Nothilfe in Gaza

Einfach überleben

Die Situation in Gaza ist vollkommen verzweifelt, der Hunger allgegenwärtig. Eine kleine Initiative nutzt kleinste Spielräume und leistet unter unmöglichen Bedingungen Hilfe.

Von Riad Othman

Der anhaltende Krieg im Gazastreifen hat mehr als 1,8 Millionen Palästinenser:innen, über 80 Prozent der Bevölkerung, zu Binnenvertriebenen gemacht. Mehr als zwei Millionen Menschen hungern seit Wochen. Die ersten Kinder sind bereits an Unterernährung gestorben, berichtete UNICEF Anfang März. Die bekannte CNN-Journalistin Christiane Amanpour hat in einem TV-Beitrag fürchterliche Bilder aus einem Krankenhaus im Norden Gazas gezeigt, wo das ärztliche Personal mangels anderer ihnen zur Verfügung stehender Optionen für (Klein-) Kinder und Babies, die mit dem Hungertod kämpfen, nicht mehr tun kann, als ihnen Salz- oder Zuckerlösung zu verabreichen.

An der Grenze zu Ägypten ist die Stadt Rafah mittlerweile von ursprünglich 300.000 Einwohner:innen auf fast 1,5 Millionen Menschen angewachsen. Die Bevölkerungsdichte liegt dort mittlerweile bei über 23.000 Menschen pro Quadratkilometer. Die Infrastruktur der Stadt kann das nicht verkraften. Anders als im Norden Gazas kommt in Rafah vergleichsweise immer noch mehr Hilfe an als andernorts. Dieser Umstand spiegelt sich unter anderem in der Tatsache, dass in Rafah „nur“ 5 Prozent der 6 bis 23 Monate alten Kinder akut unterernährt sind, während es im Norden mehr als dreimal so viele sind, wie das Global Nutrition Cluster in einem alarmierenden Bericht im Februar 2024 bekannt gegeben hat. Doch auch die Hilfe in Rafah ist in keiner Weise ausreichend, weder qualitativ noch quantitativ.

Die Zahlen aus Gaza stehen jeweils für die schwerste Form der Unterernährung. Was daraus folgen kann und wird, wenn sich nichts an der Versorgungslage hinsichtlich des Nahrungsmittel- und Trinkwasserangebots sowie der Verfügbarkeit medizinischer Behandlungsmöglichkeiten ändert, ist der vielfache Hungertod, auch durch mittelbare Ursachen wie grassierende Infektionskrankheiten, denen völlig entkräftete Körper wenig bis gar nichts entgegenzusetzen haben. Die bereits jetzt sterbenden Kleinkinder bilden die Spitze eines Eisbergs unvorstellbarer Ausmaße. Im oben erwähnten Bericht heißt es weiter: „90 Prozent aller Kleinkinder und stillenden Mütter sind mit schwerwiegender Ernährungsarmut konfrontiert. Sie essen zwei oder weniger Lebensmittelgruppen pro Tag. Die ihnen zugänglichen Lebensmittel haben den geringsten Nährwert. Mindestens 90 Prozent der Kinder unter 5 Jahre haben mindestens eine Infektionskrankheit und 70 Prozent von ihnen litten in den vergangenen zwei Wochen unter Durchfall.“ Vier von fünf Menschen in Gaza haben im Schnitt Zugang zu maximal einem Liter Trinkwasser pro Tag.

Politisches Versagen

Die weiteren Erkenntnisse des Berichts lesen sich ebenso dramatisch. Es ist nicht der erste Bericht dieser Art, der Politiker:innen in einflussreichen Ländern wie den USA oder Deutschland klarmachen könnte, welche Ausmaße die Katastrophe hat und dass humanitäre Hilfe im erforderlichen Umfang eigentlich nur auf dem Landweg möglich ist, nicht über den angedachten „Seekorridor“ und schon gar nicht aus der Luft. „Ein Waffenstillstand ist der einzige Weg, um den Tod der hungernden Kinder zu verhindern“, sagt Bassam Zaqout, Arzt und Programmkoordinator bei der medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society. Seit Monaten schlägt auch er sich mit seiner Frau und seinen Kindern als Binnenflüchtling durch.

