Nahostkonflikt

Alles in einen Topf

Angesichts der Lage im Gazastreifen wurde auch hierzulande protestiert – und in dem Zusammenhang wieder heftig über Antisemitismus diskutiert. Dabei lohnt es sich, genauer hinzusehen.

Von Riad Othman

Die Meldungen über Proteste in verschiedenen Städten, bei denen Jüdinnen:Juden oder jüdische Einrichtungen für Handlungen der israelischen Regierung in Haft genommen wurden, indem Synagogen angegriffen oder antisemitische Parolen skandiert wurden, sind alarmierend. Die verallgemeinernde Beschreibung der Proteste angesichts der jüngsten Eskalation in Israel und Palästina als „antisemitische Demonstrationen“ zeichnet jedoch ein stark verkürztes Bild. Zumindest die drei Demonstrationen, bei denen  ein medico-Kollege und ich seit dem 12. Mai in Berlin anwesend waren, stellten mit Blick auf die eskalierende Gewalt, die andauernde Abriegelung Gazas und die fortgesetzte Siedlungspolitik nicht nur völlig legitime, sondern völker- und menschenrechtlich gedeckte Forderungen. Vor allen Dingen aber protestierten hier Palästinenser:innen, Jüdinnen und Israelis, Deutsche, arabisch-, türkisch- und kurdischstämmige Menschen gemeinsam ohne antisemitische oder sonstige Hassparolen und mehrheitlich friedlich.

Der Fokus der Berichterstattung aber liegt nicht auf dieser Mehrheit, die sich gegen die überzogenen Angriffe der israelischen Armee richtete und Menschenrechte für alle, natürlich auch und angesichts ihrer Unterdrückung insbesondere für Palästinenser:innen, forderte. Er liegt auf jenen Gruppen und Einzelpersonen, die mit ihrem Chauvinismus, (Proto-)Faschismus, Antisemitismus oder mit ihren Parolen die mehrheitlich legitimen Proteste vergifteten.

Allerdings ist anzumerken, dass es nicht nur antisemitische Äußerungen gab. Auf manchen Demonstrationen wurden Teilnehmer:innen, die nicht nur als solidarisch mit den Palästinenser:innen, sondern auch mit Kurd:innen erkennbar waren, von türkischen Nationalist:innen bedroht. Es ist hinlänglich bekannt, dass auch Mitglieder der türkisch-faschistischen Grauen Wölfe sich auf pro-palästinensischen Demonstrationen tummeln. Das Einstehen für palästinensische Rechte kann aber nur dann emanzipatorisch sein, wenn es als Teil des Ringens um den universalistischen Charakter der Menschenrechte verstanden wird. Das muss selbstverständlich auch die jüdische Bevölkerung Israels mit einschließen – Asymmetrie hin oder her. Diese Haltung bedarf nicht erst einer Regelung des Konflikts. Als Grundsatz kann nur sie der Ausgangspunkt sein.

Kampf gegen Antisemitismus?

Angesichts der antisemitischen Vorfälle forderten diverse Stimmen zurecht einen entschlosseneren Kampf gegen Antisemitismus. Es waren teilweise dieselben Stimmen, die dann am Brandenburger Tor auf der Demonstration des „Solidaritätsbündnisses Israel“ gegen Antisemitismus in Deutschland protestierten und sich für das Selbstverteidigungsrecht Israels aussprachen und so vollkommen einseitig für die israelische Regierung Stellung bezogen.

Wenn dabei ein Spitzenpolitiker wie Cem Özdemir (vermeintlich) Golda Meir mit den Worten zitiert, „Frieden wird es erst geben, wenn die Araber ihre Kinder mehr lieben als sie uns hassen“, zeigt er nicht nur Solidarität mit Israel, sondern er bedient sich auch eines rassistischen Ressentiments. Hier die israelische Zivilbevölkerung, die sich in Bunker flüchten muss und deren Armee das Land bloß gegen Terroristen verteidigt, dort „die Araber“, die ihre Kinder nicht genug lieben und die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Hier Zivilisation und westliche Werte, dort Barbarei, keine menschlichen Individuen, sondern nur eine amorphe Masse. Dabei sollten sich gerade diejenigen, die sich mit ihrem Engagement gegen Antisemitismus zurecht gegen pauschale gruppenbezogene Zuschreibungen wenden, über die Auswirkungen einer entmenschlichenden Sprache im Klaren sein. Sie trägt zur Empathielosigkeit gegenüber den Betroffenen, in diesem Fall Palästinenser:innen, bei.

