EU-Wahl

Nichts Gemeinsames als Abschottung

23.05.2024   Lesezeit: 7 min

Mit der Reform ihres Asylsystems zeigt die Europäische Union einmal mehr, dass Menschenrechte nicht ihre verbindende Grundlage sind.

Von Valeria Hänsel

Am 10. April verabschiedete das EU-Parlament den neuen Pakt für Migration und Asyl zu und besiegelte damit die Reform des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trat gemeinsam mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola vor die Kameras und erklärte: „Heute ist ein wahrhaft historischer Tag. Nach Jahren intensiver Arbeit wird das Migrations- und Asylpaket nun Wirklichkeit. Dies ist ein gewaltiger Erfolg für Europa.“

Diese Worte stehen in krassem Gegensatz zu den Inhalten des Pakts. Mit der Zustimmung des Europäischen Parlaments zur Reform des GEAS wurde ein gefährlicher Trend der Entrechtung festgeschrieben. Der Pakt ist eine verpasste Chance: Die Möglichkeit, wirksam gegen illegale Pushbacks vorzugehen und ein gerechtes Aufnahmesystem zu schaffen, ist verstrichen. Stattdessen werden die Rechtsstandards so weit abgesenkt, dass die Mitgliedsstaaten nach eigenem Gutdünken ihre Abschottungsmaßnahmen nun auch ganz legal fortsetzen können.

Geopolitische Masse

So führt etwa die Screening-Verordnung eine EU-weite Vorprüfung von Asylanträgen ein. Dafür wird auf die „Fiktion der Nichteinreise“, ein spezielles juristisches Konstrukt, zurückgegriffen. Asylsuchende werden dabei in einem Screening-Verfahren vorselektiert: Menschen, die eine Verbindung zu einem sogenannten »sicheren Drittstaat« haben oder aus Ländern kommen, bei denen die durchschnittliche Asylanerkennungsrate bei unter 20 Prozent liegt, werden in ein Grenzverfahren geschleust. Dieses zielt auf die zügige Ablehnung ihrer Asylanträge bzw. ihre Einstufung als „unzulässig“. Die Betroffenen sollen dann schnell wieder in ihre Herkunftsländer oder sogenannte „sichere Drittstaaten“ abgeschoben werden.

So weit, so drastisch. Doch dieses Verfahren ging vielen Staaten noch nicht weit genug. Deshalb erlaubt die sogenannte Krisenverordnung, Grundrechte im Falle einer nicht weiter definierten Krise und „höherer Gewalt“ vollständig außer Kraft zu setzen. Wird argumentiert, dass Geflüchtete von anderen Staaten oder „feindseligen nichtstaatlichen Akteuren“ instrumentalisiert werden, können je nach staatlichem Interesse diverse Grundrechte ausgehebelt werden. So können zum Beispiel alle Schutzsuchenden in Grenzverfahren aufgenommen werden, um sie direkt an der Grenze auszuweisen. Vor Augen hatte die EU Situationen wie an der polnisch-belarussischen Grenze, wo Geflüchtete gewaltsam zurückgepusht und in den Wäldern festgesetzt werden, da sie nicht als Menschen, sondern als „hybride Waffen“ gesehen werden. Damit trägt die EU ihre geopolitischen Konflikte auf dem Rücken besonders vulnerabler Menschen aus und negiert, dass sie sich erst durch die omnipräsente Problematisierung von Migration und Migrations-Deals mit Transitstaaten erpressbar macht.

