Indiens Covid-Katastrophe

Die Eigentore der Regierung Modi

In seiner nationalen Krise erweist sich das Modi-Regime als die größte Belastung Indiens.

Von Satya Sivaraman

Wahrhaft apokalyptisch sind die herzzerreißenden Szenen, die seit Mitte April aus der indischen Hauptstadt Neu-Delhi in die ganze Welt ausgestrahlt werden. Dutzende Covid-19-Patient:innen sterben auf der Straße, nach Sauerstoff ringend. Tränenüberströmt suchen Hunderte verzweifelte Menschen nach Krankenhausbetten. Durch die Stadt ziehen die dicken Rauchschwaden der Scheiterhaufen, auf denen die Leichen der Gestorbenen verbrannt werden. Ähnlich schlimm ist die Lage auch in anderen Teilen Nordindiens, wo nicht nur einzelne, sondern ganze Gruppen von Kranken sterben, weil ihnen abrupt die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wird.

Mit der zweiten Welle ist das seit langem unterversorgte und längst brüchige indische Gesundheitssystem in weiten Teilen des Landes endgültig zusammengebrochen. Ende April überschritten die täglichen Infektionen die 400.000er-Marke und erreichten einen neuen Weltrekord. Dasselbe gilt für die Zahl der täglichen Todesfälle: hier lag der Höchststand bei 3645 Toten an nur einem einzigen Tag. Nach offiziellen Angaben fanden bisher über 200.000 Menschen den Tod, haben sich 18 Millionen Menschen infiziert. Die tatsächlichen Zahlen dürften deutlich höher liegen.

Wie konnte es soweit kommen? Wieso kann die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, warum kann die Weltraum-, Nuklear- und Pharmasupermacht mit der weltweit zweitgrößten Armee ihren vom Erstickungstod bedrohten Bürger:innen nicht einmal Sauerstoff bereitstellen? Es gibt viele Gründe für diesen traurigen Zustand. Hybris, Inkompetenz, zerstörte staatliche Institutionen, willfährige Medien und der wahrhaft manische Drang des hindunationalistischen Regimes von Premierminister Narendra Modi, das eigene Image vor alle anderen nationalen Prioritäten zu stellen.

Auf weisen Rat des großen und lieben Führers

Gesagt werden muss fairerweise allerdings auch, dass das schiere Ausmaß der Pandemie mit dem Dreifachen der Spitzenwerte der ersten Welle des letzten Jahres das System einfach überfordert hat. Schuld daran ist B.1.617, eine hochansteckende Variante des SARS-CoV2-Virus, die sich in rasender Geschwindigkeit in Indiens Städten verbreitet. Konnten die Krankenhäuser von indischen Großstädten wie Delhi und Mumbai schon 2020 an bestimmten Tagen aufgrund der steigenden Nachfrage keine Betten mehr bereitstellen, kam es doch nie zu einem größeren Mangel an lebensrettendem Sauerstoff. Mit dem rasanten Anstieg der Fälle um die erste Aprilwoche 2021 aber verdoppelte sich Indiens Gesamtbedarf an medizinischem Sauerstoff von 3.842 Tonnen auf 6.785 Tonnen.

Allerdings resultierte der Mangel auch jetzt noch weniger aus dem Bestand an flüssigem medizinischem Sauerstoff: der lag zu dieser Zeit immer noch drei Mal über dem Bedarf. Das eigentliche Problem lag und liegt vielmehr in der schlechten Planung und in der Unfähigkeit, einen effizienten Transport zur Verteilung des Sauerstoffs an die Krankenhäuser und Nachfüllstationen in den Großstädten zu gewährleisten. Betrifft die hohe Covid-19-Fallbelastung vornehmlich West- und Nordindien, wird der größte Teil des Sauerstoffs in den südlichen und östlichen Teilen des Landes hergestellt.

Dennoch hängt der Mangel an politischer Orientierung maßgeblich an der Neigung des Premierministers Modi, seine Entscheidungen eher an seinen ideologischen Dogmen und politischen Opportunitäten als an bewiesenen Tatsachen auszurichten. Schon bei seiner Machtübernahme 2014 hat er aus seiner tiefen Verachtung für Beamt:innen und Berater:innen mit unabhängigem Urteilsvermögen keinen Hehl gemacht und sie bei erstbester Gelegenheit durch „Parteilose“ ohne Hintergrundwissen zu den Themen ersetzt, für die sie verantwortlich sein sollten.

