Würde Augusto Pinochet noch leben, er hätte wahrscheinlich rund um den 50. Jahrestag des Putsches in Chile seine helle Freude am Zustand der Welt, insbesondere an dem der Massen. Musste er seinerzeit noch mit Hilfe des Militärs und der CIA gegen eine sozialistische Regierung und eine selbstbewusste Gesellschaft putschen, können sich autoritäre Führer heute in weiten Teilen der Welt auf politische Mehrheiten verlassen oder wissen diese zumindest in greifbarer Nähe. Nicht nur in Chile.
Die autoritäre Gefahr, sie kommt heute längst nicht nur von oben. Das ist vielleicht das Bedrohliche an dem, was sich in vielen Ländern und Regionen der Welt seit einigen Jahren ereignet. Es herrscht eine Distanz zu den Institutionen einer oftmals bürgerlichen politischen Kultur, die nicht soziale Alternativen nährt, sondern als Ressentiment gegen jene mobilisiert wird. Und es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass das, was sich da zusammenbraut, die potentielle Massenbasis für einen neuen Faschismus ist.
Allen Unterschieden zum Trotz handelt es sich um ein globales Phänomen, das den Westen mit dem Osten verbindet. Nicht bloß Indien oder Russland sind autoritär regiert. Italien hat eine rechte Regierung, in der mehrere bekennende Faschisten sitzen. Frankreich steht kurz vor Le Pen, die USA sind nur knapp und nur vorerst einer zweiten Präsidentschaft von Donald Trump entgangen. Und auch in Deutschland ist die AfD in manchen Regionen mittlerweile stärkste Kraft und entwickelt sich im gesamten Land zu einer Volkspartei. Der deutsche wie der europäische Osten sind gesellschaftlich in einer dramatischen Lage; während die Aufrüstung der Ukraine zur Verteidigung von Demokratie und Freiheit medial orchestriert wird, herrscht über die national befreiten Zonen im eigenen Vorgarten bedrückendes Schweigen.
Autoritärer Liberalismus
Während sich seit dem Beginn des Ukraine-Krieges der Neoliberalismus westlicher Prägung mit neuem Schwung als wertebasierter Liberalismus inszeniert und als geopolitisches Gegenstück zum Autoritarismus östlicher Prägung auftritt, sind in der politischen Theorie die Prozesse in Chile vor 50 Jahren als „autoritärer Liberalismus“ beschrieben worden. Nicht nur ein sprachlicher Zufall: Die Durchsetzung des Neoliberalismus und der planmäßige Übergang der Diktatur in eine neoliberale Demokratie beruhten auf einem starken Staat, dessen politische Kräfte Polizei und Militär waren. Sie beseitigten im Putsch die Kräfte gesellschaftlicher Gegenmacht: die Linke, die Gewerkschaften, die sozialstaatlichen Institutionen und so gut wie alle anderen popularen Kräfte. Die Niederschlagung aller dieser Machtressourcen einer von den Eliten als „unregierbare Gesellschaft“ verstandenen Bevölkerung schuf gewaltsam den Rahmen, in dem sich dann das Modell der neoliberalen Freiheit der Ökonomie und der Privatexistenz etablierte.
Die Entmachtung der Gesellschaft und des Gemeinsamen, die zur Folge hat, dass das Leben fast ausschließlich innerhalb des Kommandos des Kapitals und als vereinzelte Privatexistenz zu führen ist, war der zentrale Eingriff des neoliberalen Gesellschaftsmodells, das mit Macht und Gewalt durchgesetzt wurde. Dem Paradies aus Arbeit, Konsum und Privatvergnügen geht die gewaltsame politische Entmachtung der Menschen voraus. Es lohnt sich, das heute zu erinnern: Während des Beginns des russischen Angriffskrieges war ich mit einigen medico-Kolleg:innen in Chile. Gefragt danach, was sie von der neu aufscheinenden geopolitischen Herausforderung halten, in der der liberale Westen sich gegen einen autoritären Osten verteidigt, antworteten die befragten Chilen:innen kurz und bündig: „Das ist in Chile kein Problem. Hier gehört beides zusammen.“ Die Zutaten des Neoliberalismus sind Liberalismus und Autoritarismus.
