Palästina

Neunzehneinhalb

Die Selbstverwaltung hat abgewirtschaftet. Ein politischer Neuanfang ist überfällig.

Von Chris Whitman

Wer im palästinensischen Kontext arbeitet, wird nicht selten zu einem Lexikon der Zahlen. Eine, die in meinen Augen bei keiner Beschreibung der Situation fehlen darf, ist 19,5. Das ist das Durchschnittsalter der Palästinenser:innen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Deutsche sind im Schnitt 25 Jahre älter, nämlich 44,5 Jahre. Das bedeutet auch, dass weit mehr als die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung nach dem Jahr 2000 geboren wurde und daher keine persönlichen Erinnerungen an die zweite Intifada hat. Die palästinensische Bevölkerung ist die zweitjüngste der Welt. Sichtbar wird das, wenn in einer Stadt wie Ramallah Kinder in Schuluniformen zu manchen Tageszeiten das Straßenbild beherrschen oder sich nach den Tawjihi-Abschlussprüfungen, dem palästinensischen Abitur, die Städte und Dörfer mit Zehntausenden Jugendlichen füllen.

Neoliberale Individualisierung

Was bedeuten diese Entwicklungen für die palästinensische Frage zu Rückgabe von Land, zur Frage der Rückkehr? Für die Debatten über Widerstand, Gerechtigkeit und die Bildung eines eigenständigen Staates – zumal in Zeiten, in denen der Druck durch die israelische Besatzung und Siedlungspolitik wächst? In der Vergangenheit haben neben Parteien und Bewegungen vor allem die palästinensischen Institutionen eine wesentliche Rolle dabei gespielt, diese Agenda präsent und lebendig zu halten. Doch seit die zweite Intifada vor knapp 20 Jahren in dieser Hinsicht gescheitert ist, hat die palästinensische Jugend den meisten etablierten Strukturen den Rücken gekehrt.

Das hat viele Gründe. Einerseits sind die verheerenden Folgen der Besatzung und die militärische Gewalt gegen die Palästinenser:innen eine alltägliche Realität für jede:n Einzelne:n und jede Familie. Die Kooperation der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) mit den israelischen Behörden empfinden viele unter diesen Umständen als Verrat. Andererseits hat die katastrophale neoliberale Politik der PA die palästinensische Gesellschaft geschwächt. Sie hat eine entpolitisierte und wirtschaftlich abhängige Mittel- und Oberschicht geschaffen, die in den Status quo investiert. Gleichzeitig hat die Deregulierung des Bankenwesens eine Schuldenwirtschaft etabliert: In einer Gesellschaft, die Schulden und Kredite kaum kannte, wurde es auf einmal leicht und normal, Geld zu leihen. Das hat zu einer Ausweitung des materiellen Konsums, aber auch zu einer breiten Verschuldung geführt. Vor allem aber hat es in einer bis dato von einer Gemeinschaftsorientierung und kollektivem Widerstandsgeist geprägten Gesellschaft eine Individualisierung gefördert, die vielen jungen Menschen heute sauer aufstößt.

Eine ähnliche Entfremdung gibt es gegenüber den traditionellen Freiwilligengruppen und Volkskomitees. Letztere sind lokale Gemeindeorganisationen, die sowohl Bildungs- als auch politische Arbeit für Jugendliche leisten. Lange bildeten sie das Rückgrat eines politisch aktiven Gemeindelebens. In den vergangenen Jahrzehnten aber sind diese Strukturen mehr und mehr ausgetrocknet. Auch hier schlägt der Neoliberalismus der PA zu Buche. Hinzu kommt, dass auch die palästinensische und internationale NGO-Arbeit in Palästina in den letzten 15 Jahren sukzessive geschrumpft ist. Das liegt an der Erschöpfung und veränderten Prioritäten der Geber. In Teilen ist es auch das Ergebnis langjähriger israelischer Anstrengungen, bestimmte NGOs zu kriminalisieren.

