Kenia

Ein heikles Gleichgewicht

Steigende Lebensmittelpreise, drohender Hunger. Die Sorge um die sozio-ökonomischen Folgen der Coronaviruspandemie in Kenia wächst. Interview mit Dan Owalla von der NGO Sodeca.

Die Welternährungsorganisation warnt davor, dass die Auswirkungen der Pandemie gemeinsam mit den Heuschreckenschwärmen, die im Norden Kenias schlüpfen, die Ernährungsgrundlage vieler Menschen gefährden könnten.

medico: Dan, du arbeitest für Sodeca in Kenia und ihr setzt euch für die Verwirklichung der sozioökonomischen und kulturellen Rechte in Kenia ein. Ihr steht in engem Kontakt mit den ärmsten Menschen. Was sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Maßnahmen für die armen und verwundbarsten Menschen im Land?

Dan Owalla: Kenia erwartet einen Rückgang des prognostizierten Wachstums in 2020 von 6,2 Prozent auf 3,4 Prozent. Zu den am stärksten betroffenen Schlüsselsektoren gehören die Luftfahrt, das Gastgewerbe, der Tourismus und die Landwirtschaft. Der Exportsektor dürfte auch in Mitleidenschaft gezogen werden. Durch die Schließung der Grenzen wurde der Handel, einschließlich der kontinuierlichen Versorgung mit Grundnahrungsmitteln aus Uganda und Tansania, beeinträchtigt und teilweise unterbrochen.

In dieser Gemengelage ist nicht verwunderlich, dass diejenigen, die schon vor Corona die schlechtbezahltesten Jobs hatten, nun besonders von den sozialen Folgen der Pandemie betroffen sind: Die Beschäftigten im informellen Sektor und die Gelegenheitsarbeiter*innen und die Tagelöhner*innen im formellen Sektor. Und mehr als 80 % der Kenianer*innen sind im informellen Sektor beschäftigt, die Mehrheit von ihnen sind Frauen. Die sind es auch, die zusätzlich vom Anstieg der häuslichen und geschlechterspezifischen Gewalt betroffen sind.

Wie immer ist Armut das größte Gesundheitsrisiko: Die meisten Familien in einkommensschwachen Gebieten, informellen Siedlungen und abgelegenen Gegenden haben keinen Zugang zu grundlegender öffentlicher Versorgung wie Wasser und Hygiene, die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung ist gestört, die Preise für Grundnahrungsmittel steigen schleichend an, was sich sowohl auf die Lebenshaltungskosten als auch auf Gesundheit und Ernährung auswirkt. Kein Wunder, dass die Menschen sich mehr Sorgen darum zu machen, Essen auf den Tisch zu bringen als um COVID-19. Allgemein herrscht eine große Hoffnungslosigkeit.

Wenn es um das tägliche Überleben geht, dann kann man sich physical distancing schlicht nicht leisten…

Genau. Es gilt ein heikles Gleichgewicht zwischen der Eindämmung der Pandemie und der Kontinuität sozioökonomischer Aktivitäten zu halten. Wie soll Abstand halten in Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte funktionieren? In den Metropolen Nairobi und Mombasa sind die Gebiete mit niedrigem Einkommen sowie die Slums besonders von dieser schwierigen Situation betroffen, denn die Arbeit im informellen Sektor findet größtenteils auf der Straße statt.

Besonders für wirtschaftlich gefährdete Haushalte besteht ein höheres Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren - aufgrund der räumlichen Enge und des fehlenden Zugangs zur Grundversorgung. Die bisher durchgeführten Corona-Maßnahmen sind zwar isoliert betrachtet sinnvoll, haben jedoch die schwerwiegenderen Auswirkungen auf die einkommensschwächsten Haushalte in Kenia, die dringend Unterstützung benötigen, nicht genügend berücksichtigt.

Beobachtet ihr, dass es zu Spannungen kommt?

Die Ausgangssperre hat zu anhaltenden Zusammenstößen zwischen der Bevölkerung und der Polizei geführt. Wer sich ohne Maske  im öffentlichen Raum bewegt, wird kriminalisiert, ohne dass ausreichend Gesichtsmasken und anderen Hilfsgüter für die Armen und Arbeitslosen zur Verfügung stünden.

Die militärische Durchsetzung des lockdown ist ein immenses Problem. Die kenianische Polizei hat mindestens sechs Menschen getötet und viele weitere geschlagen und genötigt, während sie eine von der Dämmerung bis zum Morgengrauen geltende Ausgangssperre durchsetzt. Die zunehmende Brutalität der Polizei ist nicht nur widerrechtlich, sondern auch kontraproduktiv im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus.  