Dass es so weit kommen konnte, liegt daran, dass die israelische Armee in Verletzung der rechtsverbindlichen Anordnung des Internationalen Gerichtshofs vom 26. Januar 2024 in Den Haag noch immer keinen ungehinderten Zugang zu humanitärer Hilfe gewährleistet. Im Gegenteil, sie blockiert ihn aktiv, wie neulich, als einem Konvoi aus 14 Lastwagen des Welternährungsprogramms an einem Checkpoint bei Wadi Gaza die Durchfahrt in den nördlichen Teil der Enklave grundlos verweigert wurde. Strukturen, die Hilfe leisten, werden angegriffen, deren Arbeit behindert oder deren Gelder wurden suspendiert oder eingestellt. Sogar Hilfesuchende selbst wurden bereits angegriffen, wie am 29. Februar. Der Zwischenfall mit über 100 Toten war nur ein besonders tödliches Beispiel solcher Übergriffe. Laut dem britischen Guardian soll es alleine zwischen Mitte Januar und Ende Februar mindestens 14 Angriffe auf Menschen gegeben haben, die versuchten, humanitäre Hilfsgüter in Empfang zu nehmen.

Irrsinn und Zerstörung trotzen

All das ist nicht gottgegeben, es ist kein unabwendbares Schicksal. Es ist Ergebnis einer gezielten Kriegsführung seitens der israelischen Regierung und der weitestgehenden Untätigkeit ausländischer Regierungen, die die Möglichkeit hätten einzuschreiten und dies nicht tun. Es ist das Ergebnis politischer Entscheidungen, selbst jetzt nicht dadurch einzugreifen, durch Druck auf die israelische Regierung den dringend gebotenen vollständigen humanitären Zugang zu gewährleisten. Stattdessen werden weiterhin Waffen geliefert und gleichzeitig humanitäre Hilfe aus Flugzeugen abgeworfen in einem halbherzigen Versuch, innen- wie außenpolitisch das Gesicht zu wahren. Unterdessen stauen sich in Ägypten an der Grenze zu Gaza die Lastwagen mit Hilfsgütern kilometerweit.

Gegen die fatalen Auswirkungen dieses politischen Irrsinns und gegen das Grauen in Gaza stemmt sich seit Wochen die Mayasem Association for Culture and Arts. Die Aktivist:innen der Jugendorganisation, deren Kulturzentrum eigentlich in einem kleinen Ort bei Khan Younis beheimatet war, sind selbst zu Binnenvertriebenen in Rafah geworden. Seit der Krieg zu ihnen gekommen ist, gehört Kulturarbeit nicht zu ihren vordringlichsten Sorgen, auch wenn sie weiterhin ein zentrales Anliegen bleibt. Eine Säule ihrer Arbeit war neben der Ausrichtung von Konzerten und der Kuratierung von Ausstellungen schon vor dem Krieg die Bereitstellung von psychologischer Unterstützung, Jugendforen und Hilfsmaßnahmen für gefährdete Jugendliche.

Seit seiner Vertreibung hat das Kollektiv eine Suppenküche im südlichsten Gouvernement Gazas auf die Beine gestellt und versucht mit aller Kraft, deren Betrieb aufrechtzuerhalten. In Rafah sind zahlreiche Zeltstädte entstanden, in denen viele der 1,2 Millionen Binnenvertriebenen untergebracht sind. Die Menschen müssen sich größtenteils selbst um Nahrung und Material kümmern, obwohl seit dem Krieg auch viele Hilfsorganisationen samt ihrer Mitarbeiter:innen gezwungen waren, nach Rafah zu fliehen. Sie verfügen jedoch aufgrund israelischer Einfuhrbeschränkungen für Hilfsgüter nur über minimale Ressourcen. Außerdem können sie natürlich nicht mehr auf die Infrastruktur einer Organisation mit Büros, Computern, Lagerräumen usw. zurückgreifen. Viele palästinensische humanitäre Akteur:innen sind gezwungen zu improvisieren. Was sie unter diesen Bedingungen leisten, ist bewundernswert, aber die Hilfe reicht bei weitem nicht aus.

Kleine Schritte

In dieser Situation haben die jungen Leute von Mayasem in Rafah eine Zeltstadt mit mehreren Hundert Familien „adoptiert“, in der rund 500 Familien in etwa 200 Zelten leben. Die Organisation betreibt nicht nur die Suppenküche, sondern hilft auch beim Bau von Zelten und anderer Infrastruktur, bietet Aktivitäten für Kinder und Jugendliche an und stellt Lebensmittelpakete für Familien bereit.

