Interview

Schwierige Hilfe in Aleppo

Zehn Tage wurden Nothelfer:innen des Kurdischen Roten Halbmonds daran gehindert, Hilfe für die Opfer des Erdbebens zu leisten. Fee Baumann berichtet, was sie jetzt tun können.

medico: Ein Hilfskonvoi des Kurdischen Roten Halbmondes wurde über mehrere Tage daran gehindert, Hilfsgüter in die Region Aleppo zu bringen. Gestern habt ihr es endlich geschafft. Was ist passiert?

Fee Baumann: Insgesamt 10 Tage lang steckte unser Hilfstransport am letzten Checkpoint vor dem Gebiet unter Kontrolle des Assad-Regimes fest. Die syrische Armee verlangte von uns, dass wir die Hälfte unserer Hilfsgüter für die Betroffenen des Erdbebens an sie übergeben. Das haben wir natürlich abgelehnt, denn wir wissen nicht, was damit passiert.

In diesen Tagen wurde auf unterschiedlichen Ebenen Gespräche geführt. Die UN hat sich eingeschaltet und mit dem syrischen Außenministerium gesprochen. Italien und auch Vertreter anderer Staaten haben mit syrischen Offiziellen gesprochen und versucht zu vermitteln. Wir selbst hatten Kontakt mit der Stelle in Aleppo, die die Durchfahrtsgenehmigung erteilen muss. In all diesen Gesprächen sind sie nicht von der Forderung der Materialabgabe abgerückt. Und wir haben uns bis zuletzt geweigert, irgendetwas abzugeben. Schon vor dem Erdbeben war es schwer, Hilfsgüter in diese Region zu senden, die dann auch dort ankommen wo sie gebraucht werden. Damit haben wir Erfahrung.

Am Ende fanden wohl Gespräche auf höchster UN-Ebene in Genf statt. Vorgestern Nacht erreichte uns dann endlich die Nachricht, dass wir den Checkpoint passieren können. Wir sollten nur auf ein Auto warten, das uns abholen würde. Das ist allerdings nie aufgetaucht und wir haben eine unbequeme Nacht im Auto verbracht. Gestern Nachmittag sind wir dann zum Checkpoint des syrischen Regimes gefahren, wo wir erneut durchsetzen mussten, dass wir nichts abgeben. Nach einigem Hin und Her konnten wir dann allerdings doch weiterfahren und haben mittlerweile Sheba erreicht, den Ort, an dem viele Flüchtlinge aus Afrin leben und wo das Erdbeben viel Zerstörung angerichtet habt. Die Trucks mit den Hilfsgütern sind weiter nach Aleppo gefahren und dort angekommen.

Welche Hilfsgüter bringt ihr zu den Betroffenen und wen soll die Hilfe erreichen?

Die Hilfsgüter werden in Aleppo in den Stadtteilen Sheikh Maqsood und Al Ashrafia verteilt. Die Trucks haben Zelte, Matratzen, Decken, etwas Diesel zum Heizen und Winterkleidung geladen. Zurzeit herrschen hier nachts Minusgrade und die Menschen verbringen die Nächte aus Angst vor neuen Beben immer noch draußen. Erst vor zwei Tagen gab es ja ein sehr starkes weiteres Erdbeben, das in Aleppo weitere Häuser zum Einsturz gebracht hat. Die beiden genannten Stadtteile werden hauptsächlich von Kurd:innen bewohnt, in denen bisher keine oder nur sehr wenig Hilfe angekommen ist. Diese Viertel waren schon immer stark benachteiligt, die Infrastruktur ist sehr schlecht, die Häuser waren infolge des Krieges ohnehin schon schwer beschädigt.

Wie ist die Situation heute, über zwei Wochen nach dem Erdbeben?

Als Kurdischer Roter Halbmond arbeiten wir schon lange in diesen Gebieten. Wir haben Teams vor Ort, die Erfahrung damit haben, unter den schwierigen Bedingungen, die dort herrschen, medizinische Hilfe zu leisten. In Sheba betreuen wir insgesamt fünf Camps mit Geflüchteten aus Afrin, insgesamt etwa 15-20.000 Menschen. Hier betreiben wir kleine Kliniken, die allerdings nur sehr dürftig ausgestattet sind, weil die Region kaum Unterstützung erhält. Internationale Organisationen haben kaum Möglichkeiten, diese Gebiete zu erreichen, denn sie müssen dafür syrisches Regime-Gebiet oder die türkisch besetzen Gebiete passieren. Das lassen aber weder das syrische Regime noch die türkischen Milizen zu. Selbst jetzt, nach dem Erdbeben, kommt hier kaum Hilfe an, obwohl diese Orte so stark betroffen und viele Häuser eingestürzt sind. Menschen sind ums Leben gekommen und viele obdachlos geworden.

Was könnt ihr jetzt, nachdem eure Transporter und Nothelfer:innen endlich angekommen sind, tun?

Zum Glück gab es nach dem jüngsten Beben keine Schwerverletzten – soweit wir wissen. Nun, da wir endlich mit einem größerem Team aus Ärzt:innen, Sanitäter:innen, Hilfskräften und zwei Ambulanzen vor Ort sind, können wir mehr medizinische Hilfe leisten. Wir haben auch eine Gynäkologin dabei, um Schwangerschaftsverläufe zu kontrollieren. Wir werden uns auch ein erstes Bild über die beschädigte und kritische Infrastruktur verschaffen. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Wasserversorgung und den Abwassersystemen.

