschafterin das neue Finanzgesetz der Regierung als sehr gute Sache bezeichnete und sagte, dass die Amerikaner nun in Kenia Geschäfte machen können, haben wir gefragt: Wessen Interessen schützt die Regierung? Wir haben den Präsidenten gewählt, damit er die Interessen Kenias vertritt. Jetzt tut er es für den Westen.“ Worum es geht ist Kenias Platz in einer globalisierten Welt: um Fragen der Souveränität und einer nie verwirklichten postkolonialen Unabhängigkeit.

Kenia in der Welt, die Welt in Kenia

Bei einer Fahrt durch das Stadtzentrum von Nairobi wird schon an der Architektur deutlich, von welch multiplen Vorstellungen von Moderne das Land geprägt ist. Relikte der Baustile der vorkolonialen Zeit stehen neben Belle-Epoque-Häusern des europäischen Imperialismus, deutlich abgesetzt davon erinnern Gebäude einer ostafrikanischen Moderne an die Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre in Folge der Unabhängigkeit. Dazwischen sind in den vergangenen Jahrzehnten die Glastürme und Bürokomplexe des neoliberalen Kapitalismus hochgezogen worden. Die jeweiligen Architekturstile repräsentieren unterschiedliche ökonomische Vorstellungen: von den kolonialen Ausbeutungsverhältnissen zur regionalen Integration des Marktes bis zur Gig-Ökonomie. Die vergangenen Jahrzehnte sind geprägt von einem Entwicklungsmodell, das darauf setzt, Kenias Wirtschaft gegenüber dem Weltmarkt zu öffnen, staatliche Regulation abzubauen und Privatisierung voranzutreiben. Wie sehr die Behauptung, dies würde zum Wohle aller sein, getrogen hat, zeigt sich, sobald man das Stadtzentrum von Nairobi verlässt: Nahtlos geht die Stadt über in eine Landschaft von Slums, in denen die große Mehrheit lebt, jenseits von Wohlstand und abhängt von dem Versprechen auf Entwicklung.

Auch der kenianische Staat ist ausgehöhlt und durch seine hohe Verschuldung bei Weltbank und IWF extrem abhängig, Aufgrund der anhaltenden Haushaltsdefizite, die durch die wachsende Kreditaufnahme im Ausland und die steigenden Importe verursacht werden, ist Kenia zunehmend in eine Schuldenfalle geraten. Da der Zugang zu konzessionären Krediten eingeschränkt ist, werden kommerzielle Schulden zur Unterstützung des Staatshaushalts und zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten verwendet. Gleichzeitig steht das Land inzwischen bei China tief in der Kreide. Die asiatische Großmacht ist in den vergangenen Jahren zum neuen zentralen Player im Land geworden. Eines der chinesischen Megaprojekte ist die Lapset-Autobahn, die den Transport durch Ostafrika und damit den Handel auf eine neue Stufe heben soll. Was Entwicklung bringen soll, hat Kenia auf neue Weise abhängig gemacht: Um Schulden gegenüber China zu tilgen, musste das Land Kredite beim IWF aufnehmen. Diese sind wiederum an Bedingungen geknüpft. Auch das ist nicht neu.

Zur Marktöffnung genötigt

Seit den 1970er-Jahren haben Strukturanpassungsprogramme seitens des IWF und der Weltbank Kenia genötigt, Märkte zu öffnen und Zölle zum Schutz der heimischen Produktion abzubauen. Seit den 2000er-Jahren sind neue Instrumentarien hinzugekommen: binationale Handels- und Entwicklungsabkommen. So hat die EU Kenia wie viele andere Staaten in Afrika sowie im karibischen und pazifischen Raum auch zur Unterzeichnung sogenannter Economic Partnership Agreements (EPA) gedrängt. Als Kenia sich zunächst weigerte, das Abkommen zu unterschreiben, unterband die EU Einfuhren – eine Form neokolonialer Erpressung. Seither ist auch Kenia gezwungen, seine Märkte für alle Einfuhren aus Europa weiter zu öffnen und Einfuhrzölle einzufrieren oder abzubauen. Eine „Meistbegünstigungsklausel“ macht es zudem zur Pflicht, für EU-Produkte nur eben die Zölle zu erheben wie sie für andere Handelspartner gelten. Für Importe etwa aus dem Nachbarland Tansania dürfen die Zölle nicht niedriger sein. Das untergräbt systematisch die Entwicklung regionaler Märkte und setzt Betriebe vor Ort sowie die kleinbäuerliche Landwirtschaft unmittelbar der Konkurrenz durch europäische Produzenten aus. Die Abkommen gehen so weit, dass es Bäuer:innen in Kenia untersagt ist, Saatgut zu speichern und zu tauschen – was sie in die Abhängigkeit von transnationalen Saatgutunternehmen treibt. „Ausländische Investoren haben nach wie vor die Kontrolle über die Wirtschaft. Und die Regierung hat die lokalen Märkte Händlern und Investoren aus dem Ausland geöffnet und letztlich ausgeliefert“, sagt Wanjira

