Covid-19

Delta in Johannesburg

Massiv steigende Infektionszahlen lassen das südafrikanische Gesundheitssystem kollabieren und bedrohen die gerade jetzt wichtige psychosoziale Arbeit. Ein Bericht von Johanna Kistner.

Johanna Kistner arbeitet bei der südafrikanischen medico-Partnerorganisation Sophiatown Community Psychological Services.

Noch am 22. Juni – eine Woche, bevor dieser Text geschrieben wurde, warnten medizinische Expert:innen angesichts steigender Zahlen von COVID-19-Infektionen vor einer drohenden Katastrophe, einer "humanitären Krise" im Gesundheitssystem der Provinz Gauteng, in der auch Johannesburg liegt. Während nach einem Feuer das zweitgrößte Krankenhaus in der gesamten südlichen Hemisphäre geschlossen werden musste und es massive Einschränkungen der Wasser- und Stromversorgung in zwei weiteren großen Krankenhäusern gab, wurden am Dienstag, den 22. Juni 2021, in der Provinz mehr als 5200 Menschen mit COVID-19 ins Krankenhaus eingeliefert. Die Zahl der Infektionen hatte sich innerhalb weniger Tage von etwas mehr als 2000 bestätigten Fällen auf 8600 vervierfacht. Die nun vorherrschende Delta-Variante des Virus soll doppelt so übertragbar sein wie das ursprüngliche Virus und zwischen 30 bis 60 Prozent übertragbarer als die Beta-Variante, die Anfang dieses Jahres erstmals in Südafrika identifiziert wurde. Bis Samstag, den 26. Juni, hatte sich die Zahl der bestätigten COVID-19-Fälle noch einem dramatisch auch fast 18.000 erhöht. Gleichzeitig stieg auch die Zahl der Todesfälle.

Das Auftauchen einer dritten Welle mit der infektiöseren Variante kam nicht aus dem Nichts: Es findet vor dem Hintergrund eines systemischen Versagens statt, bei dem wichtige Warnzeichen nicht beachtet und insbesondere die Versorgung mit Wasser und Strom vernachlässigt wurde – was letztendlichen zu ihrem Zusammenbruch führte. Eskom, der nationale Stromversorger, war eines der Hauptziele der neoliberalen Privatisierungswelle und wurde in den letzten zehn Jahren systematisch geplündert. Im Ergebnis ist es unmöglich geworden, eine stabile Stromversorgung aufrechtzuerhalten. "Load-shedding" ist ein spezifisch südafrikanischer Begriff. Mit ihm werden die stundenlangen Stromausfälle bezieht, von denen Haushalte, Unternehmen und natürlich auch das Gesundheitswesen betroffen sind – was sich wiederum auch auf die Wasserversorgung auswirkt. Weiter verschärft wurde die Lage des Gesundheitssystems durch die Tatsache, dass der Gesundheitsminister in einen riesigen Korruptionsskandal verwickelt war und durch einen Politiker ohne Erfahrung im Gesundheitssektor ersetzt wurde.

Am Sonntag wurde berichtet, dass 85 Prozent der Krankenhausstationen und selbst Operationssäle zu COVID-Stationen umfunktioniert werden mussten. Zwar gebe es genügend Sauerstoff, aber nicht genug geschultes Personal, um ihn zu verabreichen. Viele Patient:innen werden in Krankenwagen behandelt oder warten tagelang in Notaufnahmen, bevor sie entweder sterben oder aber ein Bett zugewiesen bekommen. Einige Intensiv-Patient:innen wurden nach Kapstadt oder Durban verlegt, weil in Johannesburg nicht mehr genug Intensivbetten oder Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Verzweifelte Bitten von Mediziner:innen, der Staat möge eingreifen, um der Krise Herr zu werden, dominieren die Nachrichten und die sozialen Medien.

Bis zum 28. Juni haben in Südafrika etwas mehr als 2,3 Millionen Menschen (ca. 4 Prozent der Bevölkerung) entweder den Impfstoff von Johnson & Johnson oder aber eine bzw. zwei Dosen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer erhalten. Obwohl die Nachfrage nach dem Impfstoff die Verfügbarkeit signifikant übersteigt, gibt es auch eine beträchtliche Zurückhaltung bzw. Skepsis gegenüber der Impfung –  genährt durch Fehlinformationen in den sozialen Medien, religiöse Überzeugungen und das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber der Regierung und ihrem politischen Opportunismus. In manchen Kirchen wird gepredigt, das Virus könne die Gläubigen nicht infizieren und der Impfstoff würde sie brandmarken. Verschwörungsmythen behaupten, der Staat plane, "Rentner:innen" oder "Ausländer:innen" mit den Impfstoff zu ermorden, andere besagen, dass ein Überwachungschip in den Arm implantiert würde. Auf den Straßen tragen nur wenige Menschen Masken oder üben sich in körperlicher Distanzierung. Zur Arbeit unserer Berater:innen und anderer Fachkräfte gehört deshalb auch, genaue und klare Informationen über COVID-19 in die Beratungs- oder Gruppensitzungen einzubauen.