Die rechte Rebellion verstehen
Sturm aufs Capitol, Pegida oder Bolsonarismus: Auch um die rechte, autoritäre Revolte zu verstehen bleibt der Zusammenhang von Autoritarismus und Liberalismus ein Schlüssel. Die Debatte darüber wird allerdings hierzulande nicht nur auffällig oberflächlich, sondern seit Beginn des Ukraine-Kriegs oft auch nur noch in Seitenspalten geführt. Sie passt nicht zur neuen geopolitischen Rollenverteilung. Erich Fromm hat dies einmal als politische Projektion beschrieben: „Wesensmerkmal projektiven Denkens ist, das in uns steckende Böse auf eine außen stehende Gestalt zu projizieren, so dass diese zum Inbegriff des Bösen wird, während wir selbst dabei vollkommen gut und rein sind. Dieser Projektionsmechanismus ist in der Regel im Krieg wirksam“.
Die geopolitische Lage und die neue Beschwörung des Liberalismus, diesmal mit dem Präfix Neo, können allerdings nur schwer darüber hinwegtäuschen, dass jener ein erneut an sich selbst scheiterndes Unterfangen ist. Und das nicht zum ersten Mal. Im Jahr 1944 schrieb Hannah Arendt einen Aufsatz über die Massenbasis des Faschismus. Sie sah diese selbst in jener Zeit nicht bloß in barbarischen Horden, sondern im entfesselten „Spießer“ beheimatet. Nicht Hitler oder Göring, sondern Himmler sei der soziologische Prototyp der Grausamkeit. Er ist für sie eine Version der Bürgerlichkeit, die von jeder Beziehung zur Welt abgeschnitten und bloß noch der Verfolgung privater und familiärer Interessen verpflichtet ist. Für Arendt war Deutschland dafür eine herausragende Brutstätte, nicht etwa, weil die Brutalität und der Fanatismus hier so enorm, sondern weil die Rolle des Privaten so groß und das Öffentliche historisch so unterentwickelt seien.
Nicht etwa politischer Fanatismus, sondern Egoismus und Weltabgewandtheit schufen die Massenbasis der Nazis, „hinter der chauvinistischen Anmaßung von ‚Treue‘ und ‚Mut‘ verbirgt sich ein verhängnisvoller Hang zu Untreue und zum Verrat aus Opportunismus“, so Arendt. Man war damals mehr auf der Höhe der heutigen Zeit als heute: Die Frage, wie das Bürgerliche ins Autoritäre umschlagen kann, wie schnell die unüberbrückbar scheinende Distanz überwunden ist, stand zurecht im Zentrum. Max Horkheimers Satz „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ steht ebenso dafür. Doch was kann er heute bedeuten? Mindestens vielleicht, dass die rechte Rebellion auch Ausdruck einer neoliberalen Subjektivität ist, die an die gemachten Versprechungen schlicht nicht mehr glaubt und sich nun aggressiv gegen sie wendet, gegen „die da oben“, von denen man sich betrogen fühlt.
Souveränismus und Selbstentmachtung
Es hilft allerdings nichts, dieser autoritären Revolte mit einer hochgerüsteten Bürgerlichkeit zu begegnen. Gibt es noch eine gemeinsame Welt oder kümmert sich jeder um sich selbst? Diese Frage muss sich auch die Mitte gefallen lassen, deren Lebensweise und Saturiertheit sich nur im eigenen Milieu als das Ergebnis eines wertebasierten Lebensmodells präsentieren lässt, das es gegen das Böse zu verteidigen gilt. In den Augen der anderen handelt es sich dabei schlicht um die Verteidigung einer für sie unzugänglichen Welt. Und manchmal macht es den Eindruck, als sei die moralische Aufrüstung weniger dazu gedacht, die Rechte zu bekämpfen, als vielmehr dazu, nicht wirklich etwas an den eigenen Gewohnheiten und Überzeugungen ändern zu müssen.
