Syrien

Humanitäre Hilfe als Mittel der Geopolitik

Eine UN-Resolution zur Sicherung der humanitären Hilfe in Syrien wird zum Spielball von Machtinteressen. Mit fatalen Konsequenzen für die Betroffenen.

Von Anita Starosta

„All is well“ twitterte US-Präsident Trump, weil keine US-Soldat*innen bei dem iranischen Raketenangriff auf einen internationalen Militärstützpunkt nahe der kurdisch-irakischen Stadt Erbil ums Leben kamen. „Alles ist gut“? Nichts ist weiter entfernt von der Realität unserer Partner*innen im Nahen Osten. Hierzulande lesen wir täglich die Warnungen vor einer „Eskalation“ und einem „Flächenbrand“, lesen über die Gefahren eines Krieges zwischen den USA und Iran. Aber für Millionen Menschen in Syrien, im Jemen, dem Irak, im Libanon, in Gaza oder im Iran sind Eskalation und Flächenbrand längst Alltag.

Veto gegen unabhängige Hilfe

Über Wochen beschäftigte den UN-Sicherheitsrat die Verlängerung der Resolution 2165/2449, die grenzüberschreitende Hilfslieferungen nach Syrien seit 2014 ermöglicht und die garantiert, dass Hilfsgüter über Grenzübergänge mit Jordanien, dem Irak und der Türkei nach Syrien gelangen konnten. Gerade für die Gebiete, die nicht unter Kontrolle des syrischen Regimes stehen oder die aufgrund von Kampfhandlungen nicht von der UN in Damaskus erreicht werden können, ist diese Hilfe lebenswichtig.

Bisher waren die Verlängerungen reine Formsache, im Dezember jedoch blockierten Russland und China die Fortführung der Hilfe mit einem Veto. Ihr Ziel: Jede humanitäre Hilfe über Damaskus laufen lassen. Ein weiterer Schritt zur Anerkennung des Assad-Regimes, zur Schwächung der unabhängigen Selbstverwaltung in Nordostsyrien und eine bewusste Leugnung der vom Regime begangenen Verbrechen an der syrischen Zivilbevölkerung.

Ein fataler Kompromiss

Schlussendlich wurde die Resolution doch noch kurz vor ihrem Auslaufen am vergangenen Freitag verlängert. Allerdings nur um sechs Monate und mit einem Kompromiss, der besonders für Nordostsyrien, die Gebiete der autonomen Selbstverwaltung, fatale Konsequenzen haben wird: Die Hilfskorridore über Jordanien und den Irak werden geschlossen, UN-Hilfe soll nach Syrien jetzt nur noch über zwei türkische Grenzzugänge gelangen.

Laut UN-Angaben werden 1,4 Millionen Menschen in Nordostsyrien von essentiellen Lieferungen der UN abgeschnitten, weil es für die UN-Organisationen keinen alternativen Zugang in die Region – außer über das Regime in Damaskus – mehr gibt. Das bedeutet für die selbstverwaltete Region, die erst kürzlich durch den jüngsten türkischen Militärangriff scher getroffen wurde, einen weiteren schweren Schlag. Die nie wirklich ausreichende Versorgung der Bevölkerung und der Flüchtlinge, die hier Schutz fanden, ist in Gefahr. Einen Plan B gibt es nach Angaben der Vereinten Nationen nicht.

Kriegsparteien bekommen mehr Einfluss

So schwindet der internationale Einfluss auf die humanitäre Versorgung in Syrien weiter. Künftig wird mehr Hilfe über die UN in Damaskus, also in Absprache mit dem Regime von Präsident Baschar al-Assad, und über Grenzübergänge mit der Türkei laufen. Damit werden zwei direkte Kriegsparteien noch mehr als in den letzten Jahren bei der Verteilung von Hilfsgütern mitbestimmen. Überparteilichkeit und Neutralität, zwei Grundprinzipien internationaler Hilfe, werden damit weiter in den Hintergrund treten – vor den Machtinteressen von Erdogan und Assad.

Die Resolution 2165/2449 war nicht nur wichtig, um die Umsetzung humanitärer Maßnahmen zu verbessern. Sie war auch notwendig, weil das Assad-Regime kein verlässlicher Partner bei der Versorgung von Hilfsbedürftigen in Syrien war und ist. Im Gegenteil: Das Regime führte Krieg gegen ganze Städte wie Homs, gegen Stadtteile wie Ost-Aleppo oder Regionen wie Ost-Ghouta. Systematisch wurde dabei auf völkerrechtswidrige Strategien des Belagerns, des Aushungerns und der systematischen Verweigerung von Hilfe gesetzt. Ausgerechnet dieses Regime soll nun die Versorgung von Millionen Menschen im Land sicherstellen?

