Gaza

Werden wir Geschichte sein?

15.09.2025   Lesezeit: 7 min  
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Von 1948 bis Gaza: Die palästinensische Tragödie wiederholt sich.

Von Hanin Majadli

Vor einigen Tagen sah ich eine Stellenanzeige: „Gesucht: 40-Tonnen-Bagger mit Fahrer für Abrissarbeiten im Gazastreifen zur Verstärkung unseres Teams. 7 bis 16:30 Uhr, 6.000 Schekel (1.790 US-$) pro Tag. Die Armee bezahlt den Dieselkraftstoff.“ Es erschien mir wie ein Déjà-Vu. Ich rief mir eine Szene aus dem Dokumentarfilm „Blue Box“ von 2021 ins Gedächtnis. Der Film handelt vom Jüdischen Nationalfonds, der lange vor der Staatsgründung Israels Land in Palästina kaufte und der bis heute große Teile des sogenannten Staatslands im Auftrag des Staates zur ausschließlich jüdischen Nutzung verwaltet. Besagte Szene spielt während des Krieges von 1948, nach dem Beschluss der Vereinten Nationen zur Teilung Palästinas, als Teile des Kabinetts von Ben Gurion das „Transfer Komitee“ gründeten, um die Vertreibung von Palästinenser:innen zu organisieren. Zu sehen ist eine Diskussion im Jischuv, dem jüdischen Gemeinwesen vor der Gründung des Staates Israel. Es geht darum, wie man Araber:innen zur Umsiedlung bewegen und verhindern kann, dass sie in ihre Dörfer zurückkehren. Zu sehen ist ein historisches Dokument, ein Brief des Bauunternehmers Solel Boneh an die Büros des Jüdischen Nationalfonds in Tel Aviv. Überschrieben ist es mit der Zeile: „Betreff: Rechnung für den Abriss von Dörfern in Samaria und im Süden“. 

Was damals begann, wird seither mit den immergleichen Mitteln fortgesetzt. Häuser werden zerstört, Land wird weggenommen und den eigenen Leuten zugeteilt. Es kommt zu gezielten Vertreibungen, die eine Bevölkerung wird durch die andere ersetzt. All das ist weder Zufall noch Irrtum. Vielmehr schreitet ein Mechanismus der Kontrolle und ethnischen Säuberung mittels Zerstörung und Vernichtung voran. Die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder. Der Staat Israel wurde auf Teilen Palästinas errichtet und von dort aus erweitert. Es wird immer weiter gebaut, Israel dehnt sich aus, bis alles, was einmal Palästina war, ausgelöscht ist. Die Stellenausschreibung für einen Baggerfahrer ist der zeitgenössische Ausdruck ebenjener Politik, die das palästinensische Leid in eine israelische Wiedererweckung verwandelt. 

Irgendwann, wenn die Zerstörung von Palästina abgeschlossen sein wird, werden Dokumentarfilme über die palästinensische Katastrophe entstehen. Sie werden von der ersten und der zweiten Nakba berichten, so wie es heute Dokumentationen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg gibt. Womöglich wird die Stellenanzeige von heute in einem Film als historisches Zeugnis gezeigt werden. Genau wie die Rechnung von Solel Boneh aus dem Jahr 1948 wird sie ein scheinbar nebensächliches, alltägliches, formales Dokument sein – und gleichzeitig Beweis für einen Mechanismus, der Grenzen auf Kosten der Menschenrechte verschiebt und einem Volk Leben und Land nimmt. 

Was wird dann dort geschrieben stehen? „Es gab ein Volk, und es wurde ausgelöscht“? Wird eine Spur von uns in die Geschichte eingehen, auch wenn wir nicht mehr da sind? Werden wir zu einem Mythos, einer Volkssage, einer Geschichte, die von Eltern an Kinder weitergegeben wird, über diejenigen, die einst hier lebten? Jedes Schreiben schafft ein Dokument von historischem Wert. Jedes Wort darüber, was hier gerade geschieht, was davor geschah und was wir darüber hören werden, was einst hier war, ist sowohl Zeugnis als auch Vorhersage. Die Zukunft sieht aus wie die Vergangenheit, von der ich gehört habe. Ich schreibe wie Palästinenser:innen, die lange vor mir über die ungewisse Zukunft geschrieben haben, und ich schreibe dasselbe. Sie schrieben auf Arabisch. Ich schreibe bereits in der Sprache der Besatzung. 

Alles, was ich heute lese, jede Nachricht und jede Anzeige, klingt genauso wie vor hundert Jahren. Damals nannten die Menschen die Gräueltaten beim Namen. Vielleicht gab es noch ein gewisses Maß an Scham oder Sorge um den äußeren Schein. Heute klingt alles, was sie sagen, bösartig. Schreiben ist die einzige Möglichkeit, eine Erinnerung zu hinterlassen und am Leben festzuhalten inmitten der fortwährenden Zerstörung. 

