Indien

Kaste, Klasse, Corona-Katastrophe

Dass Covid-19 in Indien so verheerend gewütet hat, liegt auch an einer extrem hierarchischen Gesellschaftsstruktur.

Von Satya Sivaraman

Covid-19-Patient:innen, die auf der Straße sterben und nach Luft ringen; Menschen auf der verzweifelten Suche nach Krankenhausbetten und medizinischer Hilfe; Tote, denen ein würdiges Begräbnis verweigert wird und die kurzerhand in den Flüssen Indiens versenkt werden. Über die Gründe für das abgrundtiefe Versagen der indischen Regierung, das Land nicht besser für eine Covid-19-Welle gewappnet zu haben, ist viel geschrieben worden. Angeführt werden meist Hochmut, Inkompetenz, Intoleranz gegenüber gegenteiligen Ansichten sowie die Neigung von Premierminister Narendra Modi, sein eigenes Wohl über alles andere im Land zu stellen. In dem Versuch, von der Kritik an der Regierung abzulenken, verweisen ihre Anhänger:innen gerne auf das „System“ – vermutlich ist das wacklige Gesundheitssystem des Landes gemeint – als eigentlichen Kern des Problems.

Ja, all diese Faktoren haben ohne Zweifel dazu beigetragen, dass Covid-19 weitaus größere Verwüstungen angerichtet hat, als es hätte sein müssen. Und doch erfasst keiner die ganze Geschichte: Wie kann es sein, dass ein Land mit der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt und einer der größten Armee, das sich zudem rühmt, Weltraum-, Atom- und Pharmamacht zu sein, nicht in der Lage ist, so Grundlegendes wie Sauerstoff für seine erstickenden Bürger:innen oder Brennholz für die Einäscherung seiner Toten bereitzustellen? Die Antwort liegt, kurz gesagt, in der auf dem Fundament des britischen Kolonialstaates gebauten Grundstruktur der modernen Republik Indien. Denn diese ist auf das Wohlergehen einer winzigen Minderheit ausgerichtet, während die große Mehrheit sich selbst überlassen bleibt. Es mag keine indische Besonderheit sein, dass die Kontrolle der politischen und administrativen Macht in den Händen einer kleinen Elite liegt. Weitere Faktoren aber lassen die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten besonders groß werden.

Bewusst dem Tod überlassen

Eine Ursache dafür ist zweifellos das apartheidartige Kastensystem. Innerhalb der indischen Gesellschaft führt es zu einem Mangel an Empathie jeglicher Art. Das geht so weit, dass sehr große Teile der Bevölkerung nicht einmal als Menschen gelten. Vor rund zehn Jahren bezeichnete der bekannte Arzt Dr. Binayak Sen, der wegen seines Menschenrechtsaktivismus von der Regierung des Bundesstaates Chhattisgarh verfolgt wurde, die weitverbreitete Unterernährung in Indien als „Genozid“. Damit deutete er an, dass große Teile der indischen Bevölkerung von den Machthaber:innen bewusst einem frühen Tod ausgeliefert werden. Viele seiner Anhänger:innen dachten damals, dass der gute Doktor womöglich ein wenig übertreibt, indem er mit der Verwendung des „G-Wortes“ eine politische Verantwortlichkeit anmahnt für etwas, was normalerweise der Ineffizienz des indischen Staatsapparats angelastet wird. Als Standarderklärung für den miserablen Gesundheitszustand eines Großteils der indischen Bevölkerung und ihren mangelnden Zugang zu Gesundheitsversorgung wird nämlich allzu gerne auf fehlende nationale Ressourcen in Kombination mit bürokratischer Trägheit und Gleichgültigkeit verwiesen. Dr. Sen zeigte auf, dass über 33 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einen Body-Mass-Index von unter 18,5 haben, was auf schwere Unterernährung hinweist. 47 Prozent der indischen Kinder unter fünf Jahren sind, so Dr. Sen, unterernährt; 26 Prozent der Neugeborenen haben ein zu geringes Geburtsgewicht. Dies als Völkermord zu bezeichnen, sei gerechtfertigt, weil sich die Unterernährung nicht gleichmäßig über die gesamte Bevölkerung verteilt, sondern unter den besonders benachteiligten In[1]digenen und in den untersten Kasten konzentriere. Diese Gruppen machten zusammen 29 Prozent der Bevölkerung, aber mehr als jeden zweiten Fall von Unterernährung aus. Es überrascht auch nicht, dass sie einen Großteil der Krankheitslast tragen, sei es Tuberkulose oder Malaria, sei es eine hohe Kindersterblichkeitsrate infolge von Durchfallerkrankungen oder Lungenentzündungen. In den ärmeren Schichten anderer „niederer Kasten“, die weitere 41 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen, ist Unterernährung nicht viel weniger verbreitet und die Krankheitslast kaum niedriger. Im Welthunger-Index 2020 liegt Indien auf Platz 94 von 107 Ländern.

