Flut in Pakistan

"Ground Zero" der ökologischen Katastrophe

Mustafa Zaor von HANDS Pakistan über Regierungsverantwortung und -ohnmacht, über Hilfe und Reparationsforderungen.

medico: Heute schon wissen wir, dass die Überflutungen im Süden Pakistans zur größten humanitären Katastrophe seit Jahrzehnten geführt haben. Die Zahlen sind ungeheuerlich. Kannst Du uns auf den aktuellen Stand bringen?

Mustafa Zaor: Wir können bestätigen, was die Medien melden. Rund 1500 Menschen sind gestorben, weit über 12.000 verletzt. Große Teile der Provinz Sindh stehen unter Wasser, geschätzt zwei Millionen Häuser sind zerstört, 13.000 Kilometer Straßen, 300 Brücken, die Fluten haben auch Krankenhäuser und Schulen zum Einsturz gebracht oder schwer beschädigt. 33 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen, fast die Hälfte von ihnen muss jetzt versuchen, auf offener Straße, unter freiem Himmel zu überleben. Die Ernte des ganzen Jahres ist zerstört, niemand weiß, wann wieder ausgesät werden kann. Die Leute haben aber nicht nur die Ernte, sie haben auch ihr Vieh verloren. Nicht zuletzt: es gibt keine Läden, keine Märkte mehr, und kaum jemand hat Bargeld in der Tasche.

Wie kommen die Leute in solcher Lage zurecht?

Sie kommen nicht zurecht: wie sollen sie auch! Sie sind zutiefst verstört, verzweifelt, fühlen sich alleingelassen. Sie hungern, sie werden krank. Das Wasser ist verdreckt, weshalb sich Hautkrankheiten und Durchfälle ausbreiten. Über den Wassern schwirren Milliarden von Mücken, bringen Malaria und Denguefieber. Und die Obdachlosigkeit ist natürlich selbst ein untragbarer Zustand, zuerst für die Leute, die weiter auf der Straße leben, zum Teil auf Autobahnen, aber auch für die, denen es gelungen ist, in einem der Nothilfelager unterzukommen. Viele Organisationen, viele Leute wollen helfen, haben dafür aber nicht genügend Ressourcen. Keine Boote, kein Werkzeug, um Dämme zu reparieren oder Abflusskanäle zu graben, keine Nahrungsmittel.

Bemerkenswert ist, dass die Migration in die Städte nicht so stark zu sein scheint wie bei den Fluten vor zehn Jahren: Die Leute wissen, dass sie dort nicht willkommen sind, dass der Überlebenskampf brutal ist. Deshalb bleiben sie im Moment lieber in der Nähe ihrer Dörfer. Wer gehen will, wird versuchen, ins Ausland zu gehen, nach Europa.

Man spricht von einer Fluchtbewegung syrischen Ausmaßes, die versuchen wird, über den Iran durchzukommen.

Das stimmt, die Grenze zum Iran ist der einzig offene Weg. Ob die Bewegung so groß wird wie die der Menschen aus Syrien weiß ich nicht, aber dass es viele, sehr viele sein werden, glaube ich auch.

Was tut die pakistanische Regierung, was tun Staat und Militär?

Das Militär ist vor Ort und tut, was es unter diesen Umständen tun kann. Das aber ist, wie bei den zivilen Helfer:innen, nicht genug. Auch weil selbst das Militär nicht überall hinkommt, wo Hilfe gebraucht wird: noch immer sind tausende von Menschen vom Wasser eingeschlossen. Deine Frage ist aber nicht ganz die richtige. Man muss fragen: Was haben die Regierungen auf der nationalen und der Provinzebene nach den verheerenden Fluten von 2010 getan, um auf eine weitere – um auf diese Krise vorbereitet zu sein? Diese Frage kann man schnell beantworten: Sie haben so gut wie nichts getan, waren selbst nicht vorbereitet und haben auch die Leute nicht auf weitere Überflutungen vorbereitet.  Der Chefminister der Provinz Sindh hat das sogar öffentlich eingestanden: „Mit solcher Zerstörung und Verwüstung haben wir nicht gerechnet.“ Lass es mich in aller Schärfe sagen: In Bezug auf das, was unsere Regierungen seit 2010 hätte tun müssen, waren die zurückliegenden Jahre verlorene Jahre.

Was heißt das jetzt?

Das Wasser fließt von den bergigen Zonen im Norden zum Meer im Süden. Dazwischen liegt die Provinz Sindh. Weil sie sehr flach ist, staut sich hier das Wasser, muss deshalb über Kanäle weitergeleitet werden. Die sind aber seit 2010 nicht weiter ausgebaut, einige von privaten Landbesitzern sogar wieder zugeschüttet worden. Mit den Dämmen verhält es sich ähnlich: ihre Anlage und Wartung unterliegen keiner landesweiten Planung, sondern folgt oft privaten Interessen am Schutz nur des eigenen Grundbesitzes. Dabei können die Landbesitzer Verordnungen zur Katastrophenprävention sogar offen zuwiderhandeln, weil sie die Provinzparlamente dominieren.

Überschwemmt wäre das Land aber auch, wenn Präventionsmaßnahmen ideal umgesetzt worden wären.

