Menschenrechte

Der Widerstand afghanischer Frauen

14.08.2025   Lesezeit: 6 min  
#feminismus  #kritische hilfe 

Afghanische Frauen sind mehr als nur passive Opfer oder Symbole. Ihr Widerstand ist vielfältig und von globaler Bedeutung.

Von Zahra Mousawy

Kurz vor dem vierten Jahrestag der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist es unerlässlich, die Situation afghanischer Frauen neu zu denken. Medienberichte reduzieren afghanische Frauen oft aufeine Rolle als hilflose Opfer, die gerettet werden müssen –etwa durch westliche Intervention. Diese Darstellung verschleiert jedoch die Komplexität und Vielfalt des Widerstands der Frauen vor Ort. Letztere sind aktive Akteurinnen einer globalen feministischen Bewegung.

Das Sprechen für Unterdrückte birgt stets die Gefahr, genau jenes Verstummen zu reproduzieren, das man aufbrechen will. Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, afghanischen Frauen eine Stimme zu geben. Sonderneben jene Systeme zu kritisieren, die ihre Stimmen instrumentalisierensei es durch imperiale Kriege, autoritäre Herrschaft oder liberale Hilfsprogramme. Historisch betrachtet sind die Körper afghanischer Frauen immer wieder als Waffe in ideologischen Kämpfen um Authentizität und nationale Identität eingesetzt worden. So bemühte die von den USA geführte Invasion Afghanistans infolge des 11. September etwa das Bild der verschleierten Afghanin als Rechtfertigung für militarisierten Humanitarismus – nur um eben jene verschleierte Frauen zwei Jahrzehnte später aus politischem Kalkül im Stich zu lassen.

Bereits viel früher, von den Reformen König Amanullahs in den 1920er-Jahren bis zu den Geschlechterquoten nach 2001, wurden afghanische Frauen als Symbole des Fortschritts inszeniert. Doch von oben verordnete Darstellungen waren selten in einer breiten Mobilisierung vor Ort verankert. Gleichberechtigung wurde so mit Elitepolitik oder ausländischer Einflussnahme assoziiert. Die Vereinnahmung von Frauen für das afghanische Staatsprojekt stand ihrer Anerkennung als eigenständige Akteurinnen im Weg.

Jahrzehnte des Krieges – unter sowjetischer Besatzung, während des Bürgerkriegs und später unter der US-Koalition – erschüttertendie feministische Organisierung. Frauen in Städten, die besseren Zugang zu Bildung hatten, konzentrierten sich oftmals auf Fragen von Repräsentation. Ländliche Frauen priorisierten das Überleben: Nahrung, Sicherheit, Gesundheitsversorgung. Diese Kluft fragmentierte feministische Agenden und verdeutlichte, wie sehr sich Strategien des Widerstands je nach Geografie und Klasse unterscheiden. Dennoch bewiesen afghanische Frauen Resilienz – sei es durch den Betrieb von Untergrundschulen während des ersten Taliban-Regimesoder durch Arbeits- und Bildungskampagnen unter sowjetischer Herrschaft. Es handelte sich um Akte alltäglichen Widerstands, die oftmalsgar nicht erst dokumentiert werden.

Die Grenzen des NGO-Feminismus

Nach 2001 verlagerte der Zustrom international finanzierter NGOs und deren Bedingungen den Schwerpunkt der Frauenrechtehin zu einem Diskurs über Empowerment. Die von neoliberalen Leitbildern geprägten Programme setzten auf Sichtbarkeit, Unternehmertum und Führungstrainings – vernachlässigten jedoch die sozioökonomischen Bedingungen, die afghanische Frauen entrechteten.

Feministische Kritikerinnen wie Arundhati Roy und Jayati Ghosh bemängelten früh den „Markt der Gender-Projekte“, den derartige Projekte förderten, der Außenwirkung über lokale Bedürfnisse priorisierte. In Afghanistan vertiefte dies die Klassenspaltung: Wer die Sprache der Geber beherrschte, wurde gefeiert – andere blieben unsichtbar. 

Der Zusammenbruch westlicher Initiativen wie dem USAID-Projekt PROMOTEnährten zudem die öffentliche Ernüchterung, gerade in den ländlichen Regionen. Das Scheitern extern gesteuerter Reformen ebnete reaktionären Kräften den Weg. Die Taliban wussten diese Vertrauenskrise für sich zu nutzen:Sie inszenierten sich als Verteidiger der Moral gegen „fremde Verunreinigung“ und setzten unter dem Deckmantel religiöser Authentizität patriarchale Normen durch. Das Vakuum, welches das Scheitern des liberalen Reformismus in Afghanistan hinterließ, wurde nicht von progressiven Alternativen gefüllt sondern von einer Rückkehr des Autoritarismus.

Brot, Arbeit, Freiheit“

Doch selbst unter diesenBedingungen blieben afghanische Frauen nicht passiv. Nach der Rückkehr der Taliban im Jahr 2021 entfaltete sich eine neue Welle des Widerstands in peripheren Städten wie Herat, Masar-i-Sharif, Dschalalabad und Paktia. Hier organisierten Lehrerinnen, Krankenschwestern, Studentinnen und Verkäuferinnen spontane Proteste unter dem Slogan: „Brot, Arbeit, Freiheit“.

Dies war keine elitegetragene Bewegung. Die meisten Demonstrantinnen hatten sich zuvor nie als Aktivistinnen verstanden. Sie verfügten weder über institutionelle Unterstützung nochüber Medienpräsenz. Ihr Widerstand entstandim vollen Bewusstsein der Taliban-Repression – und ohne internationale Solidarität. Viele von ihnen wurden festgenommen, verschleppt oder gezwungen, im Untergrund zu leben.