In Sachen Umverteilung von Geflüchteten innerhalb der EU wurde das Ersteinreise-Prinzip aus der Dublin-Regelung in der GEAS-Reform nicht angefasst. Zwar wurde der Name Dublin durch den Begriff Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung ersetzt, doch von einer innovativen, gerechten Verteilungsregelung kann keine Rede sein Antragsteller:innen dürfen nach wie vor nicht mitentscheiden, in welchem Staat sie Asyl beantragen und leben wollen – somit wird die EU auch nicht lösen können, was sie als „Problem der Sekundärmigration“ bezeichnet, nämlich, dass Menschen sich ihr Recht auf Bewegungsfreiheit innerhalb der EU selbst erkämpfen. Das sogenannte Prinzip der „flexiblen Solidarität“ gibt mit der Aufnahme von nur 30.000 Menschen pro Jahr aus den Staaten mit hohem Migrationsaufkommen eine unrealistisch niedrige Zahl vor, von der sich Mitgliedsstaaten durch eine Zahlung von 20.000 Euro pro Kopf für jeden nicht-aufgenommenen Menschen auch noch freikaufen können. Doch nicht mal dies scheint umgesetzt zu werden. So hat beispielsweise Polens Ministerpräsident und ehemaliger EU-Ratspräsident Donald Tusk direkt nach der Einigung angekündigt, weder Menschen aufzunehmen noch in den Solidaritätsfonds einzahlen zu wollen.

Wie kann es dazu kommen, dass eine derartige Aushebelung von Grundrechten Eingang in den europäischen Rechtsrahmen findet?

Faktenresistenz

Offensichtlich leidet die Europäische Union an einem Demokratiedefizit und einer Ignoranz gegenüber Fakten. Dabei finanziert sie millionenschwere Forschungsprojekte, in denen ihr Wissenschaftler:innen aus ganz Europa immer wieder bestätigen, dass ihre Migrationspolitik – auch gemessen an den eigenen Zielen – nicht funktioniert.

Nehmen wir das Beispiel des EU-Türkei-Deals und der griechischen Hotspot-Inseln, die schon lange ein Laboratorium europäischer Migrationspolitik bilden und deren Asylregelungen weitgehend als Vorbild für die GEAS-Reform herangezogen wurden. Auch dort gibt es ein Screening und beschleunigtes Grenzverfahren, in dem Asylanträge mit dem Verweis auf die Türkei als „sicherem Drittstaat“ als unzulässig abgelehnt werden können, ohne sie zu prüfen. Dabei führt die Türkei Massenabschiebungen nach Syrien und Afghanistan durch, registriert seit 2018 nur noch in Ausnahmefällen Schutzanträge und besitzt selbst auf dem Papier keinen Schutzstatus, der den Ansprüchen der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechen würde. Ebenso wenig wird von der EU in Erwägung gezogen, dass seit 2020 keine einzige der nach dem Deal vorgesehenen Abschiebungen in die Türkei durchgeführt werden konnte, da sich die Türkei diesen verweigert. Stattdessen werden gewalttätige illegale Pushbacks auf hoher See und am Grenzfluss Evros durchgeführt, nicht selten mit Todesfolge für die Betroffenen. Was bleibt, sind hochgerüstete Lagerkomplexe auf den griechischen Inseln, die sogenannten Closed Controlled Access Centres, die die Infrastruktur des Grenzverfahrens bilden und bald auch in weiteren Ländern aus dem Boden sprießen sollen. Doch niemand weiß, wohin mit den dort im Schnellverfahren abgelehnten Menschen.

Die Resistenz gegenüber Fakten betrifft auch die deutsche Bundesregierung. Das Innenministerium hat auf seiner Homepage einen Faktencheck zum GEAS erstellt. Unter den als „Behauptung“ markierten Sätzen findet sich beispielsweise die Aussage: "Mit der Einigung wird das Recht auf Asyl eingeschränkt", was dann in wenigen Sätzen vom BMI abgetan wird. So erklärt das Ministerium: „Das Recht auf Asyl wird durch die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht eingeschränkt.“ Menschen, die in der EU ankommen, hätten in jedem Fall die Möglichkeit, Asyl zu beantragen. Ihre Asylanträge würden geprüft und Menschenrechte müssten eingehalten werden. Es scheint, dass die Bundesregierung das Grenzverfahren, bei dem Asylanträge ohne inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe als unzulässig abgelehnt werden können, entweder selbst nicht verstanden hat oder bewusst verschleiern möchte.

