Afghanistan

Keine Aussicht auf nichts

Afghanistan am Jahrestag seiner Auslieferung an die Taliban.

Von Thomas Rudhof-Seibert

Im Mai dieses Jahres habe ich zuletzt über Afghanistan geschrieben. Ich zitierte damals einen Afghanen, der in Al Jazeera mit dem Satz zu Wort kam: „Alles, was wir tun können ist, den Hungertod nicht zu sterben.“ Der Bericht des arabischen Senders handelte von der Hungerkrise im Land und davon, dass nahezu 90 Prozent seiner Bewohner:innen vom Hungertod bedroht sind. Wie im Frühjahr wissen wir auch heute nicht, wie viele Afghan:innen bereits sterben mussten, wie viele im nächsten Winter sterben werden. Wir wissen auch sonst nicht viel von dem, was unter den Taliban geschieht und was aus den Zusammenbruch der Geld- und Güterverkehrs resultiert, zu dem es mit ihrer Machtübernahme kam. Das liegt nicht nur daran, dass niemand frei das Land bereisen und davon berichten kann. Es liegt auch nicht nur daran, dass die internationalen Medien andere Themen verfolgen müssen, den Krieg in der Ukraine zum Beispiel. Es liegt vor allem daran, dass an Meldungen aus Afghanistan kaum jemand so recht interessiert ist. Abgesehen natürlich von den Afghan:innen selbst, denen, die noch im Land sind, denen, die es verlassen konnten und denen besonders, die es verlassen wollen oder verlassen müssen. Zu letzteren gehören die sog. „Ortskräfte“, Menschen also, die für die Bundeswehr oder andere deutsche Stellen gearbeitet haben und deshalb jetzt besonders bedroht sind. Wurden alle  Afghan:nnen vom fluchtartigen Rückzug der ISAF-Truppen im Stich gelassen, bleibt von ihnen zu sagen, dass sie ganz persönlich im Stich gelassen wurden, wissentlich und in einer Missachtung, die nicht zu rechtfertigen ist. Bundesaußenministerin Baerbock hat dazu eine auch juristische „Aufarbeitung“ versprochen. Zu hören war davon bislang nichts. Zur Rettung der Zurückgelassenen unternimmt ihr Ministerium auch sonst so gut wie nichts.

Die Wahrheit, die nicht gehört werden soll

Mittlerweile ist es nicht einmal mehr billig, vom „Scheitern“ der westlichen Intervention zu reden: wer wollte dieses Desaster bestreiten? Genau das aber sollte stutzig machen. Ja, zwanzig lange und immer blutige Jahre hindurch haben die USA und ihre Verbündeten den Afghan:innen die Demokratie, das Menschen- und das Frauenrecht sowie den Anschluss an die Globalisierung des Markts wie der Freiheit versprochen. An diesem Versprechen gemessen, ist die Intervention gescheitert. Aber ging es jemals um das Menschen- und das Frauenrecht? Ging es den USA nicht eher um eine weltweit durchgreifende Antwort auf 9/11, auf die ungeheuerlichen Anschläge auf das World Trade Center? Und ging es ihnen und ihren Verbündeten nicht allein um den „War on Terror“? Sollte nicht zuerst einmal die von den Anschlägen in Frage gestellte Weltordnung wiederhergestellt und gesichert werden? Ist ihnen das nicht gelungen, soweit als möglich jedenfalls, also vorübergehend und bis zur nächsten Herausforderung? Haben die Regierungen hinter den ISAF-Truppen Afghanistan nicht genau zu der Zeit im Stich gelassen, als die herrschende Weltordnung von anderswo bedroht wurde und deshalb auch anderswo gesichert werden muss? Und haben die USA am 31. Juli 2022 nicht gezeigt, dass sie den Krieg in Afghanistan jederzeit wiederaufnehmen können, als sie keine zwei Wochen vor dem Jahrestag ihres Rückzugs den Al-Quaida-Chef Aiman az-Zawahari töteten, mit Drohnen, die ihn auf dem Balkon seines Hauses in Kabul trafen?

Nein, die Afghanistan-Intervention ist nicht gescheitert, sie hat ihren ursprünglichen Zweck zumindest für die doch eher kurze Frist erfüllt, die diesem Zweck immer nur gewährt ist. Dass die ISAF-Truppen das Feld nicht als strahlende Sieger, sondern als nahezu Geschlagene verließen, ist in dieser Perspektive ein Kollateralschaden. Jahre schon vor seinem Amtsantritt hat Präsident Joe Biden in einem Gutachten zu Händen der damaligen US-Administration den Rückzug gefordert, den sein Amtsvorgänger Trump dann eingeleitet hat. Auch um diese Wahrheit käme die Untersuchung nicht herum, die Ministerin Baerbock versprochen, doch nicht vorgelegt hat.

