Brasilien: Das große Wegsperren

Die Kriminalisierung der Armut gehört zum Surrealismus der brasilianischen Tragödie. Von Katja Maurer.

Luiz Alberto Mendes ist ein drahtiger Mann Anfang 50, der immer in Bewegung scheint. In seinem Gesicht hat das Leben tiefe Spuren hinterlassen; Spuren von zwei Leben, vielleicht. Im ersten wollte Luiz Mendes der schlimmste Verbrecher der Welt werden. Seine Wut war so groß und seine Lebenserwartung so niedrig, dass ihm das nur natürlich erschien. Als Straßenkind wuchs er im Zentrum der brasilianischen Megastadt São Paulo auf. Auf den Straßen und in den Erziehungsanstalten lernte er zu überleben. Er wurde mehrmals verhaftet, systematisch brutalisiert und gefoltert. „Als er älter war, begann er mit großen Überfällen, bis er einen Menschen umbrachte“, so lapidar beschreibt der Klappentext seines Buches „Erinnerungen eines Überlebenden“ die Geschichte von Luiz. 32 Jahre saß er in verschiedenen Gefängnissen, darunter in der berüchtigten Haftanstalt Carandiru.

Die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Romans gehört zu den Wundern, die es nach menschlichem Ermessen eigentlich nicht gibt. Wenn sie eintreten, bringen sie die Realität zum Leuchten. In diesem Fall wirft das Wunder allerdings ein gleißendes Licht auf eine verdrängte Wirklichkeit. Mendes beschreibt mit einer Sprache, die manche Schriftsteller ihr Leben lang zu erreichen suchen, sein Schicksal: Unter den unmenschlichen und lebensgefährlichen Haftbedingungen eines brasilianischen Gefängnisses konfrontiert ihn ein Mitgefangener, der Bücher liebt, zum ersten Mal mit Literatur. Dostojewski natürlich. Im Gefängnis macht er daraufhin Bildungsabschlüsse nach und nimmt schließlich an einem Literaturkurs teil, den der Schriftsteller Fernando Bonassi in Carandiru durchführt. Er gewinnt einen Wettbewerb mit seiner Erzählung „Celaforte“ – „Strafzelle“. Und irgendwann hier beginnt das zweite Leben des Luiz Mendes, der das erste schreibend begreift und das zweite in der verbleibenden Zeit leben will.

Wenige Tage nach dem Wettbewerb drückt er Bonassi ein mehrere hundert Seiten langes Manuskript in die Hand. Der Schriftsteller liest es, verschlingt es und stellt fest, dass dies ein „fertiges Werk“ ist. „Im Modus Operandi unserer Gesellschaft“, schreibt Bonassi im Vorwort zu den „Erinnerungen eines Überlebenden“, „misslingen fast alle Versuche des sozialen Aufstiegs. In der Literatur ist die Möglichkeit eines solchen Aufstiegs eigentlich nicht vorgesehen.“ Mendes aber habe mit seinem Werk den „Surrealismus der brasilianischen Tragödie“ in Worte gefasst. Ein Bestseller.

Im Sommer 2008 treffen meine Kollegin und ich Mendes in einem kleinen Café im Zentrum von São Paulo. „Damals waren wir Hunderte – jetzt sind es Tausende“, sagt er mit Blick auf die Obdachlosen, die die Straßen hier bewohnen. Auch wenn der Männertrakt von Carandiru nicht mehr existiert und Präsident Lula manch erfolgreiches Sozialprogramm aufgelegt hat, bleibt Brasilien führend in Sachen sozialer Ungleichheit. Das alles sagt er uns mit diesem einen Satz. Die überfüllten Gefängnisse sind der versteckte Spiegel dieser Verhältnisse. Für Luiz Mendes sind sie nach wie vor der Knotenpunkt seiner zwei Leben. Regelmäßig führt der Ex-Gefangene selbst Kurse durch, in denen Gefangene lernen, sich über das Schreiben auszudrücken, die eigenen Ziele und Lebenswünsche zu formulieren. Auch in Armenvierteln bietet er solche Kurse als Gewaltprävention für Jugendliche an. Er hat sich mit zwei weiteren Literatur-Enthusiasten zusammengetan, um diese Arbeit zu systematisieren und medico einen Projektvorschlag zu machen. Auch sie stoßen zu uns. Durva und Wagner kennen sich von einem Bibliothekslehrgang. Durva arbeitet seit über 15 Jahren als Gefängniswärter, Wagner überlebt mit mehr schlecht als recht laufenden Immobiliengeschäften. Sie machen keine Schreibwerkstätten wie Luiz, sondern Literaturzirkel im Gefängnis.