Tatsächlich hat ein Komitee indischer Parlamentarier:innen das Problem des Sauerstoffmangels bereits im November letzten Jahres in einem Bericht aufgezeigt, in dem es hieß: „Die Pandemie hat zu einem beispiellosen Anstieg der Nachfrage nach nicht-invasiven Sauerstoffflaschen und in den Krankenhäusern zu einem Mangel an Sauerstoffflaschen geführt.“ Doch führten solche Ratschläge kaum zu angemessener Reaktion bei einer indischen Regierung, die allein damit beschäftigt war, die Tugenden Narendra Modis zu preisen, eines „starken Mannes“ ganz im Stil von Recep Tayyip Erdoğan, Jair Bolsonaro und Donald Trump. Passend dazu schrieben Modis Minister das natürliche Abflauen der Covid-19-Fälle nach der ersten Welle 2020 ganz im Stil Kim Jong Uns dem „weisen Ratschluss“ ihres „großen Führers“ zu.

Am 28. Januar 2021 wiederum verhöhnte Modi selbst Expert:innen aus aller Welt in seiner Rede beim Davoser Dialog des Weltwirtschaftsforums, in der er sagte: „Es wurde vorhergesagt, dass Indien das am stärksten von Corona betroffene Land auf der ganzen Welt sein würde. Es wurde gesagt, dass es einen Tsunami von Corona-Infektionen in Indien geben würde, jemand sagte gar, 700-800 Millionen Inder würden infiziert, während andere meinten, dass zwei Millionen Inder sterben würden.“ Im Brustton der Überzeugung und im Glanz seines Ruhmes fuhr er fort: „Indien hat die Menschheit vor einer großen Katastrophe bewahrt, indem es Corona effektiv eingedämmt hat“.

Ein Lockdown binnen vier Stunden

Durchsetzen konnte sich seine Regierung dabei auch infolge der Kultur der Unterwürfigkeit innerhalb der indischen Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen, aus denen heraus nur sehr wenige Fachleute tatsächlich das Rückgrat haben, dem politischen Druck der Regierung standzuhalten. Ein Anzeichen für den Mangel an Professionalität war das Fehlen einer systematischen Datenerhebung auf lokaler Ebene zur Bestimmung wirklich angemessener Reaktionen auf die Pandemie. Mehr noch: Selbst in den kritischen Bereichen der Forschung kam es wiederholt zur Unterdrückung von Daten bzw. zu keiner wirklich integren Sicherung der gesammelten Informationen. Kein Wunder also, dass die zweite Welle Indien und sein Gesundheitssystems mit der Heftigkeit eines Tsunami traf.

Dabei hätte man systematisch schon aus fatalen Erfahrungen der ersten Welle 2020 lernen müssen. Zentral war hier der vom Premierminister am 24. März 2020 überstürzt verhängte und in einer Frist von nur vier Stunden umgesetzte landesweite Lockdown. Er brachte das reguläre Leben von 1,3 Milliarden Menschen zum Stillstand – ohne jede Vorbereitung etwa des Patientenmanagements, der Schulung des Gesundheitspersonals und der Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung mit Schutzausrüstung und Sauerstoff. Von einem Tag auf den anderen saßen in den großen städtischen Zentren Millionen Wanderarbeiter:innen ohne Arbeit oder staatliche Unterstützung fest und waren gezwungen, Hunderte von Kilometern zurück in ihre über ganz Indien verstreuten Dörfer zu marschierten. Viele starben auf dem Weg an Hunger und Durst oder wurden einfach von rasenden Fahrzeugen überfahren.

Hinzu kam, dass die Zentralregierung den Lockdown ohne Rücksprache mit den zahlreichen Bundesstaaten Indiens verhängt hatte, die für die meisten gesundheitsbezogenen Infrastrukturen und Initiativen auf regionaler Ebene verantwortlich sind. Vorab weder informiert noch gar um ihre Meinung befragt, wurden sie dann auch in der Bewältigung der Folgen im Stich gelassen. Die Folge war ein Höchstmaß an Verbitterung gerade da, wo es eigentlich auf ein Höchstmaß an Zusammenarbeit angekommen wäre.

