Flächendeckende Zerstörung

Vor aller Augen

21.11.2024   Lesezeit: 9 min  
#nothilfe  #gaza 

In Gaza geht es seit Monaten nur noch ums Überleben.

Von Riad Othman

Für die meisten Menschen in Gaza war das Leben noch nie einfach: weil sie die Enklave aufgrund der israelischen Abriegelung und der damals meist geschlossenen Grenze zu Ägypten noch nie haben verlassen können; weil man in guten Zeiten zehn, in schlechteren vier bis sechs Stunden Strom am Tag hatte; weil der schwer erkrankte Bekannte oder Verwandte allenfalls mit israelischer Sondergenehmigung Zugang zur überlebensnotwendigen Behandlung in einem Krankenhaus in Jerusalem bekommen konnte; weil die Hamas die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unterdrückte und das Gerichtswesen zunehmend seine Unabhängigkeit eingebüßt hatte; kurzum: weil Israel und die Hamas die Grundrechte der Menschen verletzten. Es gab viele, zu viele Gründe, weshalb das Leben in Gaza schon vor dem 7. Oktober 2023 schwierig war.

Es gab aber auch viele Gründe, weshalb Menschen, darunter unsere Partner:innen, Gaza unter keinen Umständen den Rücken kehren wollten. Die Liebe zum Meer war einer, den man häufig hörte. Für die Arbeit der mit uns verbundenen Organisationen stand der Kampf um eben jene vorenthaltenen Rechte im Mittelpunkt, der Glaube daran, die eigene Freiheit erringen zu können. medico unterstützte diese Kämpfe, in Palästina ebenso wie in Israel, in der festen Überzeugung, dass nur gleiche Rechte für alle zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan zu einem dauerhaften Ende des Blutvergießens und einer wie auch immer gearteten Regelung führen könnten. Unsere Partner:innen kämpften an gegen die Übermacht einer Realität, in der Israel mit der Abriegelung Gazas sowie dem Siedlungsbau in Ostjerusalem und der Westbank Fakten schuf, oder vielleicht besser gesagt: unfehlbare Zeichen dafür setzte, dass unser gemeinsames Einstehen für gleiche Rechte gegen ein Besatzungsregime, das Menschenrechtsorganisationen verschiedentlich als Apartheid bezeichnet haben, ein Kampf gegen Windmühlen war. Aufgeben war trotzdem nie eine Option. Und ist es noch immer nicht.

Ausgebombte Zukunft

Der Gazastreifen ist durch die nahezu flächendeckende Zerstörung ziviler Infrastruktur auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte durch die israelische Armee systematisch unbewohnbar gemacht worden. In dieser albtraumhaften Realität tun Organisationen wie die Palestinian Medical Relief Society (PMRS) weiter das, was sie seit Jahrzehnten tun: Sie kümmern sich um diejenigen, die Hilfe brauchen. Angesichts der israelischen Abriegelung und des defizitären Charakters des palästinensischen Gesundheitssektors in Gaza hatte sich die PMRS in den letzten Jahren, auch mit großer Unterstützung des deutschen Entwicklungsministeriums und medicos, auf die Versorgung von Patient:innen mit nicht übertragbaren Krankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes konzentriert. Denn obwohl die Bevölkerung Gazas zu mehr als 50 Prozent aus Kindern und Jugendlichen besteht, wächst die absolute Zahl der über 60-Jährigen stark an.

Für uns war immer klar, dass wir die völkerrechtswidrige Abriegelung nicht würden aufheben können. Uns war auch klar, dass wir mit diesem Beitrag zum Aufbau einer funktionierenden und bezahlbaren Gesundheitsversorgung die Realisierung des Menschenrechts auf Gesundheit für die palästinensische Bevölkerung unter den Bedingungen einer anhaltenden Besatzung nur begrenzt unterstützen konnten. Gleichzeitig hatten PMRS und medico mit dem Zentrum für nicht übertragbare Krankheiten in Gaza eine Referenzeinrichtung geschaffen, die in einer wie auch immer ausgestalteten palästinensischen Selbstbestimmung ein wichtiger Baustein des Gesundheitswesens zur Versorgung von mehr als zwei Millionen Menschen gewesen wäre.