Demokratisch partizipieren – aber richtig

Im Tagesgespräch des TV-Senders Phoenix äußerte Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus: „Wir müssen die Communities, die jetzt sehr erregt sind im muslimischen Spektrum, einladen zu diskutieren und eben nicht Gewalt zu verüben. Sie müssen sich beteiligen am politischen Diskurs, am demokratischen Diskurs. Wenn es Unmut gibt, dann müssen sie ihn äußern durch angemeldete Demonstrationen, durch Veranstaltungen, aber nicht durch Gewalt, und hier sehe ich meine Aufgabe.“

Nun haben zahlreiche Menschen genau das getan (darunter auch jüdische und israelische), deren Reaktionen auf die Gewalt vor Ort Klein mit „Erregung“ zu einem vorübergehenden emotionalen Ausbruch reduzierte. Die Unterdrückung und Diskriminierung, gegen die sie sich wandten, sind aber keine subjektiven Eindrücke eines irrationalen „muslimischen Spektrums“, sondern objektiv nachprüfbare und gründlich dokumentierte Rechtsbrüche.

Das Problem an ihrer demokratischen Partizipation am Diskurs scheint zu sein, dass sich ihre Sicht auf die jüngsten Ereignisse und die Politik der israelischen Regierung, vor allem aber ihre Erwartung, was dagegen zu tun sei, wesentlich von der offiziellen deutschen Position unterscheidet. Die Mehrheit der Demonstrierenden scheint sich der Diskrepanz zwischen der einseitigen Parteinahme der Bundesregierung und des völker- wie menschenrechtlich eigentlich gebotenen Handelns sehr wohl bewusst zu sein. Diese Demonstrierenden stellen Forderungen, die unter all denen unumstritten sein sollten, die diese Rechtsnormen nicht nur als Instrumente von Interessenspolitik sehen, sondern als zentrale Grundlage unseres oft beschworenen Wertekanons. Stattdessen wurden sie in toto als antisemitisch dargestellt.

Zwei Narrative – unseres und das falsche

In der öffentlichen Auseinandersetzung geht es dabei auch um die Sicht auf die Geschichte und Ursachen des Konflikts. Mit Blick auf Menschen mit Migrationsgeschichte in der Familie äußerte Felix Klein im selben Interview: „Es muss stärker aufgeklärt werden über die Gründung des Staates Israel, über das besondere Verhältnis, das Deutschland hat zu Israel, dass, wie die Bundeskanzlerin es ja mal gesagt hat, dass das Teil der deutschen Staatsräson ist, dass das Existenzrecht Israels gewährleistet werden muss. Und auch vielleicht, dass man ihnen klar macht, wenn sie dem folgen, dann macht das einen guten Eindruck. Das ist ein Zeichen dann für Integrationswilligkeit.“

Welches Geschichtsbild soll hier vermittelt werden, um Antisemitismus vorzubeugen? Der in München ansässige Verein DEIN, der neulich in einem offenen Brief an Annalena Baerbock die Legitimität der Existenz Jordaniens anzweifelte und die israelisch besetzte West Bank – wie es die Siedlerbewegung und die israelische Rechte auch tut – als Judäa und Samaria bezeichnete, verbreitet in seiner Ausstellung „1948“ seine Sicht auf die Umstände der Staatsgründung Israels. Diese Version entspricht viel eher dem bis heute in Israel staatlicherseits gepflegten Gründungsmythos als den durch die Geschichtswissenschaft schon seit vielen Jahren unter Rückgriff auch auf vorstaatliche zionistische und israelische Quellen etablierten historischen Fakten. Glaubt man dieser Ausstellung, so tragen der Zionismus und der Staat Israel (fast) keine Verantwortung für das Leiden und die Flucht der Palästinenser:innen. Schuld waren vor allem „die Araber“ selbst. Felix Klein ist Schirmherr dieser Ausstellung. Zwei weitere Antisemitismusbeauftragte lobten sie ausdrücklich bzw. sind Mitglieder im Beirat zur Ausstellung. Für Einzelheiten und Nuancen der faktisch sehr viel komplizierteren Geschichte bleibt da kein Raum. Für die Probleme der Gegenwart – hier wie dort – auch nicht.

