Kommentar

Doppelstandards

Die deutsche Politik stellt die Menschenrechte der Palästinenser:innen hintenan.

Von Riad Othman

Das vergangene Jahr war für Palästinenser:innen im Westjordanland das tödlichste seit fast 20 Jahren. Israelische Besatzungstruppen und Siedler töteten 146 Menschen. Und die Spirale dreht sich weiter: Bis Ende Mai 2023 sind bereits 112 Personen erschossen worden. „Wir als internationale Partner müssen für die Opfer einstehen. Jedes Opfer hat einen Namen. […] Wir müssen ihre Namen aussprechen und ihre Rechte fördern. Und wir müssen die Täter beim Namen nennen“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 27. Februar 2023 vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf. Allerdings ging es da um die Ukraine. Im Zusammenhang mit der Fußball-WM in Qatar erklärte sie: „Unsere Welt basiert auf Menschenrechten und deswegen sind Menschenrechte unteilbar.“

Doch diese Welt der deutschen Außenpolitik scheint Palästina nicht einzuschließen. Der selektive Charakter der moralischen Empörung stellt die viel bemühte Wertebasis fundamental infrage. Als beispielsweise im Mai 2022 ein Scharfschütze der israelischen Armee die palästinensische Journalistin Shirin Abu Akleh erschossen hatte, und zwar mit voller Absicht, wie eine Untersuchung von Forensic Architecture nachwies, reichte es von deutscher Seite nicht einmal für die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission, obwohl der schwerwiegende Verdacht sich früh erhärtete. Menschenrechte verkommen zur Floskel, die man dann bemüht, wenn es gerade passt – oder weglässt, wenn es den eigenen Interessen dienlich ist. Doppelstandards wendet die Bundesregierung gegenüber vielen Ländern an, man denke an den Umgang mit Ägypten oder der Türkei. Hinsichtlich Israel und Palästina sind sie jedoch besonders eklatant.

Repression gegen Zivilgesellschaft

Das langjährige israelische Vorgehen gegen palästinensische Menschenrechtsorganisationen fand im Oktober 2021 einen Höhepunkt, als der damalige Verteidigungsminister Benny Gantz sechs auf einmal zu Terrororganisationen erklärte, darunter zwei Partnerorganisationen von medico. Das Hauptziel war, ihre finanzielle Unterstützung durch internationale Geber, darunter Deutschland, auszutrocknen, die zögerlich auf die Anschuldigungen reagierten und erst einmal keinen entschiedenen Widerspruch einlegten, obwohl keine überzeugenden Beweise vorgelegt wurden. In Israel wusste man die Zeichen zu deuten. Im August 2022 brach die Armee in die Büros der Organisationen ein, nahm deren Computer mit und ordnete ihre Schließung an. Die Repression im Umgang mit der Zivilgesellschaft soll nun auch nach innen ausgeweitet werden: Ein umstrittenes Gesetzesvorhaben, das israelische Organisationen durch die Besteuerung staatlicher Zuschüsse ins Visier genommen hätte, wurde nur nach der Intervention mehrerer Regierungen vorübergehend gestoppt. Auch die Bundesregierung setzte sich bei ihren israelischen Partnern gegen das Gesetz ein.

Dieser Unterstützung von Organisationen vor Ort, die auch im Fall israelischer Verbrechen seit Jahren gegen Straflosigkeit kämpfen, steht ein zunehmend widersprüchliches Handeln der Bundesregierung auf internationaler Ebene gegenüber. Bei der Abstimmung im UN-Menschenrechtsrat zur Einrichtung einer Untersuchungskommission wegen der massenhaften Erschießung von Demonstrierenden im Gazastreifen 2018 enthielt sich Deutschland noch.

Mittlerweile scheint Berlin allerdings gegen multilaterale Mechanismen zur Untersuchung und, falls erforderlich, Verfolgung von Menschenrechts- und Kriegsverbrechen zu opponieren, wenn es um Israel geht. Als die Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) prüfte, ob die Situation in Palästina unter die Jurisdiktion des Gerichts falle, versuchte Deutschland dies abzuwenden, indem es der Kammer als „amicus curiae“ seine Sicht der Dinge in einem eigenen Rechtsgutachten übermittelte. Als dieser Weg scheiterte und die Kammer 2021 abschließend und für alle Vertragsparteien die Zuständigkeit des IStGH verbindlich entschied, positionierte sich das Auswärtige Amt öffentlich dagegen. Ein solches Vorgehen von einem Staat, der sich jahrelang für das Römische Statut und die Schaffung des Gerichtshofs eingesetzt hatte, setzt den IStGH politisch unter Druck und beschädigt ihn. Dieser Trend setzte sich Ende 2022 fort: Die Bundesrepublik stimmte in der UN-Generalversammlung gegen die Resolution, die den Internationalen Gerichtshof mit der Ausarbeitung eines Gutachtens zur grundsätzlichen Legalität der Besatzung beauftragte. Eine große Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten stimmte dafür.

