Israel/Palästina

In einem Boot

Warum die israelische Impfkampagne längst nicht so erfolgreich ist wie behauptet. Insbesondere wenn die palästinensischen Gebiete mit berücksichtigt werden.

Von Chris Whitman

Israel war eines der ersten Länder, das ein umfassendes Impfprogramm auflegte. Die Regierung schloss besondere Vereinbarungen mit Pfizer ab, die unter anderem den Zugang des Pharmaunternehmens zu Daten regelten und die Möglichkeit Geimpfter, Pfizer wegen kurz- oder langfristiger Nebenwirkungen zu verklagen, stark einschränkten. Sie gab zudem beträchtliche Mittel für die Bereitstellung der dafür benötigten Infrastruktur und für umfangreiche Medienkampagnen aus, die die Vorteile des Pfizer-Impfstoffs bewarben und seine Verabreichung als die einzige Möglichkeit darstellten, «zur Normalität zurückzukehren».

In Israel kam die Impfkampagne sehr schnell in Gang, die israelischen Bürger:innen standen massenhaft Schlange, um sich impfen zu lassen. Die Gesundheitsämter boten flexible Optionen an, schufen in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium ein elektronisches Registrierungsprogramm – den sogenannten Grünen Pass – und entwickelten eine Handy-App (Ramzor), die geimpften Israelis den Zugang zu großen öffentlichen Veranstaltungen, Einkaufszentren usw. ermöglichte.

Während die Israelis die «Rückkehr zur Normalität» feierten, blieb den Palästinenser:innen im Westjordanland und Gazastreifen der Zugang zu dem begehrten Impfstoff verwehrt. Die israelische Regierung behauptete, sie sei nach den Osloer Verträgen nicht dazu verpflichtet, der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebiete Impfstoff bereitzustellen. Eine Einschätzung, mit der sie weitestgehend allein dastand.

Erst nachdem sich die israelische Impfkampagne als erfolgreich erwiesen hatte, nahm die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) im Frühjahr 2021 Verhandlungen mit der israelischen Regierung, Pfizer und anderen Pharmaunternehmen auf, um an Impfstoff zu kommen. Als die PA begrenzte Lieferungen aus dem COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation erhielt, wurde sie bei einem illegalen Akt der Günstlingswirtschaft ertappt. Anstatt zuerst das medizinische Personal und Hochrisikogruppen mit Impfstoff zu versorgen, ging dieser an hochrangige Beamte der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie deren Freund:innen und Familienangehörige, darüber hinaus an Mitarbeiter:innen staatlicher Medien, Sportler:innen und andere (einfluss-)reiche Personen. Der prominente palästinensische Dissident Nizar Banat hat das korrupte Verhalten des Apparats bei der Impfstoffverteilung scharf kritisiert. Viele vermuten, dass dies letztlich zu seiner Ermordung durch palästinensische Sicherheitskräfte führte.

Inkompetenz und Korruption

Während die Palästinensische Autonomiebehörde nach und nach ein Sammelsurium an Impfstoffen aus der ganzen Welt erhielt, kündigte Israel an, 100.000 Palästinenser:innen impfen zu lassen, und zwar diejenigen, die über Checkpoints nach Israel einreisen dürfen oder in den israelischen Siedlungen im Westjordanland arbeiten. Der israelische Staat fühlte sich nur für diejenigen Palästinenser:innen verantwortlich, die über eine Arbeitserlaubnis verfügen und deshalb Kontakt zu Israelis haben.

Bis Sommer 2021 gelangten kleinere Lieferungen verschiedener Impfstoffe in die von der  Autonomiebehörde kontrollierten Gebiete. Schlecht gemachte Öffentlichkeitskampagnen, die die Menschen von der Sicherheit und Nützlichkeit einer Impfung überzeugen sollten, hatten wenig Erfolg. Viele Menschen sehen ihre Weigerung, sich impfen zu lassen oder sich an Vorschriften zum Schutz vor Corona zu halten, als ein Votum gegen die Inkompetenz und Korruption der Autonomiebehörde. Die Ablehnung hält bis heute an.

Im Juni 2021 wurde ein Abkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde bekannt, wonach Israel eine Million Impfdosen an die PA abgeben und im Gegenzug dafür eine Lieferung erhalten sollte, die die Behörde für August erwartete. Es stellte sich schnell heraus, dass die Impfstoffe aus Israel kurz vor Ablauf des Verfallsdatums waren. Zunächst versuchte die PA noch, das Problem herunterzuspielen, bis sich nicht länger leugnen ließ, dass die Impfstoffe in einem Zeitraum von vier bis acht Wochen unbrauchbar würden. Da es an einer ausreichenden medizinischen Infrastruktur und einem kohärenten Plan mangelte, um die Impfungen in so kurzer Zeit durchführen zu können, geriet die Autonomiebehörde unter so starken öffentlichen Druck, dass sie schließlich von der Vereinbarung zurücktreten musste.

