Ob im Lager oder auf dem Meer – geflüchtete Menschen auf Lesbos erfahren massive Gewalt. Während die Lager durch Gefängniskomplexe ersetzt werden, attackiert die griechische Küstenwache Boote mit Geflüchteten und führt immer wieder illegale Pushbacks durch. Wir haben darüber mit Leila, einer Mitarbeiterin unsere Partnerorganisation Legal Centre Lesvos gesprochen.

medico: Vor fünf Jahren ging das berüchtigte Lager Moria auf Lesbos in Flammen auf. Bevor du angefangen hast, beim Legal Centre Lesvos zu arbeiten, hast du selbst in Moria gelebt. Wie ist es dir dort ergangen und wie hast du den Brand erlebt?
Leyla: Ich komme ursprünglich aus Afghanistan, bin aber im Iran aufgewachsen. 2019 kam ich nach Lesbos. Zunächst habe ich mich als Lehrerin engagiert und später als Dolmetscherin gearbeitet. Ich hatte nicht vor, lange zu bleiben, aber die Lage hier hat mich dazu bewogen, weiterzuarbeiten.
Im September 2020 lebte ich zum Glück schon nicht mehr in Moria. Das Feuer kam nicht überraschend – die Menschen im Lager hatten gewarnt, dass so etwas jederzeit passieren könnte. Es gab auch eine gewisse Freude darüber, denn das Lager Moria war die Hölle; und in dieser Nacht brannte die Hölle nieder. Das Feuer wütete stundenlang. Es gab keine sicheren Fluchtwege. Als wir vom Brand erfuhren, riefen wir unsere Freund:innen und Bekannte im Lager an und versuchten, sie zu finden und zu unterstützen. Aber die Polizei und rechte Gruppen blockierten die Straßen zum Camp, sodass keine Hilfe dorthin gelangen konnte. Die Menschen aus dem Lager wurden auf die Straßen in Küstennähe gedrängt. Von einem Moment auf den anderen verloren sie alles, was sie noch besaßen und schliefen nächtelang auf der Straße.
Moria war zuvor auf etwa 20.000 Menschen angewachsen, obwohl die offizielle Kapazität bei etwa 5.000 lag. Das Lager war also völlig überfüllt. Als ich dort ankam, bekam ich nur eine Decke und musste auf der Straße schlafen. Am Morgen, wenn die Müllwagen kamen, mussten die Menschen aufstehen, um sie vorbeifahren zu lassen, und sich dann wieder hinlegen. Es gab Gewalt und endlose Warteschlangen, um grundlegende Bedürfnisse zu befriedigen. Wir verbrachten Stunden in Schlangen, nur um etwas zu essen zu bekommen oder vor dem Asylbüro. Im Winter blieben die Menschen oft ganze Nächte in der Schlange und machten kleine Feuer, um sich warm zu halten.
Denkst du, im Vergleich zu Moria hat sich die Situation heute für Geflüchtete auf Lesbos verbessert?
Nein. Im Lager Moria hatten die Menschen trotz allem eine gewisse Autonomie, sie konnten kommen und gehen, wann sie wollten und selbst zu Hilfsorganisationen gehen, um Kleidung und andere Dinge zu bekommen. Einige Leute eröffneten auch kleine Geschäfte mit Obst oder Artikeln des täglichen Bedarfs, nur um eine Aufgabe und tägliche Beschäftigung zu haben. Das Lager war die Hölle, aber kein Gefängnis.
Die neuen Lager sind Gefängnisse und die Menschen haben darin keine Autonomie. Es gibt Öffnungszeiten und jedes Mal, wenn Bewohner:innen das Lager betreten, werden sie einer Körperkontrolle unterzogen. Es gibt überhaupt keine Privatsphäre und es ist nicht erlaubt, sich einen kleinen privaten Raum zu schaffen. Das Essen ist oft ungenießbar und die hygienische Situation schrecklich. Im Winter gibt es kein warmes Wasser und keine Heizung und im Sommer gibt es keine Klimaanlage in den Zelten oder Containern, die den ganzen Tag in der prallen Sonne stehen.
Wenn Menschen ankommen, haben sie keine Chance, Hilfe zu bekommen. So viele Menschen haben keine richtigen Schuhe oder Kleidung; sogar Kinder laufen barfuß. Wenn sie im Lager ankommen, werden sie nur kurz befragt und haben keinen Zugang zu angemessener Hilfe. Da selbst bei der Registrierung keine Dolmetscher:innen zur Verfügung standen, wurden schwerwiegende Fehler gemacht, die jahrelang im System verbleiben.
Was versucht das Legal Centre dem entgegenzusetzen?
Wir geben den Menschen rechtliche Informationen und vertreten sie in ihren Asylverfahren, einschließlich in Berufungen nach Ablehnungen. Außerdem dokumentieren wir, so gut es geht, die Gewalt auf hoher See und die illegalen Pushbacks. Wir informieren die Politik und führen strategische Prozesse, um die Bedingungen zu verbessern.
