Syrien, Irak

Es ist Krieg und keiner schaut hin

Während er im Ukraine-Krieg als Mittler auftritt, nutzt Erdogan die Gunst der Stunde für militärische Angriffe in Nordostsyrien und Kurdistan-Irak.

Von Anita Starosta

Seit Anfang dieses Jahres fanden in Nordostsyrien über 30 Drohnenangriffe durch die Türkei statt. Dabei wurden bisher 28 Menschen verletzt und neun getötet. Hinzu kommt stetiger Artilleriebeschuss durch türkische Söldnertruppen aus den von der Türkei besetzten Gebieten in der Grenzregion. Das führt seit der Besatzung (Afrin im Frühjahr 2018 und Serekaniye/Tall Abyad seit Herbst 2019) dazu, dass Hauptstraßen nicht mehr gefahrlos befahren werden können und Dörfer in unmittelbarer Nähe unbewohnbar geworden sind, zivile Infrastruktur – wie Krankenhäuser – ist nur im Notfall nutzbar.

Die gezielte Tötung politischer und militärischer Akteur:innen durch türkische Drohnen schafft seit Monaten ein Bedrohungsszenario für die gesamte Bevölkerung, denn immer wieder treffen die Drohnen auch Zivilist:innen oder schlagen an belebten Orten ein. Die Menschen leben mit der Angst, bloß nicht zur falschen Zeit im falschen Auto zu sitzen. Als Konsequenz sind in einigen grenznahen Städten Straßenzüge mit Wellblech überdacht worden, um es so Drohnen zu erschweren, ihre Ziele zu finden. Im Alltag der Bevölkerung Rojavas ist die türkische Bedrohung immer noch allgegenwärtig, doch seit der letzten großen Militäroffensive der Türkei im Herbst 2019 nimmt davon kaum noch jemand Notiz.

Türkische Offensive gegen die PKK im Nordirak

Während der türkische Präsident sich im Krieg Russlands gegen die Ukraine als Friedenstifter präsentiert, startete das türkische Militär Mitte April eine Offensive in Kurdistan-Irak, die laut Erdogan das Ziel hat, die in den Bergen präsenten Guerillaeinheiten der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu bekämpfen. In der Vergangenheit sind im Zuge solcher Militäroperationen auch immer wieder Zivilist:innen getötet worden.

Erdogan legt seit langem Wert auf gute Beziehungen zum Präsident der irakisch-kurdischen Autonomiegebiete, Masrur Barsani. Für Verstimmungen sorgt die türkische Offensive jedoch in Bagdad, wo sie als Verletzung der irakischen Souveränität verstanden wird. In einem Statement kritisiert auch die Aktivist:innen-Gruppe "Workers against Sectarianism" die türkischen Angriffe: „Diese türkische Besatzungspolitik verärgert die irakische Gesellschaft im Allgemeinen. Sie verstärkt ihr Gefühl, dass der Irak keine staatliche Souveränität hat, weil einerseits der Iran und seine Milizen im Irak intervenieren und andererseits die Türkei zusätzlich zur amerikanischen Kontrolle des Irak kurdische Gebiete bombardiert und besetzt. Iraker:innen haben das Gefühl, keine Heimat, keine Souveränität und keine politische Vertretung in der Regierung zu haben und dass sie einem diktatorischen Staat ausgeliefert sind.“

Die türkische Offensive im Norden des Irak zielt zudem darauf ab das Gebiet Sinjar zu kontrollieren, wo 2014 fünftausend Jesid:innen von Kämpfern des Islamischen Staats getötet und siebentausend Frauen und Kinder verschleppt wurden. In den vergangen Wochen kam es hier auch immer wieder zu Konflikten zwischen der irakischen Armee und jesidischen Widerstandseinheiten, die der kurdischen Guerilla nahe stehen. Leidtragend sind auch hier Zivilbevölkerung und die Jesid:innen selbst, die seit dem Genozid in nordirakischen Flüchtlingslagern leben und nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren können.

Granaten auf Kobanê

Zurück nach Rojava in Nordsyrien – auch hier sind die Auswirkungen der türkischen Militäroffensive spürbar. Die Türkei nutzt die Gunst der Stunde und intensiviert auch die Angriffe gegen die kurdische Selbstverwaltung in der Region. Drohnenangriffe finden seit letzter Woche fast täglich statt, der Granatenbeschuss in den grenznahen Städten nimmt zu. Am 22. April wurde das Stadtzentrum Kobanê von Granaten getroffen, zwei Menschen wurden dabei verletzt und Geschäfte zerstört. Bisher finden diese Angriffe ohne Reaktion des in der Region präsenten US-amerikanischen und russischen Militärs statt.

Die vermeintliche Vermittler-Rolle im Ukraine-Krieg scheint Erdogan nun auch dafür zu nutzen, eine erneute Offensive gegen die unerwünschten kurdischen Nachbar:innen in Nordsyrien und dem Irak zu führen. Ein Grund für die Angriffe dürfte auch in innenpolitischen Motiven liegen, wo Erdogans AKP infolge der wirtschaftlichen Krise und hohen Inflation unter schlechten Umfragewerten leidet. Dass die Angriffe jeglicher völkerrechtlichen Grundlage entbehren, hat indes schon der Wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung bei ähnlichen Angriffen in der Vergangenheit festgestellt. Kritik ist von NATO-Partnerländern dennoch bislang nicht zu vernehmen. Das laute internationale Schweigen zu den aktuellen Angriffen ist bitter. Angesichts des Krieges in der Ukraine scheint es einmal mehr so, dass die Stabilität der Beziehungen zur Türkei mehr wiegt als die Einhaltung von Völkerrecht und der Schutz der Menschen in der Region, die dem türkischen Angriff schutzlos ausgeliefert sind.

Veröffentlicht am 25. April 2022

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak zuständig.

Twitter: @StarostaAnita


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