Ein zweiter systemischer Grund für die katastrophalen Auswirkungen von Covid-19 in Indien ist die ungeheuerliche Konzentration von Reichtum: Die obersten zehn Prozent der Gesellschaft besitzen 77 Prozent des gesamten nationalen Wohlstands – in einem Land, in dem weltweit mit Abstand die meisten Menschen in absoluter Armut leben. Ein Großteil des Reichtums der Elite wird durch Nepotismus und Vererbung in engen Zirkeln gehalten, wobei jede politische Partei, sobald sie an der Macht ist, Politik ausschließlich zum eignen Vorteil betreibt, ohne sich um das Wohl der Mehrheit zu kümmern. So betrugen Indiens öffentliche Ausgaben für Gesundheit 2017 und 2018 gerade einmal 1,28 Prozent des Bruttosozialproduktes. Das ist eine der niedrigsten Raten der Welt und ein beschämender Rekord, an dem sich seit der Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft vor sieben Jahrzehnten nichts verändert hat.

Das entsprechend niedrige Niveau der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Kombination mit der Tatsache, dass mehr als drei Viertel der Gesundheitsversorgung im privatwirtschaftlichen Sektor geleistet wird, hat fatale Folgen. So verzeichnet Indien mit 62,6 Prozent Out-of-Pocket-Ausgaben weltweit eine der höchsten Anteile, die Menschen für Gesundheitsdienste aus der eigener Tasche zahlen müssen. Für die meisten Inder:innen ist eine anständige Gesundheitsversorgung schlichtweg unerschwinglich. Und privat zu zahlende Gesundheitskosten sind einer der Hauptgründe, warum so viele tief in die Schuldenfalle geraten. In Indien sind Gesundheitsthemen für mehr als 20 Prozent aller Selbstmorde verantwortlich.

Auf den Punkt gebracht: Das Versagen des „Systems“ ist nicht auf eine Art Faulheit oder Ineffizienz seitens derer zurückzuführen, die an den Hebeln der Macht sitzen. Vielmehr ist das indische Sozial- und Wirtschaftssystem bewusst so angelegt, dass ein Großteil der indischen Bürger:innen unnötig leidet und stirbt. Denn nur durch extreme Grausamkeit kann es sich konsolidieren und aufrechterhalten. Ohne eine Politik, die die Hierarchien des Kastensystems überwindet und den Reichtum drastisch umverteilt, ist die Hoffnung für die meisten Inder:innen auf eine wie auch immer geartete bessere Gesundheitsversorgung wahrscheinlich vergebens. Sie stehen – so die zentrale Lehre aus der Covid-19-Krise – vor der Wahl zwischen dem eigenen Überleben oder dem eines Systems, das in seinem Kern sowohl kolonial als auch rassistisch ist.

Übersetzung: Christian Sälzer

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 01. Juli 2021

Satya Sivaraman

Satya Sivaraman ist Journalist und Gesundheitsaktivist in Neu-Delhi. Seit 2005 verbindet ihn eine Partnerschaft mit medico.


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