Die Folge dieser Dynamiken: Eine ganze Generation palästinensischer Jugendlicher ist politisch und sozial demobilisiert. Räume der Freiheit, aber auch die Hoffnung auf Befreiung werden immer kleiner. Im Zuge dieses Wandels haben sich die Vorstellungen verändert, was der israelischen Politik von Landraub und Kolonisierung entgegenzusetzen ist, und auch, wer ihr überhaupt etwas entgegensetzt. Die Autonomiebehörde hat jedenfalls bei vielen jegliche Legitimität verspielt, palästinensische Institutionen werden nicht mehr als Orte des Widerstands und der Hoffnung angesehen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Gründung neuer bewaffneter Gruppen und der breiten Sympathie, die diese genießen. Besonders in der jungen Generation sind sie enorm populär und nicht wenige junge Männer schließen sich Gruppen wie „Höhle des Löwen“, „Jenin-Bataillone“ oder „Tulkarem-Brigaden“ an. Trotz mangelhafter Ausbildung und schlechter militärischer Ausrüstung und der Tatsache, dass sie meistens unter der Schirmherrschaft der Hamas oder des Palästinensischen Islamischen Djihad stehen, fühlen sich die Jugendlichen von ihnen angezogen – nicht zuletzt wegen der täglichen Überfälle, bei denen nicht selten Freund:innen, Familienangehörige und Nachbarn getötet werden. In jedem Fall symbolisieren diese Gruppen eine entschiedene Abgrenzung und Abwendung von den Institutionen der eigenen Selbstverwaltung. So befürworten fast sieben von zehn Palästinenser:innen die Gründung weiterer militanter Gruppen, über die die PA keinerlei Kontrolle haben soll. Trotz der eklatanten Unterlegenheit gegenüber Israel und des absehbaren militärischen Scheiterns sollten diese Gruppen daher nicht als flüchtige Erscheinungen abgetan werden.

Die Zersplitterung überwinden

Bei allem Stillstand darf aber nicht übersehen werden, dass sich auch neue Räume geöffnet haben. Die sozialen Medien werden häufig und vorwiegend in ihrer neuen Bedeutung für die Widerstandsgruppen diskutiert. Dabei gehen sie weit darüber hinaus. Die neuen Möglichkeiten des Austauschs und der Kommunikation tragen dazu bei, die Isolation der Palästinenser:innen, auch derjenigen mit israelischem Pass, in den fragmentierten Wirklichkeiten im Westjordanland, in Jerusalem oder im Gazastreifen zu überwinden. Am deutlichsten wurde dies im Mai 2021. Als Reaktion auf die israelischen Militärangriffe gegen den Gazastreifen und die Versuche, palästinensische Familien in Sheikh Jarrah, einem Viertel im besetzten Ostjerusalem, gewaltsam zu vertreiben, wurde in den sozialen Medien zu einem Generalstreik aufgerufen. Dieser wurde in den verschiedenen Gebieten auch umgesetzt.

Insbesondere die palästinensische Linke vertritt seit langem die Auffassung, dass eine Lösung, die nicht alle Palästinenser:innen, einschließlich derer in der Diaspora, einbezieht, zum Scheitern verurteilt ist. Lange besaßen die PLO und die Palästinensische Autonomiebehörde ein Monopol auf die politischen Strategien. Im Zuge ihres Versagens sind die bewaffneten Gruppen mit je eigenen Interessen in den Vordergrund gerückt. Umso mehr ist es an Aktivist:innen und intellektuellen Kreisen, einer frustrierten und erschöpften Bevölkerung Alternativen aufzuzeigen. Doch wo kann eine solche Alternative ansetzen?

Das Leben in den palästinensischen Gemeinden hat sich in den letzten Jahren merklich verändert, was auch mit dem Selbstbewusstsein einer neuen, jungen Generation zu tun hat. In mancherlei Hinsicht ist es palästinensischer geworden. Neu ist beispielsweise das gastronomische Angebot: Noch vor zehn Jahren war es schwierig, in Ramallah, Bethlehem oder Jerusalem ein palästinensisches Restaurant zu finden, das nicht auf Touristen ausgerichtet war. In verschiedenen Städten finden immer häufiger Wochenmärkte statt, auf denen vorwiegend palästinensische Erzeugnisse angeboten werden – im Zeitalter der Verschuldung für den Traum eines bürgerlichen, neoliberalen Lebens sind solche Initiativen einer eigenen Ökonomie (und regelmäßig angebotene Kurse zur Herstellung von Waren) ein kleiner, aber wichtiger Beitrag zur Schaffung einer Alternative. Die Spurensuche nach einer neuen palästinensischen Bewegung führt jedenfalls an der Alltagskultur einer jungen palästinensischen Generation nicht vorbei, die trotz aller Verheerungen auch Ausdruck einer unermüdlichen Lebens- und Freiheitslust ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 27. Juni 2023

Chris Whitman

Chris Whitman ist medico-Büroleiter Israel und Palästina.


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