Sicherheit versus Menschenrechte

„Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.“ Als abgewandeltes Zitat wie hier oder in der Urfassung Angela Merkels als „Teil“ deutscher Staatsräson ist dieser Satz Dutzende Male im Mund geführt worden, auch von Politiker:innen wie Olaf Scholz oder Annalena Baerbock. Was ist gemeint, wenn er immer wieder gesagt wird? Wer definiert, worin Israels Sicherheit besteht? Benjamin Netanjahu, der mehrfach gesagt hat, dass er das Jordantal – ein Drittel der Westbank – niemals räumen wird? Der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz, der vielen hierzulande als gemäßigt gilt, einen palästinensischen Staat unter Verweis auf die israelische Sicherheit aber ebenfalls strikt ablehnt? Ein derart unpräziser und entgrenzter Sicherheitsbegriff erteilt dem palästinensischen Wunsch nach einem Leben ohne Gewalt, in Freiheit und Würde, faktisch eine Absage. Denn am Ende bestimmt alleine Israel, wann sein Sicherheitsbedürfnis befriedigt sein wird. Unterdessen gehen der Siedlungsbau und die staatliche Gewalt weiter. Die Erschießung palästinensischer Zivilist:innen, Journalist:innen und unbewaffneter Demonstrant:innen, Angriffe auf Gesundheitspersonal, spontane wie organisierte Siedlergewalt, nächtliche Razzien der israelischen Armee, bei denen sie grundlos in Privathäuser eindringt und Familien aus dem Schlaf reißt: Alltag in den besetzten Gebieten. Von „legitimen palästinensischen Sicherheitsinteressen“ wird selten gesprochen.

Bei den Reden anlässlich des 75. Jahrestags der Staatsgründung Israels im Bundestag spielte das alles dementsprechend keine Rolle. Auch die Tatsache, dass die Staatsgründung Israels untrennbar mit der Vertreibung und Flucht eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung verbunden war, blieb – außer in der Rede Jürgen Trittins – unausgesprochen. Stattdessen wurde unter Bezugnahme auf eine stark romantisierte und in Teilen verfälschte Version der Geschichte die deutsch-israelische Freundschaft beschworen. Der eigentliche Inhalt dieser besonderen Beziehungen blieb dabei seltsam konturlos. Und bei Friedrich Merz nahm er eine eigentümliche Wendung: „Auf dem Militärstützpunkt Tel Nof werden deutsche Soldaten von Angehörigen der israelischen Streitkräfte an der Heron-Drohne zu Piloten ausgebildet. Deutsche und israelische Soldaten leben und arbeiten Seite an Seite für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratien und den Einsatz für gemeinsame Werte in der Welt.“ Welche Werte das genau sein sollen, blieb unklar. Klarer ist hingegen, wo und unter welchen Umständen die israelische Armee die Erfahrungen sammelt, die sie dann an Angehörige der Bundeswehr und deutschen Polizei weitergibt: Getestet werden Taktiken der Aufstandsbekämpfung und neue Waffensysteme an der palästinensischen Bevölkerung, in Gaza beispielsweise an einer extrem jungen Bevölkerung von rund zwei Millionen Menschen – rund 40 Prozent sind jünger als 15 Jahre –, die bei Angriffen keine Schutzräume hat. Die israelische Rüstungsindustrie vermarktet ihre Waffen als kampferprobt und unter realen Bedingungen getestet, quasi mit dem Gütesiegel der Besatzung.

Anders anfangen

Die Alternative wäre ein konsequenter Einsatz für Menschenrechte und Völkerrecht ohne Ansehen jeweiliger Zugehörigkeiten von Opfern und Tätern. Innenpolitisch müsste dieser einhergehen mit der Rückbesinnung auf das Grundgesetz und darin garantierte Rechte wie das der Versammlungsfreiheit, der freien Meinungsäußerung sowie der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Die Bundesregierung sollte auch außenpolitisch die Janusköpfigkeit ihres Ansatzes überdenken. Sie muss sich entscheiden: Will sie – unter Verweis auf die eigene Geschichte – ein möglichst spannungsarmes Verhältnis zu Israel, das – from the river to the sea – straflos schalten und walten kann, während es sich sogar im Innern immer mehr zu einer illiberalen Ethnokratie entwickelt? Das wäre eine Klärung dahingehend, dass die Menschenrechte eben doch nicht für alle gelten oder dass, mit anderen Worten, Palästinenser:innen der deutschen Staatsräson geopfert werden müssen. Oder will sie die „Unteilbarkeit der Menschenrechte“ auch Palästinenser:innen zuteilwerden lassen?

An der besonderen Verantwortung Deutschlands für Jüdinnen und Juden würde sich dadurch nichts ändern. Eine gelebte Praxis dieser Verantwortung müsste dann aber anders aussehen und neu gedacht werden. Sie könnte sich nicht mehr in symbolpolitischen Gesten erschöpfen und dürfte sich die Bestätigung, genügend gegen Antisemitismus zu tun, nicht von der rechtsextremen Regierung eines Landes holen, die die Menschenrechte mit Füßen tritt.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 27. Juni 2023

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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