Und hier beginnt ein anderes Problem. Nämlich das des Autoritarismus der Mitte, mit dem diese auf die rechte Rebellion reagiert. Sie verkennt nicht nur den eigenen Anteil an der Entstehung der neuen Rechten, sondern auch den eigenen Autoritarismus. Man muss sich nur an Corona erinnern, gewissermaßen ein Umschlagpunkt. Der autoritären Rebellion der einen folgte die autoritäre Anrufung von Ordnung und Sicherheit durch die anderen. Dieser Autoritarismus kommt zwar mit weicher Stimme daher, weil er über die Macht des Stärkeren verfügt. Doch er war lange nicht mehr so sehr mit Zwang gepanzert wie heute. Schon in der Welt von Corona war eine autoritäre Wende in liberalen Kreisen augenscheinlich, wie nicht nur der Sozialmediziner Karl-Heinz Roth gezeigt hat. Selbst für Teile der Zivilgesellschaft schien es keine andere politische Kraft mehr zu geben als die Nationalstaaten, und die Autorität ihrer Regierung, Führer und Ordnungskräfte.
Dieser Souveränismus und die mentale Selbstentmachtung der Bevölkerung setzt sich mit dem Übergang in den Ukraine-Krieg und dem Primat der Geopolitik bruchlos fort. Hier wird auf einmal im Bündnis mit Armeen, Nationalist:innen und Waffenkonzernen für Demokratie und Freiheit gekämpft, und zwar nicht aus Verzweiflung, sondern mit Innbrunst. Man kann diesen Kampf für unausweichlich halten. Ihn allerdings pathetisch aufzuladen und ihm das Gesicht der Unschuld zu geben, anstatt ihn in all seiner Graumsamkeit zu begreifen, wird vielleicht unverzeihliche Konsequenzen haben. Die derzeit spürbarste ist, dass kürzlich ein bei der New York Times veröffentlichter Bericht von mittlerweile 500.000 Toten und Verwundeten im Zusammenhang mit dem russischen Angriff auf die Ukraine spricht. Free the leo. „Mir geht es um die Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber und um die Brutalisierung des Menschen, die seit dem Ersten Weltkrieg immer mehr zugenommen haben“, sagte Erich Fromm an anderer Stelle.
Auf dem Weg in düstere Zeiten
Brutalisierung und Militarisierung werden nicht von allen gepredigt, aber erscheinen dennoch mehr und mehr als unausweichlich. Es ist nicht nur deshalb dringend nötig, die übergreifende autoritäre Dynamik zu verstehen, die nicht bloß politische Spektren, sondern ganze Gesellschaften erfasst hat. Dass dem von links wenig entgegengesetzt wird, hat damit zu tun, dass die Linke selbst und längst davon erfasst ist.
Es ist geboten, das alles nicht bloß als ein Oberflächenphänomen oder Symptom zu unterschätzen, sondern in all seiner Tiefe und Eigendynamik zu begreifen. In einer Welt voller Krieg und Katastrophen droht nicht nur der ökologische Kollaps, sondern auch der mentale Niedergang. Antifaschismus, verstanden als ernstes Bewusstsein von dieser drohenden Entwicklung, ist nicht das einzige, aber dennoch ein zentrales Gebot der Stunde.
Der Siegeszug des Neoliberalismus gestaltet sich als eine politische Niederlage aller sozialen Kräfte mit einer subjektiven Botschaft und den darin enthaltenen gesellschaftlichen Konsequenzen. Das vorläufige Ende des Imaginären und Utopischen, das Ende aller Träume, die Diktatur des Realen, Machbaren ist das traurige Gefängnis, in dem wir alle eingesperrt sind: ein soziales und politisches Programm, alles Gemeinsame zu zersetzen und nur die Einzelne übrig zu lassen, die dem Markt und seinen Institutionen ausgeliefert ist. Dagegen helfen keine Werte.
Hannah Arendts Aufsatz endet damit, dass die Menschheit eine echte Bürde für den Menschen ist. An sie zu glauben sei unendlich schwieriger als der Beitritt zu imperialen und nationalen Politiken. Wie lässt sich mit leeren Händen ein globaler Antifaschismus denken? „Diese grundsätzliche Scham, die heute viele Menschen der verschiedensten Nationalitäten miteinander teilen, ist das einzige, was uns gefühlsmäßig von der Solidarität der Internationalen verblieben ist; und sie ist bislang politisch in keiner Weise produktiv geworden.“ Damit gemeint war vielleicht nicht mehr und nicht weniger als die Weigerung, sich in all jene Kollektive und Logiken einzugemeinden, deren absehbares Schicksal das Schlachtfeld und der Bürgerkrieg sind.