*** 

Das Folgende geschah, als die Unterdrückung palästinensischer Bürger:innen Israels und jener, die es wagten, den Krieg zu kritisieren, Gaza zu unterstützen oder zu sagen, dass dort unschuldige Menschen leben, ein neues Höchstmaß erreicht hatte. Ein israelischer Bekannter rief mich aufgebracht an. Er sagte: „Ich habe die Sängerin Dalal Abu Amneh unterstützt, als sich alle gegen sie gewandt haben. Ich habe mich für ihr Recht eingesetzt, zu sagen, was sie will, und sie gegen den Vorwurf, Terror zu unterstützen, verteidigt. Aber jetzt nehme ich das alles zurück. Sie ist nicht so unschuldig, wie ich dachte.“

Was sich geändert habe, wollte ich wissen. Er antwortete: „Sie hat Volkslieder über Märtyrer und Palästina gesungen. Sie bezeichnet Israel als Palästina.“ – „Nun“, sagte ich, „ich nenne Israel auch Palästina.“ Und ich erzählte ihm, dass palästinensische Volkslieder bei Hochzeiten und sogar bei Beerdigungen voller Hommagen an Shahids sind, an diejenigen, die ihr Leben für ihr Volk oder ihren Glauben opfern. „Sollten wir das vielleicht auch verbieten?“ Ich weiß nicht mehr genau, wie das Gespräch endete. Aber ich erinnere mich, dass er etwas sagte wie: „Ich rede gerne mit dir, weil du mir die Wahrheit nicht vorenthältst, auch wenn sie wehtut. Bei anderen arabischen Bekannten habe ich das Gefühl, dass sie nicht offen sind.“ Ich wurde sarkastisch. „Oh, du magst also Offenheit.“ Also erinnerte ich ihn daran, dass die meisten arabischen Bekannten von Jüdinnen und Juden in Israel entweder ihre Dienstleister oder Untergebenen sind. Alle leben in einer Realität jüdischer Vorherrschaft. Alle haben Angst, ihre politischen Ansichten zu äußern. 

Seit den Tagen der Militärregierung in Israel nach 1948 ist es unseren Eltern und Großeltern verboten gewesen, zu sagen, was sie wirklich denken. Sie wurden verhaftet, strafrechtlich verfolgt, aus ihren Jobs entlassen, ins Exil geschickt, nur weil sie das Wort „Palästina“ ausgesprochen hatten. 

Ein solches Gespräch hätte vor zehn Jahren niemals stattfinden können. Damals war ich Anfang 20, ich war neu in der Großstadt und hatte meine ersten ungefilterten Begegnungen mit Israelis. Ich hatte Angst vor ihnen. Ich wusste, dass ich einen hohen Preis würde zahlen müssen, wenn ich meine Meinung offen vertrete. Ich hatte sogar Angst, dass sie enttäuscht sein würden, wenn sie herausfänden, wer ich wirklich war. Ich versuchte, die Wahrheit zu verbergen. Ich versuchte zu überleben. Außerdem hatte mein Vater mich gewarnt, ich solle nicht zu viel über Politik sprechen. 

Es ist ein offenes Geheimnis: Unter uns sagen wir Palästina. Auf Hebräisch sagen wir Israel. Aber die Israelis dürfen das nicht wissen. Wann genau ich „Israel“ und wann ich „Palästina“ sage? Mir ist klar geworden, dass ich in bürokratischen, politischen oder diplomatischen Kontexten Israel sage. Aber wenn es in Gesprächen um Romantik, Emotionen, Geschichte oder Zugehörigkeit geht, sage ich „Palästina“. Bis heute verspüre ich jedes Mal, wenn ich „Palästina“ auf Hebräisch sage, einen Nervenkitzel. Es ist fast ein kindliches Gefühl, als hätte ich das System besiegt. 

Zu Beginn der Highschool, als mein politisches Bewusstsein durch den Kontakt mit palästinensischen Nationalbewegungen Gestalt annahm, las ich die Schriften von Ghassan Kanafani, Naji al-Ali, George Habash, Abu Iyad und Abu Jihad. Sie waren meine Vorbilder. Sie waren meine Facebook-Profilbilder. Als ich mein Studium an der Universität Tel Aviv begann, nahm ich ihre Bilder ab. Niemand musste mir sagen, dass so etwas nicht akzeptabel war. Ich wechselte von romantischem Nationalismus zu einer pragmatischen Haltung. 

Meistens habe ich das Gefühl, in der Geschichte zu leben, in ihr festzustecken. Ich kann nicht über die Zukunft nachdenken, sie beschreiben oder gar optimistisch sein. Egal, wohin ich in diesem Land gehe: Überall sehe ich, wie die palästinensische Präsenz schwindet. Ich sehe unsere Nekrose. Wie kann ich in einem solchen Zustand der Verzweiflung denken – mit der Ahnung, dass sich unsere Tragödie wiederholt und auch mich bald verschlingen wird? 

Der Text basiert auf zwei Kommentaren, die Hanin Majadli für die israelische Zeitung Haaretz geschrieben hat und die dort am 21. August bzw. 5. September 2025 erschienen sind. Dieser Beitrag erschien im medico rundschreiben 03/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Hanin Majadli

Hanin Majadli ist eine palästinensische Journalistin.


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