Nicaragua

Mehr als ein Aufstand

Die Proteste wurden gewaltsam beendet, aber der tiefe Bruch bleibt. Ein Interview mit Enrieth Martínez Palacios

Im Juni 2018 sprachen Sie davon, die Proteste stünden für etwas revolutionär Neues. Stehen Sie zu dieser Aussage im August immer noch?

Enrieth Martínez Palacios: Jenseits des unmittelbaren Rücktritts von Ortega haben die verschiedenen Protestgruppen auf eine Transformation des Landes gesetzt. Ihr zugrunde liegen die zivilgesellschaftlichen Forderungen in all ihrer Vielfalt. Diese Vielfalt an Forderungen und Kämpfen zeigte mir, dass es eine Revolution war, die aus einem langen Prozess auf der Suche nach strukturellem Wandel entstand.

Was verkörpert Ortega für die jüngeren Generationen?

Seit ich elf bin, sehe ich Ortega in den Medien. In meinem Gedächtnis haben sich er und später auch Rosario Murillo zu mythischen Figuren ver klärt. Ohne nun stellvertretend für meine ganze Generation sprechen zu können, so ist er für mich ein Monolith, eine Figur des 20. Jahrhunderts mit all den Erfolgen und Fehlern, die im Zuge der Wiederherstellung dieses Landes gemacht wurden. Für mich ist er aber auch derjenige, der die Geschichte monopolisierte, der sie parzellierte und patentierte, damit diese seiner diskursiven Linie entspricht, die weder zur Reflexion noch zum kritischen Denken einlädt. Daniel Ortega ist auch die Figur der institutionellen Zersetzung des Landes – die Instrumentalisierung einer romantisierten Geschichte, um den Pakt der Eliten zu verschleiern, der einer kapitalistischen, patriarchalen und kolonialen Logik folgt. Ortega, Murillo und ihre Familien repräsentierten ein Projekt, das sich wegen seines Caudillotums und seinem Autoritarismus auflöst. Zudem sind die sandinistischen Eliten Teil der ökonomischen Führungsspitze geworden, was den Bruch zwischen der Praxis und dem revolutionären Diskurs offenbart.

Ist Versöhnung möglich?

Nein. Und die Antwort entspringt nicht einem Wunsch nach Rache. An „Versöhnung“ zu denken ist unmöglich, weil wir unabhängige Untersuchungen einfordern, die zur Aufklärung der erfolgten Verbrechen beitragen sollen. Wir müssen starke und feste Institutionen schaffen, die verhindern, dass sich ein solches Ereignis wiederholt. Über eine Idee von „Versöhnung“ kann erst gesprochen werden, wenn zuvor ein Prozess der Gerechtigkeit und Wahrheit stattgefunden hat, der Straflosigkeit verhindert.

Welche Sicherheitsmaßnahmen ergreifen Sie gerade?

Nachdem wir im Fernsehen auftauchten entschied ich mich dazu, das kleine Appartement zu verlassen, dass ich mit meiner Schwester gemietet habe. Ich war in mehreren „Sicherheitshäusern“, wo mich sehr freundliche Personen aufgenommen haben. Aus einem musste ich wieder raus, weil dort nach mir gesucht wurde.

Es heißt 70 Prozent der Nicaraguaner würden Ortega abwählen. Auch die Proteste hatten zum Teil Generalstreik-Charakter. Woher kommt diese Breite der Proteste?

Es ist eben kein Konflikt zwischen Regierung und oppositionellen Parteien. Von Anfang an handelte es sich um einen Aufstand der Zivilgesellschaft, schlecht organisiert und artikuliert. Wirklich groß wurden die Proteste als Reaktion auf die Gewalt der Regierung und ihrer parapolizeilichen Gruppen.

Welche Rolle spielen die Unternehmer, die in den nun ausgesetzten Friedensgesprächen als erste am Tisch mit Ortega saßen?