Seit bald einem Jahr ist es damit vorbei. Das Zentrum und das über Jahre aufgebaute Labor, das in der abgeriegelten Enklave einzigartige Diagnoseverfahren bot, die teilweise nur außerhalb des Gazastreifens oder im für die Mehrheit unerschwinglichen Privatsektor zur Verfügung gestanden hatten, wurden bei israelischen Angriffen weitestgehend zerstört. Die meisten der über 160 Mitarbeiter:innen der PMRS in Gaza wurden zu Binnenvertriebenen gemacht. Seit Monaten leistet PMRS unter widrigsten und gefährlichen Bedingungen an über 50 Standorten im gesamten Gazastreifen medizinische Nothilfe. Postoperative Wunden werden in Zelten versorgt, Medikamente inmitten von Ruinen ausgegeben, Familien mit Kindern in Klassenzimmern von UNRWA-Schulen untersucht und ärztlich versorgt. Und dennoch geben sie nicht auf. Sobald es die Lage vor Ort zuließ, kehrten sie zu einem ihrer Gesundheitszentren in Jabalia im Norden des Gazastreifens zurück, beseitigten, so gut es ging, die Schäden und nahmen die Versorgung der dort verbliebenen Menschen wieder auf.

Unseren anderen Partner:innen in Gaza geht es nicht anders. Sie versuchen durchzuhalten und zu überleben, während sie im Verlauf des vergangenen Jahres erleben mussten, wie die Welt sie nicht nur im Stich ließ. Sie erfuhren am eigenen Leib, wie sich die Reden westlicher Regierungen von Völkerrecht, Menschenrechten, Werten und Demokratie als hohle Phrasen entpuppen, wenn es um Palästinenser:innen geht. Dabei sind es eben diese Werte, für die sich die Frauen der Culture & Free Thought Association (CFTA) aus Khan Younis jahrelang eingesetzt hatten. Gegen erhebliche Widerstände und Anfeindungen haben sie Räume für Frauen, Kinder und Jugendliche offengehalten, psychosoziale Unterstützung geleistet und Gemeindeaktivitäten organisiert. Erschöpft wie nie zuvor, haben die Leiterin der Organisation Majeda al-Saqqa und ihre Kolleg:innen heute keine andere Wahl als weiterzumachen. Sie helfen nun ausgebombten Familien und Alten in den Dünen von Al-Mawasi und in den Ruinenlandschaften von Khan Younis oder Deir al-Balah beim Bau von Unterständen für den nahenden Winter. Und sie verteilen Hygieneartikel und Lebensmittel – sofern es etwas zum Verteilen gibt.

Krieg plus Kriminalisierung

In Israel wurde jüngst das Gesetz zur Kriminalisierung des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge UNRWA verabschiedet. Damit sendet nicht nur die israelische Regierung, sondern eine überwältigende Mehrheit der Knesset (einschließlich der hierzulande als gemäßigt betrachteten Parteien) gleich zwei klare Botschaften. Mit der Beseitigung des größten humanitären Akteurs in den besetzten palästinensischen Gebieten soll erstens die Hilfe gegenüber der notleidenden Bevölkerung weiter eingeschränkt werden – obwohl der Internationale Gerichtshof in Den Haag bereits dreimal rechtsverbindlich angeordnet hat, den Zugang für humanitäre Hilfe im erforderlichen Umfang endlich zuzulassen. Zweitens soll das verbriefte Rückkehrrecht der palästinensischen Bevölkerung, die im Zuge der israelischen Staatsgründung zu großen Teilen vertrieben wurde, endgültig beseitigt werden. Hierbei ist zukünftig Rückendeckung aus Washington zu erwarten: Donald Trump hatte schon während seiner ersten Amtszeit, als er die US-Unterstützung der UNRWA einstellte, eben dieses Ziel formuliert. Passend dazu haben sich zwei von drei befragten Israelis einen Wahlsieg Trumps erhofft.

Jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit hat die israelische Regierung weitere Schritte in die Wege geleitet, ausländischen Angestellten internationaler Hilfsorganisationen den Zugang und Aufenthalt in Palästina und Israel zu erschweren. Alles deutet seit Monaten darauf hin, dass die humanitäre Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung massiv eingeschränkt werden könnte. In Gaza wird dies bereits eingesetzt, um die rund 300.000, die sich momentan im Norden der Enklave aufhalten, in die südliche Hälfte zu vertreiben. Außerdem hat die israelische Armee längst damit begonnen, in Gaza eigene militärische Infrastruktur zu errichten. Offenkundig will sie dauerhaft präsent bleiben und das ohnehin winzige Territorium weiter verkleinern. Damit sind zwei weitere von Joe Biden und Annalena Baerbock einst gezogene „rote Linien“ überschritten. Konsequenzen wird es nicht geben.