Natürlich. Die Kluft, zwischen dem, was getan werden müsste, und dem, was getan werden kann, ist einfach zu groß: für den Staat, für das Militär und für uns. Wer das nicht versteht, hat die Dimension der Krise nicht verstanden. Problematisch ist daran auch, dass wir nicht genug Mittel haben, um mit den Hilfswerken der religiösen Parteien zu konkurrieren. Die sind besser ausgestattet und können flexibler vorgehen, eher wie eine Bewegung, weil sie nicht den Regeln unterliegen, die wir befolgen müssen – die wir zumindest zum Teil ja auch befolgen wollen. Deshalb überlegen wir schon seit einiger Zeit, ob und wenn ja, wie auch wir Spenden bekommen können, die beim Freitagsgebet gesammelt werden. Das ist natürlich nicht nur ein technisches, sondern auch ein sehr kompliziertes politisches Problem, für uns, aber auch für die allgemeine politische Situation unseres Landes.

Sag uns etwas mehr!

Ich fang mit uns an. HANDS war wirklich gut vorbereitet, wir haben aus der letzten Katastrophe gut gelernt, haben fortlaufend verbessert, was wir professionell unsere „disaster preparedness“ nennen. So haben wir zum Beispiel neun Katastrophenschutzzentren angelegt, die jetzt als Orte dienen, in denen die Hilfe koordiniert wird. Zu diesen Zentren gehören Lagerhäuser, in denen wir Hilfsmittel zur Verfügung halten, Wassertanks zum Beispiel, aber auch Wasserfilter, die wir jetzt an die Leute verteilen können, Behelfszelte, die Obdachlosen Unterkunft gewähren, tragbare Toiletten, auch Medikamentenvorräte. Doch haben auch wir mit Einbußen an Ressourcen zu kämpfen, an denen wir kaum etwas ändern können. Die internationale Hilfe für Pakistan ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen: das war falsch. Wir haben zwei internationale Geldgeber verloren, die ihre Arbeit hier vor Ort einstellen mussten. Hinzu kommt die ungeheure Inflation. Das Geld, das wir einwerben und strategisch zurücklegen konnten, hat massiv an Wert verloren: da geht es uns nicht anders als allen Pakistaner:innen. Die ökonomische Krise aber kann von Pakistan allein gar nicht gelöst werden. Da sind wir hilflos, da wäre auch die beste Regierung hilflos. Auf den Punkt gebracht: an Barmitteln haben wir heute im Verhältnis weniger als wir 2010 hatten. Das ist die Lage.

Sherry Rehman, Pakistans Ministerin für den Klimawandel, bezeichnet Pakistan als den „ground zero“ der ökologischen Katastrophe. Von den Ländern des globalen Nordens fordert sie deshalb nicht nur Hilfe, sondern Reparationen. Und: Sie fordert den Norden selbst zu tiefgreifenden Umwälzungen auf, zu massiven Veränderungen der Produktions- und Lebensweisen in Europa und den USA.

Was soll ich dazu sagen? Sie hat einfach Recht, trotz allem, was ich ihrer Regierung und den Vorgängerregierungen vorgeworfen habe. Reparationen statt bloß freiwilliger Hilfe fordert auch die Menschenrechtskommission unseres Landes. Ich glaube nicht, dass die Kommission mit dieser Forderung ihr Mandat überschreitet. Dass Pakistan nicht allein Hilfe, sondern Reparationen bekommt, ist eine Menschenrechtsfrage. Eine Menschenrechtsfrage ist auch, dass die Länder, die für den Klimawandel verantwortlich sind, ihre Produktionsweise ändern müssen. Dasselbe gilt für die Weltwirtschaftsordnung.

Unser Land ist überschuldet, wir nehmen immer neu Schulden auf, nur um unsere Schulden zurückzahlen zu können. Wie viele Länder des globalen Südens leben wir zu einem erheblichen Teil von den Rücküberweisungen von Pakistaner:innen, die im Ausland arbeiten. Das ist eine aussichtslose, eine absurde Situation. Und, noch einmal: Pakistans Beitrag zu den globalen Treibhausgasemissionen liegt bei 0,4 Prozent. Wir bezahlen eine Rechnung, für die andere verantwortlich sind.

Diesen Streit werden wir gemeinsam führen: Dass Pakistan und der ganze globale Süden Anspruch nicht einfach auf Hilfe, sondern auf Reparationen für Verwüstungen haben, die der Norden, die auch Deutschland zu verantworten hat, das teilen wir ausdrücklich, und das fordern wir hier auch von unserer Regierung. Welche Forderungen aber stellt ihr an eure Regierung?

Wir alle müssen uns, unseren Regierungen und unseren Gesellschaften jetzt grundsätzliche Fragen stellen, wollen wir nicht einfach tatenlos auf die nächste Katastrophe warten. Wir haben nicht nur Anspruch auf Reparationen, sondern Anspruch auch auf politische Änderungen der Wirtschafts- und der Lebensweisen, die für die ökologischen Zerstörungen verantwortlich sind. Hier bei uns muss zunächst einmal die Verquickung von Landbesitz und politischer Entscheidungsmacht überwunden werden. Die Verfügung über Grund und Boden muss an die Übernahme der Verantwortung gebunden werden: Präventionsmaßnahmen dürfen nicht weiter ignoriert und das Lande darf nicht weiter so übernutzt werden. Wer vom Landbau profitiert, ist für seinen Schutz auch finanziell verantwortlich. Darüber hinaus aber brauchen wir endlich eine Landreform, und wir müssen notgedrungen auch Umsiedlungen vom Flachland in flutsichere Regionen diskutieren. Die Durchsetzung dieser Forderungen aber hängt auch daran, dass die für den Klimawandel verantwortlichen Länder ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Ja, es geht nicht nur um Hilfe, es geht um Reparationen, und es geht um Veränderungen der Weltwirtschaft.

Das Interview führten Karin Zennig und Thomas Rudhof-Seibert.

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Veröffentlicht am 11. Oktober 2022

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