Kommentar

Am Scheideweg

Gesundheitsdiktatur oder -demokratie? Im Umgang mit SARS-CoV-2 wird auch über globale Zukunftsmodelle entschieden.

Von Christian Weis

Seit der Cholera im 19. Jahrhundert weiß man, wie wichtig die internationale Koordination für die Eindämmung von Pandemien ist. Wie ist die globalisierte Welt von heute dafür gewappnet? Als Sonderorganisation der UN wäre es an der Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Takt der globalen Koordinierung und das richtige Maß bei den staatlichen Interventionen in Zeiten des Virus vorzugeben. Sie ist aber bei weitem keine Organisation, die sich entsprechend der medizinischen Sachlage „neutral“ oder gar gemeinwohlorientiert verhält. Das liegt auch daran, dass 75 Prozent der WHO-Einnahmen freiwillige Zuwendungen sind, die sich vor allen Dingen aus zusätzlichen Mitteln westlicher Industriestaaten speisen, aber auch aus den Mitteln der Bill & Melinda Gates Stiftungen, NGOs und der Privatwirtschaft. Diese Geber verfolgen zumeist ihre eigenen neoliberalen Agenden, die auf die weitere Privatisierung der öffentlichen Gesundheit zielen.

Immer noch spielt das Ökonomische eine entscheidende Rolle bei den gängigen Analysen. Die Welt scheint in Gefahr zu sein, weil die Lufthansa einen Großteil der Flüge streicht und in China die Produktion ausfällt. Die globalisierten Lieferketten brechen ein und der Dax gleich mit dazu. Während die Überlastung des über Jahre ausgezehrten öffentlichen Gesundheitssystems droht, holt die Politik also die „Bazooka“ raus, um mit unbegrenzten Überbrückungskrediten die Unternehmen zu retten. Wäre es nicht konsequenter, so wie auch von der WHO gefordert, zum Schutz der Bevölkerung die bessere Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen zu organisieren? All das fällt in eine Zeit, in der Millionen Menschen weltweit für einen stärkeren Klimaschutz eintreten. Was viele von uns über alle Erdteile hinweg zuvor vergebens gefordert haben, wird durch das Virus fast über Nacht Wirklichkeit: Die globale Ökonomie mit dem globalen Handel und der globalen Mobilität (für manche) – Treiber bei der Verbreitung des Virus wie auch der Klimakrise – werden drastisch eingeschränkt.

Maßnahmen ohne Beispiel

Im Zusammenhang mit der SARS-Epidemie 2004 wurde deutliche Kritik an der Untätigkeit Chinas geübt. Heute ist das Gegenteil der Fall. Seit ihren ersten Mitteilungen im Januar 2020 hat die WHO die dortigen Maßnahmen als wirkungsvoll und angemessen gelobt. Plötzlich gilt China nicht nur in Asien, sondern auch im Westen als vorbildlich bei der Eindämmung der Epidemie. Von der Kritik vieler Chines*innen  an der Vorgehensweise ihrer Regierung ist hier wenig bekannt. Die Abschottung von 50 Millionen Menschen in der Metropolregion Wuhan hat man in Europa (mitunter hinter vorgehaltener Hand) auch mit etwas Bewunderung betrachtet. Eine so drakonische Einschränkung von Mobilität, aber auch von Informationsfreiheit ist in der Geschichte der Epidemien und Pandemien ohnegleichen. Es ist kein Zufall, dass Norditalien der europäische Brückenkopf des Corona-Virus wurde. Die Lombardei und die Toskana sind seit den 1990er Jahren die verlängerte Werkbank der chinesischen Textil- und Lederindustrie, wo Chinesen zu Hungerlöhnen schuften und chinesische Unternehmen Superprofits beim Verkauf von „Made in Italy“ Produkten einstreichen. Nirgends in Europa ist China mit seinen teils menschenverachtenden Arbeitsbedingungen näher. In Europa wurde die Region zwischen Florenz und Mailand Vorreiter für die Errichtung von Zwangsquarantäne und Sperrzonen. Vielleicht wird das chinesische Modell auch in Europa angewendet. Haben wir keine Alternative zur Einschränkung von Mobilität und letztendlich auch Demokratie in Zeiten von SARS-CoV-2?

In einer halböffentlichen Veranstaltung in Genf Ende Januar, im Rahmen eines Treffens des globalen medico-Netzwerks Geneva Global Health Hub, äußerte sich der Chef-Gesundheitsnotfallplaner der WHO zur vorgetragenen Kritik an den chinesischen Maßnahmen: Kritik an China und dem angeblich autoritären Charakter des Vorgehens bei der Abschottung von 50 Millionen Menschen findet er nicht angemessen. „Man kann westliche Moralvorstellungen nicht auf eine 5.000 Jahre alte Kultur übertragen.“ Mit dieser Argumentation ließe sich auch die „Umerziehung“ Hunderttausender Uigur*innen rechtfertigen, die systematisch in Internierungslager im Nordwesten des Landes gefangen gehalten werden. Das Argument zeigt, wie anfällig multilaterale Fachorganisationen sind, wenn es um Abwägungen menschenrechtlicher Sachverhalte geht. Das Kulturargument schlägt hier das Menschenrechtsargument. Und über allem stehen wirtschaftliche Erwägungen.