Zurück zur Normalität

Zum Jahresbeginn 2021 schwenkte die Regierung von einer extrem strengen Abriegelung zu einem unbeschränkten „free for all“-Ansatz. Der triumphalistischen Erzählung vom Sieg über die Pandemie folgte der in wiederum rücksichtsloser Eile unternommene Versuch, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Zeitgleich wurden im ganzen Land umstandslos sämtliche Beschränkungen zur Durchführung von Versammlungen wieder aufgehoben, sodass es überall zu großen Hochzeiten, Festivals, religiösen Versammlungen und zur Wiederinbetriebnahme der Unterhaltungsstätten kam.

Damit nicht genug: Inmitten des ganzen Trubels setzte die indische Wahlkommission in vier Bundesstaaten und einem Unionsterritorium Wahlen an, in deren Verlauf es dann zu einer hektischen Mobilisierung großer Menschenmengen kam. Noch als Neu-Delhi bereits unter den himmelschreienden Zahlen der Infizierten taumelte, staunte Modi – selbst ohne Maske – bei einer Wahlkundgebung am 17. April in Westbengalen: „Heute sehe ich überall riesige Menschenmassen. Eine solche Kundgebung erlebe ich in meinem Leben zum ersten Mal!“

Das Schlimmste von allem war, dass die indische Regierung, um ihren fanatischen Hindu-Anhänger:innen zu gefallen, grünes Licht zur Durchführung der Kumbh Mela gab, einer religiösen Massenversammlung, die normalerweise nur alle 12 Jahre stattfindet, auf Anraten von Astrologen jetzt aber ein Jahr früher als ursprünglich geplant abgehalten wurde. Deshalb nahmen im April 2021 in der nordindischen Stadt Haridwar über 9 Millionen gläubige Hindus ein Bad im heiligen Fluss Ganges: die wahrscheinlich größte Veranstaltung zur Ausbreitung einer Infektionskrankheit in der Geschichte der Menschheit!

Regiert von einem Zytokin-Sturm

Zu Recht machte der in Madras tagende Oberste Gerichtshof in der letzten Aprilwoche die Wahlkommission „allein für die zweite Welle von Covid“ verantwortlich, weil sie trotz der Pandemie politische Massenkundgebungen zugelassen habe. In einer beispiellosen Rüge hielten die Richter ausdrücklich fest, dass „ihre Beamten eigentlich des Mordes angeklagt werden“ sollten.“ Einziger, wenn auch wichtiger mildernder Faktor in all dem war, dass Indien der weltweit größte Produzent von Impfstoffen ist – ein bedeutender Unterschied zu vielen anderen Nationen im Kampf gegen Covid-19. Doch wurde auch dieser Vorteil verspielt, weil die indische Regierung die Impfkampagne im eigenen Land und die Impfstoffexporte in andere Länder zu einer bloßen Übung herabsetzte, um den „lieben Führer“ Modi weiter zu verherrlichen und ihm Vorteile in der Konkurrenz zu politischen Rival:innen zu verschaffen.

Auf den Punkt gebracht, erweist sich die laufende Covid-19-Katastrophe in Indien als das Ergebnis einer Reihe von Eigentoren, die sich die indische Regierung geschossen hat. Wie der Zytokin-Sturm, der tödlichste Aspekt von Covid-19, in dem sich das Immunsystem gegen den menschlichen Körper wendet, den es eigentlich schützen soll, erweist sich das Modi-Regime als die größte Belastung Indiens in der Zeit seiner nationalen Krise.

Jetzt, wo die globale Gesundheitspolitik ebenso versagt wie die indische Regierung, kommt es auf lokale Organisationen und Netzwerke an, um das Schlimmste zu verhindern. medico unterstützt indische Basisgesundheitsinitiativen und lokale Communities bei der medizinischen Selbsthilfe.

Veröffentlicht am 12. Mai 2021

Satya Sivaraman

Satya Sivaraman ist Journalist und Gesundheitsaktivist in Neu-Delhi. Seit 2005 verbindet ihn eine Partnerschaft mit medico.


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