Nicht zuletzt infolge solcher Abkommen überfluten zum Beispiel stark subventionierte europäische Agrarüberschüsse den kenianischen Markt. Damit wurden Lebensmittel günstig wie nie. Mit den künstlich niedrigen Preisen konnten die heimischen Produkte nicht mithalten. Der Druck auf lokale Produzent:innen ist enorm. Immer weniger gelingt es, vor Ort Nahrungsmitteln für die Versorgung der eigenen Bevölkerung anzubauen. Das liegt auch daran, dass viele Ackerflächen an private Investor:innen verkauft oder verpachtet sind. Großunternehmen, die meisten in ausländischer Hand, bauen im großen Stil exportgeeignete Nutzpflanzen an. Der Export von Baumwolle, Bohnen, Blumen und Beeren bringt zwar nicht viele Devisen ein, aber eben doch mehr als die Selbstversorgung. Insofern tragen sie zum Bruttoinlandsprodukt bei, was der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zuträglich ist. Im Zuge dieser Entwicklungen verlieren aber immer mehr Kleinbäuer:innen ihrer eigenständige Existenz. Sie sind gezwungen, sich als billige Arbeitskräfte auf den Plantagen des internationalen Agrobusiness zu verdingen – sofern sich die industrialisierte Landwirtschaft ihrer nicht ganz entledigt. Die Wut wächst auch hier. So sind kürzlich mehrere Pflückmaschinen auf einer Teeplantage in Flammen aufgegangen. 

Nachdem die „Öffnung zum Weltmarkt“ zum Kollaps heimischer Produktionszweige wie der Textilindustrie und zum Ausverlauf der Landwirtschaft geführt hat, erfasst die Entwicklung nun den lokalen Handel. Exemplarisch dafür stehen die Proteste gegen den China-Square. Die Mega-Mall mitten in Nairobi lockt mit einem riesigen Sortiment von Produkten aller Art – Importe aus China, die die Preise auf den lokalen Märkten unterbieten. Im Zuge des Protests gegen die staatliche Unterstützung des China-Square demolierten Protestierende eine Einkaufsstraße. Passend zur Untergangsstimmung streuten sie danach Rosen.

Ukraine-Krieg verschärft Ernährungskrise

Wie sehr eine jahrzehntlange, als „Freihandel“ beschönigte Handelspolitik die Ernährungssouveränität Kenias untergraben hat, wird durch den Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf den globalen Handel deutlich. Kenia ist essentiell auf Getreidelieferungen angewiesen. Als die Lieferungen nach Beginn des Krieges stoppten und die Preise auf den Weltmärkten in die Höhe schossen, katapultierte das Kenia in eine schwere Ernährungskrise. Die zwischenzeitliche „Black-Sea-Grain-Initiative“ zwischen der Ukraine, Türkei, Russland und der UN wurde zur „Life-line“ für Kenia. Inzwischen ist das Abkommen ausgelaufen, Russland blockiert den Getreidehandel über das Schwarze Meer und zerstört sogar die Transportinfrastruktur. Wie es weitergeht, ist offen. Für ein Land wie Kenia ist diese Unsicherheit hochbedrohlich. Kenia zählt zu den Ländern, die von diesen Entwicklungen am stärksten betroffen sind.

Kurz bevor die Proteste im Juni begannen, hat Kenia mit der Europäischen Union ein neues Wirtschaftspartnerschaftsabkommen unterzeichnet. Dieses wird die bisherige Entwicklung zementieren. So wird Kenia 82,6 Prozent der EU-Importe über 15 Jahre weiter schrittweise liberalisieren. Exportieren wird Kenia vor allem landwirtschaftliche Produkte wie Gemüse, Obst, Kaffee, Tee und Schnittblumen. Edgar Odari, Geschäftsführer von Econews Africa, betont, dass das neue Abkommen Auswirkungen auf die ganze Region und die Bemühungen der East African Community (EAC) zur Förderung eines stärkeren ostafrikanischen Marktes torpediert. „Das Abkommen klingt wie das Totenglöckchen für die regionale wirtschaftliche Integration." Europa erleichterte mit dem Abkommen jedoch nicht nur den Absatz eigener Waren. Gleichzeitig sichert es sich auch den Zugriff auf Rohstoffe – Ausfuhrsteuern werden erschwert bis verboten – und verhindert damit auch, dass diese vor Ort im Zuge einer eigenständigen Wertschöpfung verarbeitet werden. „Ich möchte Sie einladen, in unserem Land zu investieren. Die Arbeitskraft ist nicht teuer.“ Das sagte Rigathi Gachagua, kenianischer Vizepräsident auf dem AviaDev Workshop in Namibia 2023, während in Nairobi Autoreifen brannten und die Gewalt eskalierte.

Es ist die Politik, die hinter solchen Worten steckt, die die Menschen in Kenia auf die Straße treibt. Wanjira sagt es so: „Wir müssen jetzt für uns selber kämpfen.“ Dann beendet sie das Gespräch. Sie will wieder hinaus, ins „Zentrum für soziale Gerechtigkeit“.

Sie können die Arbeit der medico-Partner:innen in den Slums von Nairobi mit einer Spende unterstützen. 

Veröffentlicht am 21. September 2023

Radwa Khaled-Ibrahim

Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico. Außerdem ist die feministische Politikwissenschaftlerin in der Spender:innenkommunikation tätig.


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