Was tun in dieser post-faktischen Zeit? Die Linke hat immer wieder versucht, die Debatten im Bundestag mit Darstellungen von Migrationsforscher:innen und juristischen Expert:innen zu beeinflussen – ohne Erfolg. Denn die Kommission hat alles darangesetzt, die Reform noch vor den Europawahlen abzuschließen. Im seit 2020 andauernden Trilog-Verfahren zwischen Kommission, Rat und EU-Parlament hat das Parlament kaum Einfluss auf die Debatte nehmen können. Während des komplexen EU-Gesetzgebungsprozesses hat es die gesellschaftliche Linke verpasst, die wesentlichen Fragen an den richtigen Stellen zu politisieren. In den meisten EU-Ländern wurde die Reform überhaupt nicht in der Öffentlichkeit diskutiert. Hinzu kam, dass die Weichen schon im Erstentwurf der Kommission auf Abschottung gestellt waren. In den Verhandlungen im Rat ging es dann nur noch um Detailfragen: So stritten etwa die Grünen darum, ob nun alle Kinder oder nur manche von ihnen unter Haftbedingungen an den Grenzen festgesetzt werden sollten.

Das Parlament hatte in der Folge kaum noch Spielräume. Progressive Modelle wie beispielsweise die Idee einer „Matching-Plattform“ zwischen Städten und Gemeinden, in der die Aufnahme von Geflüchteten über einen europäischen Fonds finanziert werden könnte, waren in den GEAS-Verhandlungen tabu. Dies liegt jedoch nicht nur am Demokratiedefizit der EU: Wenn die gesellschaftlichen und innenpolitischen Weichen auf Abschottung gestellt sind und sich Grüne und selbst Linke Politiker:innen nicht mehr uneingeschränkt zu Menschenrechten für alle bekennen, bildet sich diese Position auch nicht auf europäischer Ebene ab.

Den eigenen Ast abgesägt

Der Druck, letztlich eine Einigung im Jahrelangen GEAS-Prozess finden zu müssen, entstand auch dadurch, dass die EU-Kommission im Zuge der Europawahlen einen weiteren Rechtsruck befürchtet. Dies hätte einen Kompromiss im jahrelang andauernden Reformprozess in noch weitere Ferne gerückt. Doch manchmal ist keine Einigung besser als eine schlechte. Denn der Weg, den die EU einschlägt, ist brandgefährlich. Zur Erinnerung: Das europäische Asylrecht beruht auf der Lehre aus zwei Weltkriegen und dem Holocaust. Hätte es in den 1930ern ein europäisches Asylrecht gegeben, wären unzählige Menschenleben vor der deutschen Vernichtungsmaschinerie gerettet worden.

Mit der Aufkündigung der Idee, einen gemeinsamen Schutzraum für Menschen auf der Flucht zu etablieren, sägt die Union den Ast ab, auf dem sie sitzt. Denn auf europäischer Ebene gilt dasselbe wie auf nationaler: Der Rechtsruck lässt sich nicht verhindern, indem sich Parteien der Mitte rechte Positionen aneignen. Im Gegenteil, sie ebnen damit den Weg für den wachsenden Autoritarismus, rassistische Ideologien und Ausgrenzung. Auf EU-Ebene wurden nun Instrumente geschaffen, die Eingang in gültiges Recht finden und die bereits gängige Aushebelung zentraler Grundrechte an den Grenzen normalisieren werden. Dies trifft nicht nur „die Anderen“. Denn die Ausgrenzung eines Teils der Gesellschaft wird sich auch auf den Zustand der Demokratie im Allgemeinen und den Rest der Gesellschaft auswirken. Menschenrechte verlieren ihre Wertigkeit, wenn sie nicht für alle gleichermaßen gelten. Wer hinter Mauern lebt, wird zunehmend von ihnen bestimmt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in ak 704 vom 21. Mai 2024.

Valeria Hänsel

Valeria Hänsel ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration in den Regionen Osteuropa, östliches Mittelmeer und Nahost tätig.


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