Brasilien: Warten auf die Zeitenwende

Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (MST)

Mit Bildungsprogrammen und dem Ausbau der genossenschaftlichen Ökonomie bekämpft die brasilianische Landlosenbewegung den Neoliberalismus und hofft, dass sich die Agrarreform doch noch durchsetzt. Von Katja Maurer.

Wie schnell sich Zeiten ändern können, erlebt man in diesen Tagen. Dass darin auch eine Chance für die landlosen Bauern in Brasilien liegen könnte, wäre allerdings eine Überraschung. Bislang sieht es nämlich ganz so aus, dass der Finanzkapitalismus, der internationale Agrar- und Rohstoffhandel und die damit eng und unübersichtlich verflochtenen Institutionen des Staates und der Regierung Brasilien für den Ausverkauf besetzt halten.

Das große Projekt, den Landbesitz mit einer Agrarreform zu demokratisieren, droht an dieser unheiligen Allianz vorerst zu scheitern. Das zumindest war noch im August dieses Jahres die Einschätzung von Vanderlei Martini, einem Mitglied im Führungsgremium der Landlosenbewegung MST. "Für das Entwicklungsmodell der Agrarreform, das regionale und lokale Märkte braucht und fördert, gibt es zur Zeit keine Chance der Realisierung. Denn das neoliberale Modell der Marktöffnung und des Agrohandels übt die vollkommene Hegemonie in Brasilien aus." Wir trafen Vanderlei in der zentralen MST-Schule Florestan Fernandez, die unweit von São Paulo mehrere hundert Menschen zu unterschiedlichen Schulungs-Kursen unterbringen kann. Das Bildungsangebot reicht vom ökologischen Landbau bis zur politischen Ausbildung lateinamerikanischer Politaktivisten. Während uns der MST-Führer aus Minas Gerais nüchtern und ohne Empörung seine Analyse des nicht eingelösten Versprechens der Agrar-Reform erläuterte, tagte einige Zimmer weiter der gesamte Vorstand, um sich eine Gegenrede anzuhören. Ein politischer Berater des MST war angetreten, das soziale Projekt der Lula-Regierung zu verteidigen. Pluralität schadet dem Kampfgeist der Landlosen offenbar nicht.

Das Agrobusiness ist das Herzstück des Neoliberalismus

Landbesetzungen würden, erläuterte Vanderlei, immer schwieriger. Unter der Lula-Regierung dauere es 6 Jahre und länger, bis die besetzten Ländereien der Agrarreform zugesprochen würden. Hinzu komme, dass produktives Land knapp und teuer sei, weil die großen transnationalen Agrar- und Bergbau-Unternehmen um die Flächen konkurrierten. "Das Agrobusiness ist das Herzstück des Neoliberalismus in Brasilien", erklärte Vanderlei. Sein Einfluss auf die Regierung ist immens und bislang von außerordentlicher Wirtschaftsmacht. In einer konzertierten Aktion hätten Monsanto, Cargill und das brasilianische Bergbauunternehmen Vale do Rio Doce beispielsweise durchgesetzt, dass riesige, einst staatliche Landflächen entlang der mehrere tausend Kilometer langen Grenz demnächst zur Privatisierung freigegeben werden. "Aber Land für die Agrarreform gibt es nicht. Die Regierung setzt stattdessen auf das Agrobusiness. Die Steuereinnahmen aus dem Biosprit kämen auch den Armen zugute." Auf Hilfsprogramme für Arme mag das zutreffen. Arbeitsplätze entstehen auf den Großplantagen kaum, denn sie arbeiten mit Großtechnik und geringem Personalbedarf. Vanderlei Martini: "Zu Beginn der 90er Jahre haben wir noch eigene Industrieprodukte exportiert, nun sind wir wieder wie früher ein großes Rohstoffe exportierendes Land: Holz, Gold, Fleisch, Erze, Soja – das sind unsere Exportschlager." Die offenen Adern Lateinamerikas, wie sie Eduardo Galeano in seinem Weltbestseller 1971 beschrieb, erfahren durch das Agrobusiness und seine neuerliche Ausbeutung der Bodenschätze eine neue Wendung.

Eine neue Chance für die sozialen Bewegungen?

Auch wenn der Neoliberalismus durch die Finanzmarktkrise angeschlagen ist, sind die langfristigen Folgen und Chancen dieser Krise für Länder wie Brasilien nicht absehbar. Sicher ist, dass das Selbstbewusstsein solcher Länder wie Brasilien wächst. Die jüngste Ankündigung von Präsident Lula, dass die vermuteten riesigen Erdölvorkommen vor der Küste Brasiliens nicht zur Privatisierung zur Verfügung stünden, sondern Eigentum des Volkes seien, deutet bei allem Populismus darauf hin. Sie schon als Aufkündigung des "Washington Consensus" und seines Hohen Liedes auf Privatisierung und Marktöffnung zu interpretieren, wäre wohl verfrüht. Die sozialen Bewegungen Brasiliens, so viel ist sicher, werden die neuen Chancen zu nutzen suchen. Der MST war ohnehin immer vorsichtig damit, Lulas Regierung in Bausch und Bogen zu verdammen, wie das andere soziale Initiativen Brasiliens aus Enttäuschung taten. Der bekannteste Führer des MST, João Pedro Stedile, begrüßte deshalb auch Lulas Ankündigung und forderte gleich, dass das Privatisierungsverbot nicht allein für die Erdölreserven gelten dürfe.