In Israel stagnierten die Impfquoten nach einer anfangs sehr erfolgreichen Impfkampagne und das Land rutschte auf der weltweiten Rangliste deutlich ab und landete noch hinter dem 40. Platz. Dies ist zum Teil auf die Geschwindigkeit zurückzuführen, mit der die Regierung immer neue Kategorien von Anspruchsberechtigten hinzufügte, aber auch auf das mangelnde Impfvertrauen bestimmter Teile der israelischen Gesellschaft, die wiederum von anderen Teilen dämonisiert wurden. Als zum Beispiel religiöse Israelis oder palästinensische Bürger:innen von hohen Infektionsraten betroffen waren, wurden sie zu Sündenböcken erklärt und dafür verantwortlich gemacht, dass die Impfquoten in Israel nicht noch höher ausfielen. Das schuf große Animositäten.

Sterberate unter dem globalen Durchschnitt

Als neue Virusvarianten auftraten, war die israelische Regierung weltweit die erste, die Auffrischungsimpfungen einführte, was in der israelischen Öffentlichkeit weitere Zweifel an der Notwendigkeit und dem Nutzen von Impfungen nährte. Angehörigen von Hochrisikogruppen und Beschäftigten im Gesundheitswesen wurde schließlich eine vierte Impfung empfohlen, dann aber nahm man wieder Abstand von diesem Plan. Die Regierung erklärte, man werde mit der vierten Impfung erst fortfahren, wenn die Vorteile eines neuerlichen Boosters erwiesen seien. Im Februar 2022 war Israel mit 70.000 Corona-Infektionen pro Tag – das entspricht einer Sieben-Tage-Inzidenz von 3500 –unter den fünf Ländern mit den höchsten Infektionsraten weltweit. 30 Prozent aller Israelis haben sich in den ersten beiden Jahren der Pandemie mit dem Corona-Virus abgesteckt.

Anfang 2022 lagen nach offiziellen Angaben die Impfquoten der Über-16-Jährigen in Israel bei 63 Prozent, im Westjordanland und im Gazastreifen bei 39 Prozent. Viele regierungsunabhängige Quellen ziehen die Richtigkeit der palästinensischen Zahlen für die besetzten Gebiete jedoch in Zweifel, da weite Teile der palästinensischen Gesellschaft die Impfung ablehnen. Die Autonomiebehörde behauptet, die Zahlen seien korrekt und spiegelten eine erfolgreiche Impfkampagne an den Schulen wider, was keinen Sinn ergibt, da die Impfquoten sich nur auf Personen über 16 Jahren beziehen.

Die palästinensische Gesellschaft ist eine der jüngsten der Welt. Das Durchschnittsalter liegt bei 19,5 Jahren, während es in Israel 30, in den USA 40 und in den meisten westeuropäischen Ländern zwischen 45 und 49 Jahren beträgt. Das erklärt, weshalb die Symptome in der palästinensischen Bevölkerung weniger schlimm ausfielen und die Sterberaten unter dem globalen Durchschnitt liegen. Da die meisten Palästinenser:innen keine soziale Absicherung haben und bei einem positiven Corona-Test mit Verdienstausfällen oder dem Verlust ihres Arbeitsplatzes rechnen müssen, neigen viele dazu, Symptome zu ignorieren oder herunterzuspielen, wodurch sich das Virus schnell weiterverbreitet. Die Palästinensische Autonomiebehörde kann es sich nicht leisten, Lockdowns oder andere Beschränkungen zu verhängen und die Gesellschaft hat ihren Unwillen, die erlassenen Vorschriften zum Schutz vor Corona einzuhalten, öffentlich zur Schau gestellt. Daher sind seit April 2021 nur noch selten Masken im Straßenbild zu sehen, kaum jemand hält sich an Social-Distancing-Auflagen und es gibtauch so gut wie keine Quarantänevorkehrungen oder -einrichtungen.

Militärische Einheit, medizinische Trennung

Aber auch in Israel hat die Bereitschaft, sich an die Corona-Auflagen zu halten, drastisch abgenommen – nicht zuletzt deshalb, weil viele der von der Regierung erlassenen Vorschriften wahllos erscheinen und die Menschen erschöpft sind und genug haben von der fast zwei Jahre gültigen generellen Einreisesperre für Ausländer:innen und von den zahlreichen Impfdurchbrüchen angesichts immer neuer Virusvarianten. Der Grüne Pass, der von verschiedenen Ländern auf der Welt als geeignetes Mittel zur Erhöhung der Impfbereitschaft angepriesen und nachgeahmt wurde, sollte im Frühjahr abgeschafft werden. Inzwischen werden auch bei der Einreise über die Flughäfen keine Impfbescheinigungen oder PCR-Tests mehr verlangt.

Die einzige Gruppe, gegenüber der die Corona-Bestimmungen weiter konsequent durchgesetzt werden, sind die Palästinenser:innen, die das Gebiet betreten, das die Regierung als Israel bezeichnet – auch Siedlungen, Teile der C-Gebiete, Ost-Jerusalem. Alle Bewohner:innen der palästinensischen Gebiete, die aufgrund einer Arbeitserlaubnis oder aus humanitären Gründen an speziellen Checkpoints israelisch kontrolliertes Gebiet betreten, müssen nachweisen, dass ihre letzte Impfung (sei es die zweite oder dritte) weniger als 180 Tage zurückliegt. Wenn sie dies nicht können, erlischt automatisch ihre Einreiseerlaubnis.