Mit medicos Unterstützung will die Organisation auch Solarzellen kaufen, die alle 500 Familien mit 6-8 Stunden Strom pro Tag versorgen sollen. Israel hat den Strom in Gaza seit dem 11. Oktober 2023 abgeschaltet. Weiter werden Lebensmittelpakete für die Familien in der Zeltstadt und an anderen gefährdeten Orten wie Khan Younis und Deir Al Balah im Zentrum des Gazastreifens bereitgestellt. Die Familien in der Zeltstadt in Rafah erhalten außerdem Trinkwasser.

Weitgehend auf sich allein gestellt, sind die meisten Menschen gezwungen, in dem von der Außenwelt abgeschnittenen Kriegsgebiet Waren auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, wenn die humanitäre Hilfe nicht ausreicht oder sie nicht erreichen kann. Trotz der Schwierigkeit, überhaupt noch Lebensmittel zu finden, ist es in Rafah immerhin noch möglich, ein solches Projekt zu betreiben. Die Beschaffung von Lebensmitteln durch Mayasem hat den Vorteil, dass sich das Kollektiv als größerer Abnehmer gegenüber Händlern in einer besseren Verhandlungsposition befindet als einzelne Familien. Die Preise sind zwar immer noch deutlich höher als vor dem Krieg, aber sie sind bei weitem nicht so exorbitant wie bei der Abgabe in kleinere Mengen.

Das alles findet statt unter der drohenden Invasion Rafahs, sofern diese nicht durch amerikanischen oder ägyptischen Druck verhindert wird. Die Eroberung durch israelische Bodentruppen würde die ohnehin schon katastrophale Situation noch um ein Vielfaches verschlimmern. Es ist nicht das erste Mal, dass die israelische Armee mit einer Invasion in Rafah gedroht hat, aber mit der dramatischen Zunahme der Bevölkerung dort in den letzten Wochen ist die Lage so prekär wie nie zuvor. Paradoxerweise könnte der nun angekündigte Seekorridor genau das katastrophale Szenario einer Bodenoffensive und noch intensiveren Bombardierung Rafahs ermöglichen, wogegen sich unter anderem die Bundesregierung ausgesprochen hat, mit humanitärer Hilfe über das Mittelmeer statt über Land.

Hilfe im Sperrgebiet

Im Norden des Gazastreifens sieht die Lage noch düsterer aus. Große Konvois aus mehreren LKW wie der bereits erwähnte des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen erreichen diesen Teil Gazas selten. Oft dürfen sie die Checkpoints des israelischen Militärs nicht passieren. Über Kontakte, die wir aus Sicherheitsgründen öffentlich nicht näher erläutern können, unterstützt medico im nördlichen Gazastreifen vor allem in den Städten Beit Hanoun und Beit Lahia die Verteilung von Lebensmittelpaketen, Trinkwasser, Kleidung und Bettzeug sowie eine mobile Suppenküche.

Beide Orte wurden häufiger bombardiert und angegriffen als jeder andere Ort der Enklave – viele Zehntausende Menschen befinden sich aus den unterschiedlichsten Gründen aber immer noch dort. Nach Berichten internationaler Organisationen leiden die Palästinenser:innen im nördlichen Gazastreifen unter einer fast flächendeckenden Hungersnot und greifen auf extreme Bewältigungsmechanismen zurück, um sich zu ernähren, zum Beispiel durch den Verzehr von Tierfutter

Die Hilfe, die medico hier nur gegenüber einem Bruchteil der Bevölkerung unterstützen kann, ist für diejenigen, die sie umsetzen, mit hohen persönlichen Risiken verbunden. medico unterstützt sie in dem, wozu sie sich entschieden haben, in dem, was sie bereits ohne unser Zutun taten und unabhängig von medico auch weiter tun werden, solange sie die Mittel dazu finden. Insofern ist diese kleine Hilfe hoffentlich ein Beitrag dazu, den Menschen, die den Norden nicht verlassen wollten und konnten, ein Überleben zu ermöglichen und sie in ihrem Recht zu bleiben zu unterstützen.

Bitte unterstützen Sie die Hilfe in Gaza mit einer Spende!

Veröffentlicht am 15. März 2024

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


Jetzt spenden!