Dieser Widerstand ist das, was der Soziologe Asef Bayat als „Nicht-Bewegung“ bezeichnet hat: eine verstreute, aber effektive Form politischen Handelns, die aus den alltäglichen Erfahrungen von Menschen hervorgeht, deren Leben infolge der politischen Ungerechtigkeit aus den Fugen geraten ist. Dieses Konzept ist zentral, um den Widerstand afghanischer Frauen zu verstehen; zumal esauch die unspektakulären Akte des Trotzes und Überlebens sichtbar macht, die sonst oft übersehen werden.

Ethische Solidarität

In Städten wie Kabul und Herat nutzten Frauen digitale Tools, um Blitzproteste zu organisieren und Übergriffe gegenüber Frauen zu dokumentieren. In ländlichen Gebieten, wo die Überwachung strenger und der Internetzugang eingeschränkt ist, stützen afghanische Frauen sich auf diskretere Formen: den Ausbau informeller Unterstützungsnetzwerke, heimlicher Unterricht für Mädchen oder direkte Verhandlungen mit lokalen religiösen Autoritäten, um Schulen wiederzueröffnen.

Um diese sehr unterschiedlichen Bewegungen zu unterstützen, sollten internationale Verbündete darauf verzichten, ihnen eigene Agenden aufzuzwingen oder die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. Solidarität bedeutetin diesem Kontext, Ressourcen umzuverteilen, Forderungen der Basis zu verstärken, ohne zu versuchen sie in westliche Deutungsmuster zu zwingen. Und: digitale wie physische Räume zu schützen, in denen afghanische Frauen als handelnde Subjekte agieren können. Transnationaler Feminismus muss vor allem eines können: zuhören.

Auch die mediale oder wissenschaftliche Darstellung des Widerstands afghanischer Frauen sollte sich mit den Realitäten und Logikenvor Ort befassen. Die Rollen von Frauen in Afghanistan sind eng mit Verwandtschaft, Fruchtbarkeit und familiärer Ehreverknüpft. Deniz Kandiyotis Konzept des „patriarchalen Handels“ beschreibt, wie Frauen patriarchale Normen nicht zwangsläufig aus Überzeugung befolgen, sondern als Überlebensstrategie. Dieses Verständnis ist zentral, um die Strategien zu erfassen, durch diesich afghanische Frauenpatriarchalen Strukturen widersetzten. Ihr Widerstand ist nicht immer offen als solcher zu erkennen. Er kann auch schlicht in Form von Verweigerung, Schweigen oder subtiler Unterwanderung stattfinden. Solche subtilen Handlungen sind kein Stück weniger mutig oder politisch als öffentlicher Protest.

Auf dem Weg zu transnationaler Solidarität

Um den Kampf afghanischer Frauen als Teil einer globalen Bewegung zu begreifen, sollten wir die westlichen Paradigmen überdenken, die in erster Linie auf rechtliche Gleichstellung oder individuelle Selbstermächtigung zielen. Ein transnationaler Feminismus muss Imperium, Militarismus und Klasse mitdenken – sowie die rassistische Logik hinter humanitärer Interventionen. Ein solcher Ansatz würde eine differenziertere Perspektive ermöglichen – und auch die Dringlichkeit globaler feministischer Solidarität verdeutlichen, gerademit Blick aufandauernde patriarchale Rückschläge.

Der Rückbau von Frauenrechten in Afghanistan steht keineswegs isoliert. Er spiegelt die Einschränkungen wider, die sich auch anderswo abzeichnen – vom Iran bis zu den Vereinigten Staaten. Es handelt sich dabei nicht um isolierte Rückschläge, sondern um Symptome eines globalen patriarchalen Rollbacks. Afghanische Frauen sind keine Symbole, die es zu „retten“ gilt. Sie sind Denkerinnen, Arbeiterinnen und Kämpferinnen. Ihr Widerstand, ob sichtbar oder verborgen, hält nach wie vor an. Von geheimen Klassenzimmern bis zu Hungerstreiks, von geflüsterten Akten der Verweigerung bis zu Parolen auf den Straßen – ihr Kampf geht weiter.

In einer Zeit, wo autoritäre Regime weltweit erstarken und feministische Errungenschaften zurückgedrängt werden, ist der Kampf afghanischer Frauen keineswegs randständig. Die Forderung nach „Brot, Arbeit, Freiheit“ sollten wir daher nicht nur als lokalen Ruf nach Gerechtigkeit verstehen, sondern als Teil eines globalen Aufrufs, feministische Zukunftsentwürfe neu zu denken.

medico unterstützt seit Jahren ein Untergrundnetzwerk von Frauen in Afghanistan, das seit der Machtübernahme der Taliban unzählige Protestaktionen im Alltag organisiert und gegen die Normalisierung im Umgang mit der Taliban-Regierung in der internationalen Gemeinschaft arbeitet. Gleichzeitig unterstützt medico die Diasporaorganisation afghanischer Frauen, die eine unabhängige Forschungseinrichtung zu Geschlechterforderung in Afghanistan aufgebaut haben und das verloren gegangene Wissen über die schon vor dem Bürgerkrieg in den 70er Jahren begonnene lokale Frauenbewegung aufarbeiten.

Zahra Mousawy (Foto: privat)

Zahra Mousawy ist Schriftstellerin und Sozialforscherin aus Afghanistan. Sie ist Gründerin und Direktorin der medico-Partnerorganisation Afghanistan Women's Studies Academy (AWSA).


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