Es ist ein schleichender Prozess sich an Unrecht zu gewöhnen. Am Beispiel Afghanistan kann man der Bundesregierung quasi dabei zuschauen. Angetrieben durch den permanenten migrationsfeindlichen Diskurs ist sie seit einiger Zeit im offiziellen Dialog mit den Taliban. Die Kooperation bei Abschiebungen wird den Taliban mit der Legitimierung ihrer Übernahme der afghanischen Konsulate in Deutschland vergolten. Nach Deutschland geflüchtete Afghan:innen werden den Taliban so auf die eine oder andere Weise ausgeliefert. An bisherige Aufnahmezusagen will sich die Bundesregierung künftig auch gegenüber Menschenrechtsaktivist:innen, Frauenrechtler:innen und Richter:innen nicht mehr halten müssen. Ende November wurde öffentlich, dass 650 Menschen die Aufnahmezusage entzogen wurde. Begründung: Es liege "kein politisches Interesse zur Aufnahme" mehr vor. Daran ändert auch nichts, dass zuletzt eine Gruppe von 535 Menschen einreisen können soll.
Auch um der neuen Selbstverständlichkeit im Umgang mit den Taliban etwas entgegenzusetzen rief die langjährige medico-Partnerorganisation Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO) gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation RAWADARI, der Organisation für Politikforschung und Entwicklungsstudien und Human Rights Defender Plus das Permanent People‘s Tribunal an, um die systematische geschlechtsbasierte Verfolgung des Taliban-Regimes vor Gericht zu stellen und einen Raum für die betroffenen Frauen zu schaffen.
Das People‘s Permanent Tribunal (PPT) wurde 1979 aufgrund ausbleibender Aufarbeitung und fortlaufender Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen in Vietnam und den Militärdiktaturen in Lateinamerika gegründet. Es versammelt fallspezifische Expert:innen, Forensiker:innen, Forscher:innen und Jurist:innen und führt öffentliche Prozesse, wenn internationale oder nationale Gerichte untätig bleiben.
Keinerlei Schutz für Frauen in Afghanistan
Für das Afghanistan-Tribunal waren unter anderem drei UN-Repräsentant:innen berufen: die beiden UN-Sonderberichterstatter:innen Richard Bennett (für die Situation in Afghanistan), Reem Alsalem (zu Gewalt gegen Frauen) sowie Ivana Krsitc (Stellvertretende Vorsitzende der UN-Arbeitsgruppe zur Diskriminierung von Frauen und Mädchen). Zudem war Prof. Mustapha Sheikh (Lehrstuhl für Islamisches Denken und Muslimische Gesellschaften, Universität Leeds) sowie die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi geladen. Den Taliban als de-facto Regierungsbehörde in Afghanistan wurde eine mündliche Präsentation im Verfahren angeboten, das PPT hatte jedoch bis zur Urteilsverkündigung keine Antwort hierzu erhalten.
An mehreren Prozesstagen im Oktober in Madrid und Anfang Dezember in Den Haag wurden Zeug:innen aus Exil und Afghanistan angehört, die über ihre Gewalterfahrungen seit der Machtübernahme im August 2021 berichteten. Auch wenn manche einen Mundschutz bemühten, um in Afghanistan lebende Verwandte nicht zu gefährden, sprachen sie bewusst in aller Öffentlichkeit, um den Taliban die Stirn zu bieten. Für die Einbeziehung von Zeug:innen aus Afghanistan selbst wurde zum Teil auf Audioeinspielungen von Interviews zurückgegriffen, um dem Regime eine Identifizierung zu erschweren.
Die Zeug:innen kamen aus allen Regionen und Provinzen Afghanistans und sind divers hinsichtlich ihrer ethnischen und religiösen Hintergründe. Und doch betonen alle, dass ihre Geschichten stellvertretend stehen für die aller Frauen und Mädchen in Afghanistan: Wie ihnen Grundrechte verweigert und Diskriminierung und Ausschluss Schritt für Schritt institutionalisiert wurden. Systematisch wurde ihnen der Zugang zu Bildung, Gesundheit, einschließlich körperlicher und geistiger Gesundheit, verunmöglicht, bis ihnen schlussendlich ihr Recht auf all dies komplett verweigert wurde.
Durch fehlendes weibliches Gesundheitspersonal werden Frauen und Mädchen nicht mehr behandelt und sterben an eigentlich unkritischen Krankheiten. Das Recht auf Bewegungsfreiheit und körperliche Selbstbestimmung, auf Versammlungsfreiheit, freie Meinungsäußerung und Bürgerbeteiligung wurde Frauen und Mädchen entzogen und sie sind der Gewalt und den Misshandlungen von Patriarchen, Sittenpolizei und Staat ausgeliefert. Ein Folteropfer beschrieb ihre Situation vor Gericht mit den Worten: „Ich wurde aus der Gefängniszelle der Taliban entlassen, aber in eine andere Gefängniszelle gesperrt: die meines Zuhauses.“ Sie sind schutzlos, denn unter der Taliban-Regierung gibt es für Frauen keinen Ort, keine Institution, vor der sie ihre Rechte verteidigen oder ihnen angetanes Unrecht anklagen können. „Was bleibt, ist nur die Flucht“, resümiert eine Zeug:in traurig, die sich heute in einem Flüchtlingslager in Deutschland aufhält.