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In der MST-Siedlung Roseli Nunez erscheinen solche großen Entwürfe auf den ersten Blick entlegen. Das ehemals besetzte Dorf anderthalb Fahrstunden von Rio entfernt hat es immerhin geschafft, seinen rechtlichen Status abzusichern. Die Besetzer sind in dem Pre-Assentamento (Vor-Siedlung) fast schon Besitzer. Doch die Bedingungen, unter denen sie hier leben und arbeiten, sind noch immer mehr als notdürftig. Denn auch nach einer legalisierten Besetzung haben Regierung und Staat nicht viel Interesse an der Entwicklung der Dörfer. Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von Straßen, der Anschluss ans Stromnetz lassen viel zu lange auf sich warten. Auch hier. Ein paar Bauern des Dorfes ist es mittlerweile gelungen, ihre Landwirtschaft ein wenig zu entwickeln und ein paar Tiere für den Eigenverbrauch anzuschaffen. Andere warten in einem armseligen Gebäude mit verblichenen Kacheln, die an den vorherigen Besitzer erinnern, darauf, dass irgendetwas geschieht, was alles verändert. In Roseli Nunez entfaltet sich die Tristesse des Landlebens in seiner sturen Langsamkeit. Eigentlich könnte der Ort auch in totaler Weltvergessenheit versinken. Aber die Parallel-Welt des MST lebt mit solchen Dörfern und bindet sie ein – mit den Mitteln, die zur Verfügung stehen.

Hier ist in einem der einfachen Gebäude eine Fortbildungseinrichtung des MST untergebracht. Aus umliegenden Gemeinden kommen MST-ler, um an dem Unterricht teilzunehmen. Die Bedingungen sind schwierig. Nicht einmal genug Stühle gibt es. Auch der Lehrer hat sich übernommen mit der Aufgabe, den ehemaligen Landarbeiterinnen und Landarbeitern die komplizierte Materie von Profit und Mehrwert zu vermitteln. In Roseli Nunez finden neben solchen politischen Kursen auch Lehrveranstaltungen zu ökologischem Landbau und zu Anbau und Anwendung von Heilpflanzen und alternativen Heiltherapien statt. Dieses Bildungsprogramm verbindet Theorie und Praxis auf MST-typische, eigentümliche Weise. Tatsächlich offenbart sich bei aller Armseligkeit in der Schulungsstätte des entlegenen Ortes die schlagende Idee der Landlosen-Bewegung. Mit seinen anderthalb Millionen Mitgliedern in Dörfern und Landbesetzungen entfaltet sie eine Eigenständigkeit, die sie den politischen Konjunkturen nicht schutzlos ausliefert. Neben der Entwicklung einer genossenschaftlich orientierten und ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft sind Bildung und Ausbildung für alle Bewohnerinnen und Bewohner in den Siedlungen und Besetzungen gleichsam das Fundament des MST. Denn nur so kann der Anspruch, dass wirklich alle einbezogen werden, gewahrt bleiben. "Der MST hat die Schule neu erfunden", freut sich der brasilianische Philosoph Paulo Arantes. "Sie bildet die Menschen, damit sie Akteure ihrer eigenen Emanzipation werden können." Dies sei, so Arantes in einem Interview auf der MST-Website, das Gegenmodell zu der "großen, Menschen zermalmenden Mühle", die Brasilien mit seiner Ignoranz und Missachtung der Armen darstellt. Arantes unterrichtet wie viele andere Professoren der öffentlichen Universitäten kostenlos in den MST-Bildungseinrichtungen. Die Parallel-Welt ist keine hermetische Zone.

Auch unser Gesprächspartner Vanderlei Martini beharrte auf dem Anspruch des Gegenmodells zur herrschenden neoliberalen Ordnung. Er äußerte sich dabei keineswegs so euphorisch wie der Philosoph Arantes, auch deshalb, weil das Schicksal des MST auf lange Sicht davon abhängt, ob es gelingt, entscheidende Fortschritte bei der Agrarreform durchzusetzen. "Wir können nichts anderes tun", so Vanderlei, "nur kämpfen, unsere Kooperativen entwickeln, die Bildung verstärken und uns mit Landlosen aus anderen Ländern verbünden, um den Vormarsch des Agrobusiness zu stoppen."

Projektstichwort

medico international fördert die Gesundheitsarbeit des MST seit mehreren Jahren. Bei allen Projekten geht es darum, konkrete Maßnahmen der Gesundheitsförderung wie die Wasseraufbereitung oder den Heilpflanzen-Anbau mit der Schulung von Gesundheitsverantwortlichen zu verbinden. Der Bildungsansatz ist nun erweitert um die Kooperation mit der zentralen MST-Schule Florestan Fernandez und einem zentralen Ausbildungskurs für Gesundheitsarbeiter aus allen Regionen des Landes. Schwerpunkte des Programms sind neben Pflanzenheilkunde und Homöopathie die brasilianische Gesundheitspolitik und Möglichkeiten der Intervention vor Ort. Spenden für die Arbeit dieses über Brasilien hinaus so wichtigen zivilgesellschaftlichen Akteurs unter dem Stichwort: Brasilien.

 

Veröffentlicht am 17. November 2008

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