Wie es nun einmal ist

Halten wir trotzdem fest, was vom Leben der Menschen zu sagen ist, die vor einem Jahr an die Taliban ausgeliefert wurden. Die Gotteskrieger haben das Land so fest im Griff, als es ihnen überhaupt möglich ist. Die ersten, die dafür zahlen müssen, sind die Frauen und Mädchen, unsichtbar, unhörbar, in die Häuser zurückgezwungen, patriarchaler Gewalt schutzlos ausgesetzt. Den Männern geht es allerdings nicht viel besser, auch wenn sie jetzt wieder herrschendes Geschlecht sind. Wo es Öffentlichkeit überhaupt gibt, steht sie im Dienst des Regimes und seines politischen Projekts, des Islamischen Emirats. Deshalb ist sie jetzt zuerst die Bühne für dessen unbeschränkte Strafgewalt allem gegenüber, was ihm „sittenwidrig“ erscheint. Die ethnische Tiefengrammatik des jahrzehntelangen Konflikts, der postkoloniale Streit um den Machtanspruch der Paschtun:innen vor allen anderen ethnisch-religiösen Gruppen, ist mit ihrem Sieg zunächst einmal aufgelöst: Die Talibanisierung des Landes soll jetzt seine Paschtunisierung werden. Hier hat die Hazara-Minderheit am meisten zu leiden, an unmittelbaren Angriffen auf Leib und Leben, an Vertreibungen, Landraub und Ausplünderung.

Bleibt der ökonomische Zusammenbruch. Er scheint bis auf den Grund zu gehen, bis zur Reduktion des Lebens aufs bloße Überleben von einem Tag auf den anderen. An ihm findet die Macht des Regimes ihre Grenze, beginnend mit Widersprüchen, auch mit bewaffneten Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen. Afghanische Sommer sind meist heiß und trocken, Frühjahr und Herbst sind eher angenehm, die Winter können bitter kalt werden. Wer dann zu wenig zu essen und zu trinken hat, wer kein Dach hat für sich und die Seinen, wer keine medizinische Versorgung hat, kann in solchen Wintern sterben. So wie im letzten Winter, zu dessen Opfern es keine Zahlen gibt.

Zum Jahrestag, heute aus gegebenem Anlass zitiert

Erinnert überhaupt noch jemand das Bild, in dem sich erschütternd verdichtete, was im August 2021 geschah? Jenes Bild, auf dem ein Mensch in die Tiefe stürzt, der sich an ein startendes Flugzeug geklammert hatte? Ein Mensch, der jetzt nur noch ein kleiner, vom Himmel torkelnder Punkt war?

In Edmonton leben

Den Mitarbeiter:innen des medico-Partners Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) gelang noch im August 2021 die Flucht zunächst nach Pakistan und von dort nach Kanada, in die Stadt Edmonton. Sie nahmen damals, soweit das möglich war, alle ihre Angehörigen mit, insgesamt über hundertachtzig Menschen. medico hat sie vom Morgen des ersten Fluchttags an unterstützt. Auch wenn ihr Überleben erst einmal gesichert ist, stehen unsere Partner:innen doch vor den Trümmern ihrer politischen Existenz. Vor den Trümmern eines Lebens, das tagtäglich lebensgefährlich, aber immer auch von Freude, sogar von Fröhlichkeit getragen war, vom entschlossenen Streit für eine afghanische Demokratie, für das Menschen- und Frauenrecht in Afghanistan. Davon bleiben heute erst einmal nur Erinnerungen wie die an die 2017 über eine ganze Woche an mehreren Orten durchgeführte „Untergrunduniversität“. An deren Debatten nahmen damals über 700 zumeist jüngere Menschen teil. Es bleibt davon eine jetzt je im Monatsrhythmus unternommene Recherchearbeit zur Menschenrechtssituation in Afghanistan: Die Kolleg:innen sammeln Nachrichten, die sie von im Land verbliebenen Menschen erhalten, prüfen ihre Richtigkeit, fügen sie zu Berichten, die möglichst systematisch angelegt werden, machen diese Berichte öffentlich. Öffentlich wird so auch, dass es im Land noch immer Widerstand gibt, von Frauen wie von Männern. Das ist für sie, so sagen sie es selbst, noch keine politische Perspektive, nicht einmal eine Überlebensperspektive. Doch wäre es vermessen, verlangten wir ihnen, verlangten sie sich selbst eine solche ab. Natürlich stellt „AHRDO im Exil“ Forderungen: nach Menschen-, Frauen- und Minderheitenrechten, nach Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, nach der Bildung einer inklusiven Übergangsregierung. Doch hören ihnen diejenigen nicht zu, die dafür etwas tun könnten oder wenigstens tun müssten. Schlimmer noch: Hörten sie ihnen zu, würden sie trotz gegenteiliger wohlfeiler Versicherung nichts dafür tun. Denn der Rückzug des letzten Jahres entsprang keiner Laune, er war abgesprochen, ausverhandelt, geplant. Eine Untersuchung seitens des deutschen Auswärtigen Amtes käme zu keinem anderen Resultat, würde sie wahrheits- und sachgemäß durchgeführt und veröffentlicht. Bleibt erst einmal nur die Hoffnung, die von der Intervention des Westens schon 2001 verspielt wurde: dass das Taliban-Regime an sich selbst scheitert und sich ungeplant Möglichkeiten öffnen, die besser sein könnten als alles, was die herrschende Weltordnung Afghan:innen zu bieten hat. medico wird an der Seite AHRDOs bleiben, in Edmonton wie in Kabul.

Veröffentlicht am 14. August 2022
Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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