Eine humanitäre Katastrophe

Schon seit Jahren befinden sich in den Gebieten der autonomen kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien mehrere von der UN anerkannte Flüchtlingslager. Hunderttausende sind auf der Suche nach Schutz vor den Angriffen des Regimes oder dem „Islamischen Staat“ und anderen islamistischen Verbänden hierhin geflohen. Dazu kommt eine Vielzahl informeller Ansiedlungen von Flüchtlingen in Dörfern und Städten sowie Flüchtlingscamps, die von der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond allein betrieben werden. Laut aktuellen UN-Angaben halten sich über 700.000 intern Vertriebene in Nordostsyrien auf, davon lediglich 100.000 in fünf anerkannten UN-Camps. Unter ihnen befinden sie auch immer noch die 10.000 ausländischen IS-Anhänger*innen. Nur vereinzelt werden sie in ihre Herkunftsländer zurückgeholt.

Infolge der türkischen Militäroperation im Oktober 2019 flohen etwa 200.000 Menschen aus der nordsyrischen Grenzregion. Etwa die Hälfte konnte inzwischen in ihre Heimatorte zurückkehren, der Hilfsbedarf ist dennoch weiter groß. De facto dulden Deutschland und die internationale Gemeinschaft sowohl die völkerrechtswidrige Besetzung der Provinz Afrin Anfang 2018 und nun die Einnahme des Grenzgebietes zwischen Serê Kaniyê (Raʾs al-ʿAin) und Girê Spî (Tall Abyad) durch türkische Söldnertruppen. Die lokalen Helfer*innen, mit denen medico international kooperiert, sind weitestgehend sich selbst überlassen und auf Spenden angewiesen, um Nothilfe leisten zu können.

Völkerrechtsbruch der Türkei

Die Streichung des Grenzübergangs Al-Yaroubiyeh (Rabiah) mit dem Irak aus der UN-Resolution wird eine dramatische Zuspitzung der ohnehin schon schwierigen Versorgungslage in Nordostsyrien bedeuten. Das größte Flüchtlingslager der Region, das al Hol-Camp, leidet schon seit Monaten unter der chronischen Unterversorgung. Die Helfer*innen arbeiten rund um die Uhr und leisten das Menschenmögliche, dabei bewegen sie sich ständig am Rande ihrer Kapazitäten. Bricht jetzt die UN-Hilfe weg, sind die Folgen unabsehbar. Hinzu kommt das Problem der Tausenden (ausländischen) IS-Anhänger*innen, die sich hier aufhalten und immer wieder kleinere Revolten, auch wegen der Mangelversorgung, anzetteln.

Die örtlichen Helfer*innen vom Kurdischen Halbmond verlassen sich schon lange nicht mehr auf die internationale Gemeinschaft, trotzdem warnen sie vor den Folgen der veränderten Resolution. Sherwan Bery vom Kurdischen Roten Halbmond sagt: „Bisher konnten wir direkte Absprachen mit den UN-Agenturen treffen, aber sollte die Hilfe über Damaskus laufen, wird es noch schwieriger, schnell zu handeln. Wird die Resolution nicht verlängert und der Grenzübergang Al-Yaroubiyeh geschlossen, ist dies ist eine Instrumentalisierung der Hilfe zu Lasten der Bevölkerung. Der Einfluss von Assad und auch Russland wächst.“

Die Türkei hatte in die Debatte im UN-Sicherheitsrat den Vorschlag eingebracht, den Grenzübergang bei Girê Spî (Tall Abyad) als weiteren Hilfskorridor in die Kompromissresolution aufzunehmen. Ein schlauer Schachzug, denn Girê Spî führt direkt in das von der Türkei Ende vergangenen Jahres besetzte Gebiet, wo Erdogan zehntausende arabisch-syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln will. Ein eindeutiger Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention und des Völkerrechts. Diese demographische Neuordnung soll eine Rückkehr der ehemaligen kurdischen Bewohner*innen ausschließen. Die ethnische Vertreibung der Kurden mit Hilfe eines internationalen Versorgungsmanagements durch die UN wäre so sichergestellt.

Und so ist nichts gut in diesem beginnenden zehnten Kriegsjahr in Syrien. Humanitäre Hilfe und die Vereinten Nationen machen sich selbst zum Spielball geopolitischer Machtspiele, von Unabhängigkeit der Hilfe und echten Friedensinitiativen kann längst keine Rede mehr sein. Es bleibt: Die Solidarität mit den lokalen Helfer*innen, die konkrete Hilfe leisten und dabei nach wie vor an der Idee eines anderen Syriens festhalten.
 

Die Helfer*innen des Kurdischen Roten Halbmonds versorgen Hunderttausende Menschen in Flüchtlingscamps und leisten direkte Nothilfe, zuletzt bei der türkischen Militäroperation im Oktober, als sie Verletzte aus der Kampfzone retteten und Flüchtlinge begleiteten.

Spendenstichwort: Rojava

Veröffentlicht am 13. Januar 2020

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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