Nordsyrien

Was bleibt, ist die Solidarität

Die internationale Politik hat versagt. Angesichts der humanitären Katastrophe nach dem türkischen Angriff auf Rojava leisten die medico-Partner*innen Übermenschliches.

Die Nothelfer*innen der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond sind seit dem 9. Oktober im Dauereinsatz. Dabei wurden sie auch selbst zu Zielen der türkischen Angriffe: Krankenwägen und Erste-Hilfe-Stationen wurden gezielt bombardiert, Gesundheitspersonal von den türkischen Söldnertruppen entführt und ermordet.

Das politische Desaster das sich rund um den völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei abspielt, hat unmittelbare Folgen. Für Rojava, für die inzwischen knapp 300.000 Flüchtlinge und für die lokalen Helfer*innen vor Ort. Was uns zurzeit bleibt, ist die solidarische Unterstützung der Nothilfe, denn der Hilfsbedarf ist riesig. Ebenso wichtig sind die Verfolgung der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und die öffentliche Verurteilung des Versagens der internationalen Politik, die diesen erneuten Völkerrechtsbruch der Türkei gegenüber den Kurden nicht verhindert hat

medico-Partner im Dauereinsatz

Auch dank der solidarischen Spenden der medico-Unterstützer*innen können die lokalen Helfer*innen des Kurdischen Roten Halbmondes ihre dringend notwendige Arbeit machen. Viele internationale NGOs, mit denen der Kurdische Halbmond eng zusammen arbeitete, mussten sich aufgrund der Sicherheitslage aus Nordsyrien zurückziehen – zu unsicher sind die Folgen der Zwangskooperation der kurdischen Selbstverwaltung mit Assad. Aber auch die Befürchtungen vor dem Wiedererstarken des IS und der näher rückenden Kriegsfront sind groß. Unsere Partnerorganisation veranlasste dies, einen Hilferuf abzusetzen, in dem sie vor den verheerenden Folgen für die humanitäre Hilfe warnte:
 

„Die Koordinierung der Nothilfe ist äußerst schwierig, da alle internationalen NGOs heute Morgen auch ihr wichtiges ausländisches Personal abgezogen haben. Im Moment ist der Kurdische Rote Halbmond die einzige humanitäre Hilfsorganisation, die direkte Nothilfe vor Ort leistet. Die Türkei akzeptiert uns nicht als neutrale, humanitäre Hilfsorganisation und verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht, indem sie unsere Krankenwagen und Gesundheitspunkte gezielt angreift.

Wir werden unsere Aktivitäten in allen sechs Flüchtlingslagern, allen Gesundheitskliniken und Krankenhäusern fortsetzen – wo es uns möglich ist. Wir werden die Verletzten weiterhin versorgen und dokumentieren. Ebenso werden wir uns um die aktuell Vertriebenen kümmern und die humanitäre Hilfe koordinieren.

Wir brauchen JETZT die Hilfe der internationalen Gemeinschaften“ (15. Oktober, Qamischli)


Neben den Einsätzen im Kriegsgebiet und der Versorgung der inzwischen knapp 300.000 Flüchtlinge gibt es noch sechs reguläre Flüchtlingscamps und etliche informelle Ansiedlungen mit über hunderttausend Binnenvertriebenen aus Syrien und über zehntausend IS-Anhängerinnen mit ihren Kindern, die ebenfalls vom Kurdischen Roten Halbmond medizinisch betreut werden. Zwar sind das UNHCR und die WHO weiter vor Ort und kümmern sich um eine rudimentäre Basisversorgung, viele internationale Hilfsorganisationen haben sich aber auch aus den Flüchtlingscamps zurückgezogen, wo die Versorgungslage nun mehr als prekär ist.

Besonders in den Camps Ain Issa oder al Hol, wo sich in gesondert gesicherten Sektionen internationale IS-Anhänger*innen aufhalten, ist die Situation angespannt. Es gab Aufstände und Ausbrüche, die IS-Ideologie lebt hier fort. Die fehlende internationale Unterstützung der Kurden im Umgang mit den IS-Leuten, die wir immer wieder eingefordert haben, kann nun verheerende Folgen haben.