Was kann das anderes bedeuten, als dass im offiziellen Deutschland kein Platz für die Biographien migrantisch oder muslimisch markierter Menschen ist, deren Familiengeschichten mit der Region und insbesondere mit Israel und Palästina zusammenhängen? Es klingt, als könnten sie nur dann überhaupt eine Anwartschaft darauf erwerben, möglicherweise irgendwann einmal als Teil der Gesellschaft betrachtet zu werden, wenn sie sich einem Narrativ unterwerfen, das ihren kollektiven wie individuellen Erfahrungen widerspricht.

Worum geht es eigentlich gerade?

Wenn Menschen die Bedingung gestellt wird, die Flucht- und Vertreibungsgeschichte in den eigenen Familien zu verleugnen, wenn die Akzeptanz eines einzigen als richtig markierten Narrativs, das nur zum Teil auf historischen Tatsachen beruht, zum Lackmustest für die Integrationswilligkeit dieser Menschen erhoben wird, vertieft das die Gräben. Es trägt nicht zur Integration – an sich schon ein umstrittener Begriff – bei und schon gar nicht zu einer besseren Verständigung zwischen Jüdinnen:Juden und Menschen mit muslimisch geprägtem Hintergrund in Deutschland. Ein Ziel sollte tatsächlich sein, diese Gräben mit Wissen über die jüdische Verfolgungsgeschichte und die Shoah in Europa aufzufüllen.

Allerdings wäre es in einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland illusorisch zu glauben, dass ein weiter verbreitetes Wissen über die leidvolle jüdische Geschichte in Europa die persönlichen Geschichten gleichsam zuschütten oder verdecken wird. Diese anderen Geschichten bleiben erhalten. Und die Menschen, denen sie gehören, leben hier und sind längst Bestandteil der deutschen Gesellschaft – auch wenn sie weiterhin als fremd markiert werden.

Das Anliegen, die Betroffenen unter ein spezifisch deutsches Narrativ zu zwingen wird spätestens dann falsch und gefährlich, wenn es dazu benutzt wird, als „zugewandert“ gelesene Gruppen und Menschen pauschal zu diffamieren und zu diskriminieren. Wenn die Akzeptanz dieses Narrativs zum Lackmustest für Integration gemacht wird, dann geht es nicht darum, dass Menschen unter Wahrung ihrer eigenen Geschichte ihren Platz in der deutschen Gesellschaft haben oder finden, sondern es geht um Hegemonie und Zwangsassimilation.

Seit Langem haben sich als migrantisch oder muslimisch gelesene Menschen nicht mehr so lautstark und deutlich zu Wort gemeldet wie in den letzten Wochen. Eine Debatte darüber hat begonnen, was es heißt, sich als Palästinenser:in im spezifischen deutschen Kontext für palästinensische Rechte einzusetzen. Dieses Thema wird sich nicht in Luft auflösen, genau so wenig wie Besatzung und Siedlungspolitik vor Ort. Wenn das friedliche Zusammenleben hier in Deutschland nicht gefährdet werden soll, brauchen wir einen konstruktiven und vor allen Dingen sachbezogenen Umgang mit dem Nahostkonflikt. Für Erfolge im Kampf gegen Antisemitismus, aber auch gegen Rassismus, wird es mehr brauchen als „einen guten Eindruck“ zu haben bzw. zu machen. Ein Anfang könnte sein, das Gespräch auf Augenhöhe mit jenen zu suchen, über die und ohne die hierzulande so munter debattiert und der Stab gebrochen wird.

Veröffentlicht am 27. Mai 2021

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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