Vor allem helfen wir direkt den Menschen, die auf Lesbos ankommen, Zugang zum Asylverfahren zu bekommen. Sonst werden sie schon an den Stränden von Behörden aufgegriffen und heimlich in die Türkei abgeschoben oder auf dem Meer ausgesetzt. Menschen, die auf Lesbos angekommen, haben große Angst davor, illegal auf dem Meer ausgesetzt zu werden. Wenn eine Gruppe ankommt, kann sie uns kontaktieren. Wir alarmieren dann Behörden, Ärzt:innen und Journalist:innen, damit sie sicher aufgenommen werden. Dabei ist Schnelligkeit entscheidend, denn oft erhalten wir Notrufe, aber Stunden später sind die Menschen „verschwunden” und tauchen erst Tage später in der Türkei wieder auf.
Wie genau laufen die illegalen Pushbacks ab?
Menschen, die die Türkei verlassen und griechisches Territorium erreichen – seien es nur griechische Gewässer, die Inseln oder die Landgrenze beim Evros-Fluss– haben das Recht, Asyl zu beantragen, selbst auf See. Ein Pushback liegt vor, wenn Beamte dies verhindern, indem sie Menschen gewaltsam zurückbringen, ohne ihren Asylantrag zu registrieren.
Das geschieht sehr brutal: Ihre Boote werden auf hoher See zerstochen, sie werden mit scharfer Munition beschossen oder zum Kentern gebracht. Oft werden Boote ohne Motor zurückgelassen. Sie werden an Land aufgespürt, ihre Habseligkeiten werden ihnen weggenommen, sie werden in unmarkierte Transporter und auf Schiffe gesteckt auf Schlauchboote oder Rettungsinseln gezwungen und zurück in Richtung Türkei getrieben.
Ich sammle die Aussagen von Betroffenen für unsere Berichte und für Gerichtsverfahren. Daraus geht hervor, dass fast niemand beim ersten Versuch, die Grenze zu überqueren, Erfolg hat. Die meisten Menschen berichten, dass sie mehrfach zurückgeschickt wurden – fünf, acht, zehn Mal oder sogar noch öfter. Wir sprechen nicht über „Einzelfälle”, sondern sehen ein Muster der Abschreckung. Dieses Jahr wurden auf den griechischen Inseln und an der türkischen Küste schon über hundert Leichen angeschwemmt. Das sind keine Unfälle, das ist Mord.
Auf Lesbos gibt es viele NGOs und Freiwillige. Wie siehts du ihre Arbeit und was macht ihr beim Legal Centre anders?
Die Präsenz von NGOs ist wichtig – Essen, Kleidung, medizinische Versorgung, rechtliche Hilfe, überall mangelt es. Was jedoch fehlt, ist eine starke Interessenvertretung. Wir brauchen mehr öffentliche Berichterstattung über die Bedingungen im Lager, über Menschen, die vertrieben werden und nirgendwo hinkönnen, über die täglichen Rechtsverletzungen. Einige Organisationen schweigen, weil sie befürchten, den Zugang oder die Registrierung zu verlieren, wenn sie die Behörden kritisieren. Ich verstehe den Druck, aber Schweigen macht humanitäre Hilfe zur Komplizin eines missbräuchlichen System. Hilfe sollte mit Rechenschaftspflicht einhergehen.
Mit dem Legal Centre arbeiten wir nicht im Camp, weil wir mit dem Lagersystem nicht einverstanden sind. Lager isolieren und entmenschlichen. Wir wollen keine „besseren Lager“, wir wollen keine Lager. Die Menschen brauchen Wohnraum in Gemeinden, Zugang zu Schulen, Gesundheitsversorgung und Arbeit – keine Einsperrung hinter Zäunen. Als Legal Centre sind wir unabhängig – wir erhalten keine Mittel vom Staat oder von religiösen Institutionen – und wir arbeiten als Kollektiv. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.
Was möchtest du den Menschen in Deutschland mitgeben?
Nutzen Sie Ihre Stimme. Üben Sie Druck auf Ihre Regierung aus, damit sie Abschiebungen stoppt und sichere, legale Fluchtwege schafft. Wir haben gesehen, dass Europa schnell und human handeln kann – Ukrainer:innen wurde sofortiger Schutz, Unterkunft und Zugang zu Bildung gewährt. Ja, das wird auch wieder zurückgenommen, aber dieser Ansatz sollte auf andere Gruppen ausgeweitet werden, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, darunter Menschen aus Afghanistan und Syrien. Lokale Projekte sind wertvoll, aber sie können einen systemischen Wandel nicht ersetzen. Wir brauchen Bewegungsfreiheit und Rechte, die in der Praxis real sind, nicht nur auf dem Papier. Europa muss aufhören, Gewalt an seinen Grenzen zu finanzieren, und die Ressourcen stattdessen für Wohnraum, Bildung und Integration einsetzen.
Das Interview führten Johannes Richter und Valeria Hänsel.
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