Irak

Kein Aufbruch

02.12.2025   Lesezeit: 5 min  
#menschenrechte 

Wie sind die Wahlen im Irak einzuschätzen? Wie ist politische Veränderung denkbar? medico-Partner:innen berichten.

Von Maryam Ayoub

Nach mehr als zwei Jahrzehnten US-Invasion, Diktatur und IS bleibt die Lage im Irak fragil. Die politische Stimmung ist gezeichnet von wachsendem Unmut, ausbleibenden Reformen und Korruption. Als die Iraker:innen am 11. November ein neues Parlament wählten, blickte die internationale Öffentlichkeit daher gespannt nach Bagdad. Besonders viel Aufmerksamkeit erregte die überraschend hohe Wahlbeteiligung, die die nationale Wahlbehörde auf mehr als 55 Prozent bezifferte – ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Rekordtief von 41 Prozent bei der letzten Wahl 2021. Als Wahlgewinner gelten die Koalition des seit 2022 amtierenden Ministerpräsidenten Mohammed Shia al-Sudani sowie die sunnitischen und schiitischen Wahlblöcke. Die Wahlen wurden auch als Test dafür gesehen, ob der Irak nach dem militärischen Schlagabtausch zwischen Iran und Israel sowie der Schwächung der iranisch gestützten Hisbollah im Libanon in eine neue politische Phase eintreten könnte.

Deutlich nüchterner betrachten die medico-Partnerorganisationen in Bagdad das Veränderungspotenzial der Wahlen. Für unsere Partnerorganisation im Irak, eine aus der Oktoberrevolution in Bagdad hervorgegangene Aktivist:innengruppe, handelte es sich bei der Wahl eher um ein politisches Ritual denn einen demokratischen Wettbewerb. Sie beschreiben den Wahlprozess als einen verzerrten Vorgang, also eine Wahl, die zwar formal stattfindet, inhaltlich aber entkernt bleibt. Es würden kaum Kandidat:innen wegen ihrer Programme gewählt, sondern es werde entlang konfessioneller Linien und entsprechend der Logik von Patronage und Gefälligkeiten gewählt. Jobs, Stromanschlüsse oder bürokratische Erleichterungen würden als Wahlgeschenke verteilt. 

Nadia Mahmood von der medico-Partnerorganisation Aman Women Alliance, einer säkularen feministischen Organisation aus Bagdad, berichtet, wie im Vorfeld der Wahlen und am Wahltag selbst Stimmen gekauft wurden; es habe einen Mangel neutraler Wahlbeobachtungsmechanismen gegeben. Zudem habe sich in den letzten Jahren gezeigt, dass das Parlament keine Antworten auf die Forderungen der Oktoberrevolution von 2019 liefern würde. Die Oktoberrevolution, im Irak meist Tishreen-Proteste genannt, war eine breite, überwiegend von jungen Menschen getragene Aufstandsbewegung, die im Oktober 2019 begann. Sie richtete sich gegen Korruption, Arbeitslosigkeit, mangelhafte öffentliche Dienstleistungen und das gesamte konfessionelle Machtsystem des Iraks. Die konfessionellen Machtverteilung im Irak geschieht im Rahmen des sogenannten Mohasasa-Systems. Staatsämter werden hierbei nach ethnisch-konfessionelle Zugehörigkeiten vergeben. Ein zentrales Anliegen der Oktoberrevolution war es, dieses System abzuschaffen, da es als entwicklungshemmend und den Sektarismus begünstigend gilt.

Der Wahltag an sich sei ruhig verlaufen, sagt Nadia Mahmood. Allerdings deute dies eher auf politischer Resignation und mangelndes Vertrauen der irakischen Bevölkerung in das bestehende politische System hin. Viele Iraker:innen blieben zu Hause, weil sie davon ausgingen, dass ihre Stimme keinerlei Wirkung habe. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Wahlen nur der politischen Elite und regionalen Machthabern zugutekommen. Die medico-Partner:innen in Bagdad beschreiben die Parlamentswahlen als Mittel, für die etablierten politischen Kräfte „den Kuchen untereinander neu aufzuteilen“. 