Am Sonntag, den 27. Juni, kündigte Präsident Ramaphosa erneut einen Lockdown an: Während die wirtschaftlichen Aktivitäten so weit wie möglich fortgesetzt werden sollen, wird die Bewegungsfreiheit einschränkt, werden gesellschaftliche Versammlungen verboten, Restaurants und Bars geschlossen. Zu spät und unzureichend, um die Katastrophe aufzuhalten, sagen Expert:innen dazu.

All dies hat direkte Auswirkungen auf die Gemeinden, die von Sophiatown unterstützt werden, und auch auf unser Team selbst. Wie die Bewohner:innen von Gauteng ist auch jedes Mitglied des Sophiatown-Teams direkt von neuen Infektionsfällen betroffen: Partner:innen, Kinder, Onkel, Tanten, Freund:innen werden krank, viele sterben.

Alle noch so kleinen ökonomischen Errungenschaften (wie die Wiederaufnahme von Recycling-Aktivitäten, der Verkauf von selbst angebautem Gemüse oder Secondhand-Kleidung), die nach der ersten und zweiten Welle nur sehr mühsam wieder aufgenommen werden konnten, liegen nun wieder in Trümmern. Für die südafrikanischen Armen gibt es kein Hilfspaket. In vielen Schulen haben sich mehr Kinder und Jugendliche angesteckt als in den beiden vorangegangenen Wellen. Sie stellen damit auch ein Risiko für ältere Menschen in ihren Haushalten dar. Kinder und Lehrer:innen berichten, dass Schulen die Präventionsmaßnahmen nicht umsetzen – oder aber kein Geld für Desinfektionsmittel und Seife vorhanden ist. Lehrer:innen sind in großer Zahl erkrankt und auch gestorben. Der Unterricht fällt bereits seit 18 Monate andauernd aus. Da sich auch Kinder und Betreuer:innen in Heimen gegenseitig anstecken, stehen viele Kinderheime nun unter strenger Quarantäne. Davon sind unsere Partnerorganisationen im Bereich der Kinderbetreuung besonders stark betroffen.

Das Risiko einer Infektion bei Begegnungen zwischen unseren Klient:innen, aber auch zwischen Klient:innen und Teammitgliedern ist jetzt größer als je zuvor. Die hohe Übertragbarkeit der Delta-Variante, die beengten Verhältnisse, in denen die Familien leben, und die mangelnde Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen in Schulen, Kliniken und Nachbarschaften erhöhen die Infektionsgefahr. Und nur vier von 20 unserer Teammitglieder konnten bisher mindestens eine Impfdosis erhalten. Deshalb haben wir vor zwei Wochen ein strengeres Schichtsystem eingeführt, um die Anzahl der Teammitglieder im Arbeitsbereich zu reduzieren. Doch obwohl die Gruppen in diesem Jahr viel kleiner sind, ist es schwierig, engen Kontakt konsequent zu vermeiden.

Das fällt uns nicht leicht. In den vergangenen sechs Monaten konnten wir die meisten unserer üblichen Aktivitäten wieder aufnehmen und sogar einige neue hinzufügen – wenn auch unter schwierigeren Bedingungen. Jetzt mussten wir die persönlichen Beratungen wieder massiv einschränken und stehen, wann immer möglich, nur telefonisch mit unseren Klient:innen in Kontakt. Was auch immer weiter geschieht, wir können passen uns an die Veränderungen der Krise an und tun unser Bestes, um dem überwältigenden Bedarf an psychosozialen Unterstützungsangeboten gerecht zu werden.

Übersetzung: Julia Manek

Sophiatown leistet psychosoziale Unterstützung für extrem marginalisierte Gruppen: zum einen für Familien und Care Arbeiter:innen in informellen Siedlungen in Johannesburg, die stark von HIV-AIDS und Gewalt betroffen sind; zum zweiten für migrantische und geflüchtete Familien, die immer wieder xenophoben Ausschreitungen und strukturellen Ausgrenzungen ausgesetzt sind.

Veröffentlicht am 07. Juli 2021

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