Die Frage ist auch, wie viele Vermisste es noch gibt. Diese müssen möglichst schnell unter dem Schutt geborgen werden. So versuchen wir, Infektionsherde zu vermeiden. Die Cholera-Krise ist noch nicht vorbei und die Wasserversorgung war schon vorher extrem problematisch. Fehlende sanitäre Anlagen und beschädigte Abwassersysteme sind ein hohes Risiko für schwere Infektionen. Deshalb haben wir hierfür eine eigene Abteilung, die nötige Reparaturen vornehmen kann. Auch hier vor Ort gibt es fähige Ingenieure. Wenn sie ausreichend Material haben können sie arbeiten.

Die Schäden sind groß und eure Hilfe wird wahrscheinlich noch lange benötigt. Wie könnt ihr das leisten?

Wir werden überwiegend mit Personal von hier zusammenarbeiten und versuchen, immer wieder Teams aus Qamishlo zu schicken, um uns ein eigenes Bild über die Lage verschaffen und sicherstellen zu können, dass die Hilfe wirklich dort ankommt, wo sie benötigt wird. Dann müssen wir die Lage in den Behelfscamps verbessern, die über Nacht aufgebaut wurden. Etwa 15.000 Menschen aus Aleppo leben in Notunterkünften, weil sie nicht in ihre Häuser zurückkönnen. Wir benötigen viel mehr Zelte, Decken, Matratzen, Heizmöglichkeiten, Essen und Trinkwasser. Und wir müssen die Infrastruktur verbessern, das heißt sanitäre Anlagen, Abwassersysteme und Küchen müssen erweitert bzw. erst einmal geliefert werden.

Auch die medizinische Versorgung muss sich natürlich dem Zuwachs an Menschen anpassen. Wir benötigen mehr medizinisches Equipment und Medizin, das Personal muss aufgestockt werden. Und dann ist da die Frage, wie es mit den zerstörten Wohnhäusern weitergeht. Wir werden sicher nicht genügend Kapazitäten haben, die ganzen Privathäuser wiederaufzubauen. Daher rechnen wir auch damit, dass die Menschen länger in den Notcamps ausharren müssen und weitere dazu kommen werden.

Ihr habt angeboten, auch jenseits der kurdischen Siedlungsgebiete Nothilfe zu leisten, wo sie nach dem Erdbeben gebraucht wird. Seid ihr da weitergekommen?

Solange unsere Kapazitäten ausreichen, sind wir froh, Hilfe anbieten zu können, wo auch immer diese benötigt wird. Dafür sind wir auch bereit, mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond (SARC) zu kooperieren. Wir haben das schon häufiger versucht, aber nicht besonders gute Erfahrungen gemacht. In der aktuellen Notsituation finden neue Gespräche statt, zurzeit über die UN als Vermittlerin. Wir hoffen darauf, direkte Absprachen treffen zu können, aber bisher sind alle Angebote gescheitert. Zudem ist unsere Erfahrung leider, dass Vereinbarungen oft nicht sehr verlässlich sind.

Wir hatten den SARC vor etwa anderthalb Jahren dabei unterstützt, freien Zugang nach Nordostsyrien zu bekommen. Jetzt hoffen wir auf ein Entgegenkommen. Die humanitären Prinzipien sollten besonders in solchen Notlagen an erster Stelle stehen. Leider scheiterten unsere Versuche der Kooperation an politischen Differenzen, die SARC ist sehr regimetreu und lehnt kurdische Organisationen prinzipiell ab. Dabei bestehen wir nicht einmal nur aus Kurd:innen. Wir sind ein breit aufgestelltes Team aus Araber:innen, Jesid:innen, Alevit:innen etc.

Vor längerer Zeit haben wir sogar Bereitschaft signalisiert, unseren Namen zu ändern, zum Beispiel inRoter Halbmond NES (Nordostsyrien) oder ähnliches. Diese Gespräche fanden aber immer ein schnelles Ende, wenn sie überhaupt begonnen werden konnten. Dass selbst in so seiner katastrophalen Notlage, wie nach diesem verheerenden Erdbeben die politischen Differenzen über der akuten Nothilfe stehen, ist fatal und zeigt, wie schwierig es im syrischen Kontext ist, Hilfe zu leisten. Die Konsequenzen tragen die Menschen, zu denen die Hilfe viel zu spät oder gar nicht durchdringt.

Das Interview führte Anita Starosta.

medico arbeitet seit vielen Jahren mit dem Kurdischen Rote Halbmond in Nordostsyrien zusammen. Mit Unterstützung von medico versorgen die Nothelfer:innen der Organisation in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten Menschen mit Hilfsgütern, bauen Notunterkünfte auf, verteilen Decken und Essen. Auch in den kommenden Wochen und Monaten werden sie den obdachlos gewordenen Menschen zur Seite stehen und auch diejenigen unterstützen, die aus den Erdbebengebieten fliehen mussten.

Veröffentlicht am 22. Februar 2023

Jetzt spenden!