Große Teile der säkularen und progressiven Bewegung, die im Rahmen der Oktoberrevolution 2019 entstand, boykottierten die Parlamentswahlen. Sie betrachten die Wahlen lediglich als Legitimierung der bestehenden Ordnung und sehen im aktuellen politischen System um die konfessionelle Machtverteilung keinerlei Möglichkeit für Veränderung. Andere Teile der progressiven Bewegung, wie auch die Aman Woman Alliance, riefen dennoch zu einer Teilnahme an den Wahlen auf. Ziel sei es eine politische Repräsentation von zivilgesellschaftlichen, säkularen und feministischen Perspektiven im Parlament zu ermöglichen, um zumindest eine parlamentarische Grundlage zu schaffen, auf der sie ihre politischen Forderungen weiter vorantreiben könnten.  Auch Anhänger:innen des schiitischen Anführers Muqtada al-Sadr boykottierten die Wahlen. Al Sadr, eine der einflussreichsten politischen Figuren des Landes, hatte offen zum Boykott aufgerufen und die Wahlen als korrupt bezeichnet.  

Die offiziell gestiegene Wahlbeteiligung wird angezweifelt. Die 55 Prozent Wahlbeteiligung beziehen sich auf die 21,4 Millionen registrierten Wähler:innen und nicht auf die real rund 32 Millionen Wahlberechtigten. Legt man die 11 Millionen abgegebenen Stimmen auf diese Gesamtzahl um, ergibt sich eine reale Wahlbeteiligung von etwa 35 Prozent. Viele Boykottierende – ob progressiv oder Anhängerinnen von al-Sadr – hatten sich gar nicht erst registrieren lassen.

Besonders kritisch ist die Lage der Frauenrechte. Nadia Mahmood beschreibt, dass trotz der Frauenquote, die vorsieht, dass ein Viertel der 329 Parlamentssitze an Frauen geht, gesamtgesellschaftlich wenig Verbesserungen spürbar seien. Trotz der Frauenquote seien Gesetze verabschiedet worden, die Frauenrechte massiv beschneiden. Mahmood sieht keine Möglichkeit, dass sich durch das neu gewählte Parlament die Situation für die Frauen im Irak verbessert. Allerdings beschreibt sie, dass durch die Härte der gesetzlichen Angriffe auf Frauen in den letzten Jahren der Austausch und die Organisierung unter Frauen wachse. Man wolle weiterhin feministische Netzwerke ausbauen, Frauen zu politischer Teilhabe bewegen und die Front nicht den religiös-konservativen Kräften überlassen. 

Was bleibt also nach diesen Wahlen? Für die außerparlamentarische Opposition werde die Arbeit schwieriger, gefährlicher und enger. Die medico-Partnerorganisationen beschreiben wachsende Repressionen und Einschüchterungsversuche gegenüber kritischen Stimmen. Zudem scheint die Eingliederung der Popular Mobilization Forces (PMF), eines Bündnisses aus schiitischen und vom Iran unterstützten Milizen, in den irakischen Staat weitehin brüchig.

Auch die Einflussnahme auf den Irak durch amerikanische und iranische Interessen wird die neue Regierung beschäftigen. Unklar bleibt daher, auf welchem Weg politischer Wandel im Irak entstehen kann. Doch in der Ernüchterung über die Wahlen wächst auch die Hoffnung, dass sich der Blick erneut auf außerinstitutionelle Formen des Widerstands richtet. Für die medico-Partner:innen ist klar, dass echter Wandel im Irak nicht in den Sitzungssälen entsteht, sondern auf den Straßen.

Maryam Ayoub studiert im Master Internationale Studien/Friedens- und Konfliktforschung mit Schwerpunkt Nahost. Zurzeit macht sie ein Praktikum bei medico.


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