Welche Maßnahmen müsste die Regierung ergreifen, um die Bevölkerung besser zu schützen?

Die Haushaltsmittel müssen umgeschichtet werden, um für die arme Bevölkerung Sicherheitsnetze bereitzustellen. Es bedarf einer Politik, die die städtischen Ballungsgebiete entlastet, um sicherzustellen, dass die Gesellschaft inmitten von sozialen Distanzanforderungen und Reiseverboten weiterhin funktioniert. Investitionen in den Gesundheitssektor zur wirksamen Bekämpfung von Pandemien sind ebenfalls von entscheidender Bedeutung.

Als Menschenrechtsorganisation kritisiert ihr schon lange, dass der Zugang zu guter Gesundheitsversorgung nur wohlhabenden Kenianer*innen möglich ist. Inwiefern wurde diese Ungleichheit durch Corona verschärft?

Dan Owala: Der Ansatz zur Bekämpfung der Pandemie hat andere gesundheitliche Notfälle als Notfälle zweiter Klasse eingestuft. Schwangere Mütter, die während der Sperrstunde entbinden mussten, konnten nicht ins Krankenhaus gehen. Menschen mit chronischen Krankheiten haben große Schwierigkeiten beim Zugang zu medizinischer Versorgung in Gesundheitseinrichtungen.

Du kritisierst die Verwendung der Mittel aus dem Nothilfefonds der Weltbank. Was geht da schief?

Die Prioritäten bei der Budgetzuweisung wurden falsch gesetzt. Die unkoordinierte Anmietung von Krankenwagen, die unkoordinierte Zuteilung von Tee und Snacks und der Druck von Quarantäneformularen sind unnütz, solange die armen Kenianer*innen sich auf eigene Kosten in Quarantäne begeben müssen, sich auf eigene Kosten Masken kaufen müssen, gute Gesundheitsversorgung kostenpflichtig bleibt, sie ihre Jobs verlieren und auf eigene Kosten zu Hause zu bleiben. Das vergrößert die soziale Schere.

Warum gibt es eigentlich in einem reichen Land wie Kenia keine funktionierende Gesundheitsstruktur?

Die Förderung globaler Partnerschaften als Vehikel zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) untergräbt die Hauptverantwortung des Staates für die Gewährleistung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Gesundheit. Die vom Weltwirtschaftsforum geförderte Beteiligung des Unternehmenssektors an Multi-Stakeholder-Partnerschaften "auf gleichberechtigter Basis" mit Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen bietet die Möglichkeit, die Agenda im Bereich der öffentlichen Gesundheit unangemessen zu beeinflussen. Unternehmen können Partnerschaften entweder durch ihre Beteiligung an der Leitung von Partnerschaften oder durch ihre finanziellen Beiträge oder beides beeinflussen. Man muss klar sagen, dass der Rückgriff auf Multi-Stakeholder-Partnerschaften zur Erreichung der Ziele das Risiko bergen, die Profitgier der Unternehmen zu fördern.

Müsste da nicht die WHO als Regulativ eine Rolle spielen?

Das wäre sicher richtig, aber die WHO, die eine wichtige Institution zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von SDGs ist, leidet unter strukturellen Problemen, die ihre Anfälligkeit für den Einfluss von Unternehmen auf Kosten der öffentlichen Gesundheit und des öffentlichen Interesses erhöhen. Auch wenn der Rahmen für das Engagement von nichtstaatlichen Akteuren (FENSA - Framework of Engagement with Non-State Actors) einige Einschränkungen, insbesondere für den privaten Sektor vorsieht, gibt es bei der Umsetzung der FENSA durch das Sekretariat Tretminen. Daher sind explizite Schutzmaßnahmen und eine ständige wachsame Überwachung und Anwaltschaft gegen den Einfluss von Unternehmen notwendig.

Das Interview führte Anne Jung, Gesundheitsreferentin medico international
Übersetzung: Paul Richter

Dan Owalla ist Menschenrechtsaktivist und lebt in Nairobi. Er hat viele Jahre zu den außergerichtlichen Hinrichtungen der Polizei gearbeitet, um Druck für eine Polizeireform aufzubauen. Er ist der landesweite Koordinator des People’s Health Movement in Kenia, das sich für das Menschenrecht auf Gesundheit einsetzt. Seit 2020 arbeitet er für die NGO SODECA (Society of Development and Care), die sich für das Menschenrecht auf Gesundheit in marginalisierten Communities einsetzt.

Veröffentlicht am 25. Juni 2020

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