China ist, wie es sich immer schon gesehen hat, Vorreiter, jetzt eben auch in der globalen Gesundheit. Während die Bundesregierung seit Jahren an einer Strategie zur Globalen Gesundheit arbeitet, hat China im Zeichen der Krise neue Standards gesetzt. Die Voraussetzungen dafür sind bereits vor der Epidemie erfüllt worden: das lückenlose Aufstellen von Hochleistungskameras mit digitaler Gesichts- und Bewegungserkennung zur totalen Mobilitätsüberwachung, Zensur aller Medien und des Internets, Sozialkreditsystem. Die kommunistische Partei Chinas (KPCh) hat dank flächendeckender lokaler Parteikomitees einen tiefen Einblick in die Geschicke ihrer Staatsbürger*innen. Jetzt vermag sie sogar ihr Sozialverhalten mittels einer App die credit points bei regierungskonformen Verhalten vergibt, zu steuern. Ein genialer Gedanke, wenn es angesichts des Virus gilt, „unser Verhalten zu überdenken“, so der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte.

Wenn es ein Land auf der Welt schafft, die Träume der globalen Gesundheitsingenieure zu befeuern, dann ist es die Volksrepublik. Ausgerechnet jenes Modell des autoritären Überwachungsstaates, zentriert auf einen der mächtigsten Männer der Welt, Xi Jinping, der als Präsident heute schon mehr Macht hat als Mao Zedong. Xi Xinping hat sein politisches Schicksal eng mit der Bekämpfung des Corona-Virus verbunden. Er setzt alles auf eine Karte, gewinnt er, wird uns das alle angehen. Schafft er die Eindämmung des Virus in China, wird das vieles in der Welt verändern: Der „Kapitalismus mit chinesischem Charakter“ wird einen weiteren Siegeszug erleben und der unaufhaltsame Aufstieg des Reiches der Mitte wird beschleunigt. Das sind keine guten Nachrichten für alle, die Demokratie und Menschenrechte als unveräußerlich ansehen.

Welche Lehren werden gezogen? 

Die Eindämmung und Kontrolle von Informationen ist aus Sicht der Machthaber nachvollziehbar. Aus medizinischer Sicht ist sie es nicht. Die Entwicklung vor Ort von Basisgruppen und einzelnen Akteur*innen kritisch und transparent zu begleiten und damit die Aktivitäten der Parteifunktionäre zu hinterfragen, war in China das Gebot der Stunde, als das Virus sich verbreitete. Die Zensur ist mitverantwortlich, dass sich der Virus in der bekannten Schnelligkeit erst verbreiten konnte. Ihr erstes Opfer war Dr. Li Wenliang, der frühzeitig auf die Verbreitung des neuen Virus aufmerksam machte. Seine Social-Media-Beiträge aber wurden von den Behörden systematisch gelöscht. Nach seinem Tod durch den Corona-Virus belegt die hunderttausendfache Anteilnahme, dass viele Chines*innen empört sind über die staatliche Propaganda, ein schlecht funktionierendes Gesundheitssystem und den Aufstieg einer politischen Klasse, die die Räder der zaghaften Freiheiten des Individuums zugunsten der Machterhaltung und -ausweitung zurück dreht.

Wir werden dieses Virus nur mit demokratischen Mitteln besiegen können, denn wir sind auf die Vernunft und Mitarbeit der Menschen bei der Eindämmung von SARS-CoV-2 angewiesen. Wenn wir es mit der Methode Chinas versuchen, wird es auf Kosten von Menschenrechten und Demokratie gehen, werden totalitär-populistische Tendenzen, die die gesundheitlichen Gefahren nach außen und in das vermeintlich Fremde verschieben, weiteren Auftrieb erleben. Natürlich ist diese „schleichende Naturkatastrophe“, wie der Virologe Christian Droste die Pandemie nennt, ein enormer Stresstest für jede Gesellschaft. Keine Panik und verantwortungsvolles Handeln sind die Maximen für die aktuelle Lage. Zugleich werden auf Dauer große Fragen neu zu diskutieren und als Lehre aus der Pandemie zu ziehen sein.

Um schon jetzt einige anzudeuten: Was ist eigentlich systemrelevant? Nicht nur die Unternehmen, die sofort Liquiditätsspritzen bekommen, sondern auch die vielgescholtenen Gesundheitsämter, die in den letzten Jahrzehnten systematisch in die Bedeutungslosigkeit gespart wurden. Welche öffentlichen Güter gilt es zu schützen und wieder auszubauen? Italien zeigt uns die möglichen Folgen, wenn öffentliche Gesundheitsdienste massiv überfordert sind. Welche Bedeutung haben Kunst und Kultur als Teil einer demokratischen Gesellschaft, die jetzt als erste vor dem wirtschaftlichen Aus stehen könnten? An der Debatte dieser Fragen kann man sich auch von zu Hause aus beteiligen.


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 30. März 2020

Christian Weis

Christian Weis war von 2019 bis Anfang 2021 Geschäftsführer von medico international.


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