Während Luiz mit der ihm eigenen Geschwindigkeit, die man für zwei Leben braucht, die Projektidee ausformuliert, sitzt Durva, der Gefängniswärter, schweigend am Tischende. Wie kommt ein Gefängniswärter dazu, auch noch seine Freizeit im Knast zu verbringen? Durva lächelt nicht, als er diese Frage beantwortet. Er sei bei einem Gefangenenaufstand als Geisel genommen worden. Die Gefangenen hätten sich ihm gegenüber benommen wie Gefängniswärter. „Ich habe mich selbst in ihnen gesehen und das hat mir überhaupt nicht gefallen.“ Als Schwarzer hat er ein entwickeltes Gefühl für die Übel, die aus Vorurteilen und Klischees entstehen. In der Paradoxie des Wärters als Gefangener hat er die Ambivalenz seiner eigenen Rolle entdeckt.

Der Schwarze und der Kriminelle, das Armen-Ghetto und das Gefängnis – das sind die Zutaten, aus denen eine alles überlagernde Angst gebraut wird. Die brasilianische Gesellschaft ist davon weithin so betäubt, dass sie das Wegsperren und die Kriminalisierung der Armut, die Tötungen und Misshandlungen der Ausgegrenzten einfach akzeptiert. Auf einer Tagung in Rio de Janeiro unter dem Titel „Nach dem großen Wegsperren“ beschäftigen sich wenige Tage nach unserem Treffen in São Paulo Soziologen und Juristen aus ganz Lateinamerika mit dieser Kriminalisierung der Armut, die alle Unternehmungen der Veränderung zu untergraben droht. Das sind einige der Zahlen, die dort gehandelt wurden: In der Stadt São Paulo saßen in den letzten 10 Jahren 140.000 Menschen im Gefängnis. Der Bundesstaat verfügt über 100 Gefängnisse. In Brasilien sitzen 40 Prozent ohne Urteil, manche von ihnen jahrelang. Die Kriminologin Vera Malaguti, eine der Organisatorinnen der Konferenz, berichtet von einem Fall in Belo Horizonte. Dort saß ein Mann wegen des Diebstahls von 10 Wassermelonen 6 Jahre im Gefängnis. Die brasilianischen Zahlen sind relativ gesehen fast noch rechtsstaatlich. In Lateinamerika insgesamt liegt die Zahl der Gefängnisinsassen ohne Urteil bei 70 Prozent. Während São Paulo als Gefängnisstaat gilt, ist Rio das Zentrum von extrem gewalttätigen Polizeiaktionen. Auch 2008 könnte wieder ein Rekordjahr werden. Zur Jahresmitte gehen bereits 100 Tote auf das Konto von Polizei und „Sicherheitskräften“. Es sind diese erschütternden Zahlen, die das Seminar in Rio aus allen Nähten platzen lassen. 400 Teilnehmer, damit hatte Malaguti nicht gerechnet. Vielleicht ist der Weckruf, den sie am Beginn des Seminars getätigt hat, bei manchen angekommen: „Wir brasilianischen Linken müssen uns einer unbequemen und traurigen Realität bewusst werden: Die Demokratie, die wir miterrichtet und für die wir uns im Kampf gegen die Militärdiktatur eingesetzt haben, foltert und tötet mehr als damals die Militärs.“

Das System der kriminalisierten Ausgrenzung funktioniert nicht nur in Brasilien unter anderem deshalb, weil die Entmenschlichung der Opfer als Drogenkriminelle und Taugenichtse schon fester Bestandteil in der Realitätswahrnehmung vieler „unbescholtener Bürger“ ist. Wer da die Seiten wechselt, für den kann es unbequem werden. Luiz, Durva und Wagner könnten dazu viel erzählen. Doch lieber schlagen sie mit ihren Kursen unermüdlich kleine Löcher in die Mauer aus Ignoranz und Verdrängung.

 

Projektstichwort

Die Ökonomie der Peripherie ist mit Kriminalität verbunden. Die Realität der Ausgrenzung schafft keine unschuldigen Opfer. Die Literaturarbeit in den Gefängnissen ist für viele Gefangene ein Weg zu einer anderen Selbstwahrnehmung. Wenn sie diese und andere Arbeiten zur Stärkung der Menschen am Rande der brasilianischen Gesellschaft unterstützen wollen, dann spenden Sie unter dem Stichwort: Brasilien.

 

 

Veröffentlicht am 27. September 2008

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