Die Koordinierung zwischen den israelischen und palästinensischen Gesundheitsministerien ist in dieser Hinsicht umfassend. Jede Impfung, die beim palästinensischen Gesundheitsministerium registriert ist, wird im israelischen System aktualisiert. Es dauert allerdings zwei Wochen, bis sie vom israelischen Gesundheitsministerium anerkannt wird. Für palästinensische Arbeitnehmer:innen kann das bedeuten, zwei Wochen arbeitslos zu sein und ohne Arbeitserlaubnis und Einkommen dazustehen.

Der ungleiche Zugang zu Impfstoffen und der ungleiche Umgang mit den Bedürfnissen der Menschen in Israel und in den besetzten Gebieten spiegeln in vielerlei Hinsicht die Ungleichheiten zwischen der westlichen Welt und dem globalen Süden wider. Israel hat wie Westeuropa und Nordamerika zu Beginn der Pandemie den Kauf von Impfstoffen praktisch monopolisiert, Impfdosen wurden sogar gehortet und ungenutzt entsorgt. Was die Palästinensische Autonomiebehörde angeht, so war ihr Ringen typisch für die Kämpfe vieler Länder der sogenannten Dritten Welt. Während fast 100 Prozent der geimpften Israelis den Impfstoff von Pfizer erhielten, musste die Palästinensische Autonomiebehörde Impfstoffe von mehr als sieben verschiedenen pharmazeutischen Anbietern mühsam zusammenklauben, darunter auch Impfstoffe von Unternehmen wie AstraZeneca, die von zahlreichen westlichen Regierungen und Medien verteufelt und abgelehnt wurden.

Viele Palästinenser:innen hatten daher den Eindruck, dass sie die Impfstoffreste bekommen, die westliche Staaten ihrer eigenen Bevölkerung nicht zumuten wollen, was ihre Skepsis noch verstärkt hat. Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Problem ist die Korruption der Autonomiebehörde und ihr anhaltendes unprofessionelles und unverantwortliches Vorgehen. Erst kürzlich, Ende Januar 2022, behauptete das Gesundheitsministerium der Autonomiebehörde fälschlicherweise, dass nur zwei Arten von Antigen-Schnelltests anerkannt und von der Weltgesundheitsorganisation zertifiziert seien. Es stellte sich schnell heraus, dass diese beiden Tests von Firmen führender Beamter der Palästinensischen Autonomiebehörde beschafft und verteilt wurden. Nachdem dies aufflog und öffentlich angeprangert wurde, dauerte es nur Stunden, bis das Gesundheitsministerium seine Behauptung zurücknehmen und erklären musste, dass auch andere Antigentests zugelassen seien.

Im Gegensatz zu den westlichen Ländern kontrolliert der Staat Israel mehr als fünf Millionen Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten, Menschen, die er in der Pandemie versucht hat zu ignorieren. Der israelische Staat bestreitet bis heute, dass er eine Verantwortung für die Bereitstellung von Impfstoffen für alle Bewohner:innen und deren Gesundheit hat, ganz so, als ob das Corona-Virus in den besetzten palästinensischen Gebieten keine Auswirkungen auf Israelis in den Grenzen von 1967 hätte.

Wenn sich aus der Pandemie eine Lehre ziehen lässt, dann die, dass seine grenzüberschreitende Ausbreitung von Mensch zu Mensch unabhängig von Staatsangehörigkeit oder ethnischer Zugehörigkeit stattfindet. Die anhaltende Weigerung der israelischen Regierung, das Gebiet zwischen dem Jordan-Fluss und dem Mittelmeer als eine Einheit zu behandeln, wenn es um Corona geht, während sie dasselbe Territorium wie eine Einheit behandelt, wenn es militärisch und politisch opportun ist, wird auch weiterhin jeden Versuch einer Rückkehr zur Normalität zunichtemachen, sollten neue Virusvarianten auftauchen.

Eine Herdenimmunität zu erreichen ist vermutlich das Ziel der Impfkampagnen in vielen Ländern der Welt gewesen. Bemerkenswert ist, dass in Israel der Staat ernsthaft bestrebt war, dieses zu erreichen, während er zugleich mehr als 40 Prozent der Bevölkerung unter seiner Kontrolle im Stich gelassen hat. Selbst vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass 70 Prozent der Gesamtbevölkerung geimpft sein müssen, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Dies hat die israelische Politik selbst unter den eigenen Bürger:innen nicht geschafft. Was einst wie eine erfolgreiche Impfkampagne aussah, hat sich zu einer äußerst willkürlichen und verwirrenden Politik entwickelt. Die Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten sind diesem System auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und dabei noch die einzigen, die die Richtlinien des israelischen Gesundheitsministeriums weiterhin befolgen müssen.

Veröffentlicht am 07. April 2022

Chris Whitman

Chris Whitman ist medico-Büroleiter Israel und Palästina.


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