In der Urteilsverkündung am 11. Dezember 2025 hörten die Opfer und Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt endlich, dass das, was sie erleben und erdulden müssen, gegen geltendes, internationales Recht verstößt und ob der Schwere der geschlechtsspezifischen Verfolgung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet werden muss. Denn es geht in Afghanistan nicht nur um eine Vielzahl misogyner Dekrete oder Gesetze, sondern um ein mit Hilfe aller dem Staat zur Verfügung stehenden formalen, verwaltungstechnischen und repressiven Mittel organisiertes System, das den totalen Ausschluss von Frauen und weiblich gelesenen Personen aus der afghanischen Gesellschaft und jedem Aspekt des Lebens beabsichtigt.
Gender-Apartheid
Die Drastik der Realität macht es schwierig Worte zu finden, um sie abzubilden. Die meisten Betroffenen hielten den Begriff „Gender-Apartheid“ in ihren Zeug:innenaussagen für eine adäquate Bezeichnung, weil sie neben der systematischen Unterdrückung von Frauen den beabsichtigen Charakter des strukturellen Umbaus der Gesellschaft in den Vordergrund rückt. Trotzdem kann auch dieser Begriff nicht alles fassen: Zum einen wird er der Komplexität einer kolonialen (internationalen) Verantwortung für die aussichtslose Lage der Frauen nicht gerecht. Zum anderen schließt er Opfer aus, die aus Gründen der Herkunft, Ethnie, Religion oder als Angehörige von Minderheiten Gewalt erfahren.
Die Richter:innen folgten schließlich den Ausführungen der Zeuginnen. Sie erklärten, dass das Verbrechen „Gender-Apartheid“ völkerrechtlich als ein Verbrechen der Menschlichkeit geltend gemacht werden kann. In der Urteilsverkündung wurde die gesamte Gruppe der Taliban, alle Ministerien sowie die Talibanführung der schwerwiegenden, systematischen, alle Lebensbereiche der Frauen umfassenden geschlechtsspezifischen Verfolgung für schuldig befunden.
Was ist erreicht?
Für die Opfer und Überlebende von Gewalt der Taliban ist das Urteil ein großer Schritt, da das ihnen zugefügte Leid dokumentiert und anerkannt und ihnen in aller Öffentlichkeit Recht zugesprochen wurde. Durch die detailreiche Dokumentation und Beweisführung setzt das Urteil Staaten und internationale Institutionen unter Druck, denn die „Beweise sind stichhaltig und überzeugend“ so Richard Bennett.
Da das People‘s Permanent Tribunal nach internationalen juristischen Standards der Beweissicherung und Prozessführung arbeitet, kann das Urteil auch als Referenzpunkt für mögliche weitere Verfahren dienen. Die Verurteilung kann argumentativ gegen das Bestreben einiger Staaten – unter anderem Deutschland – genutzt werden, die Beziehungen zu den Taliban zu normalisieren. Der Urteilsspruch unterstreicht zudem, dass von jeglichen Abschiebungen nach Afghanistan abgesehen werden muss und liefert Argumente für Asylrechtsverfahren. Nicht zuletzt wurden im Urteil 10 Täter namentlich genannt. Der Internationale Strafgerichtshof (ISGH) hat bisher allerdings erst zwei Haftbefehle gegen Vertreter der Taliban ausgestellt.
Sichtbarkeit für die afghanischen Frauen
Das über 85 Seiten schwere Gerichtsurteil ist öffentlich zugänglich und einsehbar und ein Fundus von besonderer Bedeutung: Es ist die erste juristische Dokumentation und Systematisierung des geschlechtssegregierenden Gesellschaftsumbaus in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban 2021.
Das Urteil des Tribunals strahlt weit über Europa hinaus. Es ermöglicht auch eine Verständigung und Solidarisierung zwischen verschiedenen Gruppen der Opfer und Überlebenden von geschlechtsspezifischer Verfolgung. Ihrem Kampf gegen das Auslöschen der Frauen aus dem gesamten öffentlichen Leben in Afghanistan wurde durch das Urteil Legitimität und Geltung verschafft. Dem realen Gefühl der Frauen aus Afghanistan, dass sie von der Weltöffentlichkeit vergessen wurden, konnte ein Mindestmaß an Sichtbarkeit entgegengestellt werden.
Der Ausgang dieses 55. Gerichtsverfahrens des PPT ist gleichzeitig Ausgangspunkt für weitere Begegnungen, Mobilisierungen und Organisierung im Exil sowie in Afghanistan – für ein selbstbestimmtes und freies Leben aller in Afghanistan. Auch wenn dieses Ziel so fern scheint wie noch nie.
Die medico-Partnerorganisation AHRDO setzt sich seit über 15 Jahren für die Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen in Afghanistan ein. Ihre mit Betroffenen mühsam aufgebaute Sammlung von Erinnerungsboxen ist mittlerweile zu einem digitalen Museum ausgebaut worden, das nicht nur die weltweit zerstreute afghanische Diaspora zusammenbringt. Es ermöglicht auch die Dokumentation von Beweisen und Zeug:innenaussagen, um sie den Aufarbeitungsmechanismen der Vereinten Nationen zugänglich zu machen. In ihrer Arbeit mit den Betroffenen legt AHRDO besonderes Augenmerk auf psychosoziale Dimensionen, Traumabearbeitung und Körperarbeit und stärkt kollektive Bewältigungs- und Widerstandsformen.