Der Verschleiß der Institutionen ging einher mit der Einsetzung eines Dialogs zwischen dem unternehmerischen Sektor, der Regierung und einigen der Partei nahe stehenden Gewerkschaften. Dieser „Dialog“ entsprach dem Modell einer korporativistischen Regierung, die es schaffte, neoliberale mit wohlfahrtsstaatlichen Politiken zu verbinden – die größtenteils dank ausländischer Hilfe, vor allem der venezolanischen, gedeckt wurden. Das Verhältnis zwischen Regierung und der Privatwirtschaft verschlechterte sich in dem Maße, in dem ausländische Hilfe zurückging und drastischere Maßnahmen wie eine Steuerreform nötig wurden. Der Bruch zwischen der Privatwirtschaft und der Regierung war absehbar, die Proteste beschleu nigten diesen Prozess. Mir ist wichtig zu betonen, dass hinter den Mobilisierungen auf der Straße keineswegs die Privatwirtschaft steckt und die „Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia“ – ein Zusammenschluss verschiedener zivilgesellschaftlicher Sektoren, die bei den Friedensgesprächen mit der Regierung mit am Tisch saß – nicht der einzige organisierte Ausdruck der Zivilgesellschaft ist. Diejenigen, die sich rund um die massiven Mobilisierungen und um die Ausweitung der Diskussions- und Partizipationsräume organisieren, sind über das ganze Land verstreut.

Wie sieht es innerhalb der staatlichen Institutionen aus?

Wir wissen von Staatsangestellten, die in den letzten Monaten aus der FSLN ausgetreten sind. Andere wiederum haben aufgrund externen Drucks ihre Posten niedergelegt. Der Kontrollapparat der Sandinisten funktioniert aber weiterhin. Die FSLN verfügt noch immer über eine Basis. Diese nimmt zwar ab, wie stark sie noch ist, ist angesichts der Bedrohungen und Überwachungen schwierig einzuschätzen.
 

Welche Rolle spielen heute sandinistische Protagonisten von damals?

Inmitten alledem haben sich mir alte Kämpfer der Sandinisten genähert, die Ortega Verrat an der Revolution vorwerfen. Was ich mitbekomme ist, dass sie engagiert dabei sind, von ihren jeweiligen Räumen aus beizutragen, sei es mit Ratschlägen, sicheren Häusern oder Texten in den Meinungsmedien. Die Aufgabe der jetzigen und der alten Generation ist es, Räume des Zusammenkommens und des Dialogs zu schaffen, die uns erlauben unser historisches Gedächtnis zu retten. Es dreht sich aber auch darum, das Terrain für einen notwendigen Generationenwechsel vorzubereiten.

Sollte Ortega gestürzt werden, wie lässt sich ein autoritäres neoliberales Regime verhindern, das sich womöglich mit einem menschenrechtlichen Diskurs zu legitimieren sucht?

Wir setzen auf den Dialog. Denn daraus entspringen die notwendigen Vereinbarungen, um die staatlichen Institutionen wieder herstellen zu können. Wenn wir starke Institutionen schaffen, können wir auf transparente demokratische Prozesse setzen. Die Rechte, verstanden als liberale Parteien oder Privatwirtschaft, ist stets ein Akteur, den man berücksichtigen muss. Es ist aber die Zivilgesellschaft, die mit Blick auf Organisierung und diskursive Positionierung die Avantgarde stellt. Sie ist sich auch ihrer oppositionellen Vorreiterrolle in der Entwicklung dieser Krise bewusst. Unsere Krise ist auch eine der politischen Parteien. Neue Optionen werden aus der organisierten Zivilgesellschaft hervorgehen, die auf strategische Allianzen setzen oder die versuchen werden, die Interessen der Menschen besser zu repräsentieren. Am Rande dieser Prozesse, und ich merke wie sich das nicht nur in Managua, sondern in verschiedenen Gebieten des Landes herauskristallisiert, entsteht die Notwendigkeit, starke, feste und vertrauenswürdige Institutionen zu schaffen, die eine Transparenz der Prozesse garantieren.

Das Interview führte Timo Dorsch

Wenige Tage nach dem Interview wurde Enrieth Martínez zusammen mit 20 weiteren Personen festgenommen. Sie ist wieder frei. Zu sechs weiteren Studierenden gab es bis Redaktionsschluss keinen Kontakt.
 

medico ist seit langem mit den emanzipatorischen Bemühungen in Nicaragua in kritischer Solidarität verbunden. Mit einem solchen Anliegen befand man sich schon seit vielen Jahren nicht in einem Bündnis mit der Ortega-Regierung. So zum Beispiel in der Auseinandersetzung um den Interozeanischen Kanal, der höchstwahrscheinlich nie gebaut wird, aber dafür Land zugunsten chinesischer Unternehmen in erheblichem Umfang privatisiert und enteignet. In der aktuellen Auseinandersetzung hat medico zusätzliche Mittel für die Arbeit der Studenten und für die Menschenrechtsorganisation CENIDH bereitgestellt.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 24. September 2018

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