Die medico-Hilfe für die Verletzten und Flüchtlinge

In einer ersten adhoc-Hilfsmaßnahme unterstützt medico international den Kurdischen Halbmond beim Kauf von Medikamenten zur Behandlung von chronischen Krankheiten der Flüchtlinge, die sich aktuell in den Notunterkünften aufhalten. Viele haben bei der übereilten Flucht ihre Medikamente zu Hause lassen müssen oder sie auf dem Fluchtweg verloren.

Außerdem wird der Ausbau sanitärer Anlagen und des Abwassersystems in 39 Notunterkünften der Flüchtlinge in der Stadt Hasakeh mit medico-Spenden vorangetrieben, um die Gesundheitssituation zu verbessern. Tausende Flüchtlinge kommen zurzeit in Schulen oder anderen öffentlichen Einrichtungen unter. Viele müssen aber auch unter freiem Himmel campieren – der Platz reicht nicht aus.

Die Unterstützung der zwei zentralen Krankenhäuser der betroffenen Region – in Tel Tamer und Hasakeh – läuft an. Hier kommen zurzeit die meisten Kriegsverletzten an und werden medizinisch behandelt. In beiden Einrichtungen müssen die Kapazitäten schnellstmöglich erweitert werden. Durch den Krieg sind mehrere Krankenhäuser in den Grenzstädten nicht mehr zugänglich oder nur sehr eingeschränkt nutzbar, wie zum Beispiel in Kobanê. Die in den letzten Jahren mühsam neu aufgebauten Krankenhäuser, Gesundheitseinrichtungen aber auch Ausbildungsräume für Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen liegen zu großen Teilen in den Gebieten die von den türkischen Söldnern besetzt wurden oder sie befinden sich in dem 30 Kilometer tiefen Streifen, in dem nun russisches und syrisches Militär patrouilliert.

Der Kurdische Halbmond verfügt momentan über 54 Rettungswägen, die alle im permanenten Einsatz sind. Mit medico-Unterstützung werden die laufenden Kosten – vom Treibstoff bis zur Reparatur – von 25 Krankenwägen übernommen. Die Beispiele zeigen, wie wichtig die fortlaufende, solidarische Unterstützung der lokalen Helfer*innen ist und wie groß auch der Hilfsbedarf in den nächsten Wochen sein wird.

Spendengelder fließen derzeit vor allem in die akute Nothilfe, aber auch andere zum Teil längerfristige medico-Projekte in Rojava gehen unter den Bedingungen der Vertreibung weiter. Ob Projekte wie der geplante Ausbau eines Kinderkrankenhauses in Hasakeh oder die Waisenhäuser in Kobanê und Derik wieder regulär in Betrieb genommen werden, ist zurzeit offen. Alle Kapazitäten unserer Partner konzentrieren sich zurzeit auf die Noteinsätze und die Versorgung der Flüchtlinge.

Aktuelle Nachrichten aus Rojava

Während ich diesen Bericht schreibe, erreichen uns erneut dramatische Nachrichten. Das Krankenhaus in der Stadt Tel Tamer ist akut von Angriffen bedroht und musste evakuiert werden. Zu nah rücken die islamistischen Milizen, die unter Führung der Türkei operieren und das Gebiet zwischen Tall Abyad (Girê Sipî) und Raʾs al-ʿAin (Serê Kaniyê) besetzen. Damit ist das wichtigste Krankenhaus in unmittelbarer Nähe der Frontlinie nicht mehr benutzbar, in den letzten Tagen wurden hier dutzende Schwerverletzte versorgt. Außerdem war die Stadt Anlaufpunkt für tausende Flüchtlinge.
 

Ein internationales Desaster

Die humanitäre und politische Katastrophe, vor der medico gemeinsam mit Intellektuellen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen schon Anfang dieses Jahres warnte, ist nun eingetroffen. Knapp 300.000 Menschen sind auf der Flucht und müssen versorgt werden. Ob sie jemals wieder in ihre Heimatorte zurück können ist unklar. Ein Leben unter türkischer Besatzung, wie sie zwischen Russland, Assad und der Türkei für einen Teil der umstrittenen Region vereinbart wurde, ist vor allem für die kurdische Bevölkerung sicherlich keine Option. Hinzu kommen die Ankündigungen Erdoğans, 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge in Nordsyrien ansiedeln zu wollen. Die Folge wäre eine ethnische Säuberung dieser vorwiegend kurdischen Gegend. Diese bewusste demographische Neuordnung durch Vertreibung und ethnische Säuberung wäre ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention: Flüchtlinge gegen ihren Willen in völkerrechtswidrig besetzten Gebieten anzusiedeln, widerspricht der Genfer Konvention. Nicht zu vergessen dass viele syrische Flüchtlinge die Präsenz des syrischen Regimes in der Region fürchten, vor dem sie zum Teil bereits vor Jahren aus anderen Teilen Syriens geflohen sind.