Unterdessen sehen sich unsere Partnerorganisationen in Israel in Verschärfung der Diffamierungskampagnen der vergangenen Jahre erhöhtem Druck und konkreter werdenden Bedrohungen ausgesetzt. In Reaktion auf einen Redebeitrag des Haaretz-Chefredakteurs Amos Shocken bei einer Konferenz in London, in dem er Sanktionen gegen Israel forderte, brachte der Justizminister Yariv Levin die Möglichkeit eines Gesetzes ins Spiel, solche Aufrufe mit bis zu 20 Jahren Gefängnis bestrafen zu lassen. Guy Shalev, Direktor der medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights – Israel (PHRI), schließt nicht aus, dass ein solches Gesetz als Ausdruck einer noch härteren Gangart wirklich kommt. Ungeachtet dessen hat PHRI im Oktober mit den israelischen Organisationen B’ Tse-lem, Gisha und Yesh Din eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. In ihr werfen sie der internationalen Gemeinschaft vor, sich an „Verbrechen des Aushungerns und der Zwangsumsiedlung“ der Bevölkerung in Nordgaza „mitschuldig zu machen“, wenn sie weiterhin „nur zusehen und abwarten“, anstatt „alle ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen, diplomatischen und wirtschaftlichen Mittel zu nutzen, um dies zu verhindern“. Eine berechtigte Forderung – in Israel womöglich bald eine Straftat.

Deutsches Schweigen

Die Bundesregierung schweigt zu den wachsenden Repressionen und Diffamierungen. Wieder einmal. Schon 2021 hatte die israelische Regierung, ohne überzeugende Beweise vorzulegen, kurzerhand sechs palästinensische Einrichtungen zu Terrororganisationen erklärt. Zwei davon waren und sind medico-Partner, deren Arbeit auch von der Bundesregierung gefördert wurde. Trotz der gemeinsam mit anderen EU-Staaten abgegebenen Erklärung, die so diffamierten Organisationen weiter unterstützen zu wollen, stellte Berlin die Förderung und im Dezember 2023 die Zusammenarbeit vollends ein. Eine politische Gefälligkeit gegenüber der israelischen Regierung nach den Anschlägen des 7. Oktober.

Wenn die Bundesregierung wirklich ein Interesse an einem Ende des Blutvergießens in der Region hat, dann sollte sie die israelische Regierung nicht nur an ihre rechtlichen Verpflichtungen erinnern. Vielmehr sollte sie beginnen, Recht durchzusetzen. Durch fortgesetzte Waffenlieferungen und die deutsche Intervention gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof zugunsten Israels wird die Netanjahu-Regierung aber weiter bestärkt, ihre unverhältnismäßige Kriegsführung fortzusetzen und auszuweiten. In Berlin scheint vergessen zu werden, dass der israelischen Regierung längst Waffenstillstandsangebote vorgelegen haben, die zur Befreiung der verbliebenen Geiseln in Gaza hätten führen können.

Gründe, warum Regierungen wie die deutsche endlich den erforderlichen Druck auf Israel ausüben sollten, liegen auf dem Tisch: die massenhafte Tötung von Zivilpersonen in Palästina und Libanon durch israelische Streitkräfte; mehrere laufende Verfahren gegen den Staat Israel wegen des Verdachts, die Genozid-Konvention und die Konvention zur Abschaffung jeder Form von Rassendiskriminierung zu verletzen sowie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verüben. Deutschland sollte endlich sein ganzes Gewicht einsetzen, um Israel zur Beendigung seiner verbrecherischen Kriegsführung und illegalen Besatzung zu bringen, anstatt es mit Waffen zur Verübung dieser Verbrechen auszurüsten.

Hilfe ist unter den Bedingungen des Krieges in Gaza kaum noch möglich. Die Helfer:innen der medico-Partnerorganisationen sind selbst von Vertreibungen betroffen, haben Verwandte oder Freundinnen und Freunde verloren, viele auch ihr Zuhause. Sie machen weiter. Trotz allem. Wo Hilfsmaßnahmen noch möglich sind, koordinieren sie diese. Dabei geht es um alles, was gerade noch möglich ist: medizinische Hilfe, Essensverteilungen und psychosoziale Unterstützung, Hilfe für Vertriebene und die Errichtung von Notunterkünften.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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