Mit einer Eroberung Rojavas steht aber auch der Demokratisierungsprozess der letzten sechs Jahre auf dem Spiel. Die Selbstverwaltung Nordostsyriens war nie und ist auch heute keine bloß kurdische, sondern eine multiethnische und multireligiöse Selbstverwaltung – mit demokratischen Wahlen und weitreichenden Freiheiten der Bürger*innen. Die Bemühungen um den Aufbau einer Basisgesundheitsversorgung sind außerordentlich und kamen auch den mehreren hunderttausend Menschen aus Syrien und dem Irak zugute, die hier Zuflucht gefunden hatten. Im Unterschied zu den anderen Kriegsparteien in Syrien hat sich die nordsyrische Selbstverwaltung Vorwürfen von Menschenrechtsverbrechen gestellt und sich auf internationale Prozesse ihrer Überprüfung eingelassen.
 

Der Angriff hätte verhindert werden können

Dass all dies nun infrage gestellt ist und das friedliche Zusammenleben in Rojava vorerst beendet scheint, hätte verhindert werden können. Wir sind Zeug*innen eines Desasters internationaler Politik. Die Folgen eines türkischen Einmarsches in Nordsyrien sind in der Region Afrin bereits sichtbar: Ethnische Säuberung, Ansiedlung arabischer Flüchtlinge, freie Hand für islamistische Milizen. Dieses Programm sieht Erdoğan nun auch für die besetzten Gebiete in Rojava vor.

Eine Woche vor dem Beginn der türkischen Operation hat Innenminister Seehofer den türkischen Außenminister Çavuşoğlu getroffen, um den EU-Türkei-Deal nachzuverhandeln. Migrationsabwehr zählt offensichtlich mehr als die Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen oder die Verhinderung eines völkerrechtswidrigen Krieges. Ebenso blass scheinen die Bemühungen von Außenminister Maas, der es bei einem Besuch in Ankara nicht schaffte, Menschenrechtsverletzungen anzusprechen. Gleichzeitig wirkt der Vorstoß der CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer mehr als unbedarft. Seit Jahren fordert die Selbstverwaltung in Nordsyrien eine UN-geführte Sicherheitszone als Puffer zur Türkei. Jetzt wurde sie weder in den Vorschlag einbezogen noch konnte Kramp-Karrenbauer auf ernstzunehmende Allianzen in EU oder NATO verweisen, so dass der Vorschlag schnell wieder vom politischen Tableau fiel. Dabei könnte die Bundesregierung mit einem ernstgemeinten Stopp von Rüstungsexporten in die Türkei oder der Aufkündigung von Hermesbürgschaften durchaus Einfluss nehmen.

Auch das Versagen der internationalen Gemeinschaft – ob EU oder Vereinte Nationen – in den letzten Wochen charakterisiert eine implodierte Weltordnung, in der die Menschenrechte nicht mehr viel zählen. Thomas Seibert wirft deshalb zurecht die Idee einer Neugründung der Vereinten Nationen in den Raum.

Leidtragende sind die Menschen Rojava: diejenigen die unter schwierigsten Bedingungen das Zusammenleben in einem multiethnischen, demokratischen Nordsyrien erprobten und die unermüdlichen Helfer*innen, die selbst jetzt Ruhe bewahren und mit unglaublichem Einsatz ihre Arbeit fortsetzen. Ihnen allen muss in diesen Tagen und in den nächsten Wochen unsere Aufmerksamkeit und solidarische Unterstützung gelten.

Mit einer Spende können Sie die Nothilfe-Projekte vor Ort unterstützen:

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Veröffentlicht am 31. Oktober 2019

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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