200 Jahre nach Humbold

Nicatopia: 20 Jahre nach der Revolution

Irgendwo auf dem Weg von der Stadt aufs Land muß die Utopie verlorengegangen sein: Wie eine Zeugin Jehovas mit der Bibel unter dem Arm sei sie zu den Bauern gegangen und habe ihnen ihre revolutionäre Überzeugung gepredigt, bilanziert die nicaraguanische Schriftstellerin Monica Zalaquett die 20 Jahre nach dem 19. Juli 1979. Seit diesem Tag sei es ihr Ziel gewesen, die von der berüchtigten Contra betrogenen Bauern für die revolutionäre Utopie zu gewinnen und sie von ihren niederen, kleinbürgerlichen Besitzorientierungen (eine Kuh, eine Hütte) zu befreien.

Vor zwanzig Jahren endete nicht nur eine der längsten Militärdiktaturen in der an ähnlichen Erfahrungen reichen Geschichte des lateinamerikanischen Subkontinents. Das mit dem 19. Juli 1979 begonnene gesellschaftspolitische Projekt, von seinen Urhebern mit dem Titel »Sandinistische Volksrevolution« versehen, bestimmte in den 80er Jahren auch den politischen Diskurs Lateinamerikas und fand globale Aufmerksamkeit. Zwei Jahrzehnte danach ist eine Bilanz des »sandinistischen Jahrzehnts« noch immer umstritten. Inzwischen ist die Dekade jedoch zum Gegenstand literarischer Bearbeitung geworden. Vor allem in einer Reihe von Romanen, die in den 90er Jahren erschienen.

Der »Fall« der 1954 in Chile geborenen Monica Zalaquett ist dafür durchaus symptomatisch, gehört sie doch jener Generation von Intellektuellen an, die sich in den 80er Jahren aktiv für das sandinistische Gesellschaftsprojekt engagierten. Nach dem Sturz der Regierung Allende im September 1973 aus Chile geflohen, kam sie Ende der 70er Jahre nach Nicaragua und schrieb bis zum Ende der 80er Jahre als Reporterin der sandinistischen Tageszeitung Barricada.

Die Probleme der Revolution unter den Bauern stehen auch im Zentrum ihres 1992 erschienenen Buchs »Tu fantasma, Julian«, eines der ersten nicaraguanischen Romane, die sich der jüngsten Vergangenheit des Landes zuwenden. In einer modernen Version der Geschichte von Kain und Abel, in der es weder Gute noch Böse gibt, erzählt der Roman das Schicksal der beiden Brüder Julian und Jose Benito. Der eine, Julian, identifiziert sich als lokaler sandinistischer Funktionär mit der Revolution, der andere wird zum Führer einer antisandinistischen Contra-Gruppe, die den Bruder ermordet. Literarisch eher holzschnittartig, liegt der Wert des Romans darin, daß er sich für keine der beiden Seiten entscheidet, den Konflikt als ungelöst darstellt und das Interesse der armen Bauern in den Mittelpunkt rückt, nicht gezwungen zu werden, eines der beiden Lager, Sandinisten oder Contra, zu unterstützen, sondern von beiden in Frieden gelassen zu werden. Mit diesem kritischen Blick auf die Auswirkungen der sandinistischen Revolution und des Contra-Krieges auf eine Bauernfamilie greift die Autorin das revolutionäre Projekt an: Nicht die vielbeschworene Einmischung von außen durch den »großen Bruder« im Norden ist für das Scheitern der Revolution verantwortlich (obwohl auch dieser Aspekt ausführlich gewürdigt wird), sondern ihre inneren Widersprüche, das Unverständnis städtischen Sandinismus gegenüber dem ländlichen Leben und den bäuerlichen Interessen. Dies ist zu Beginn der 90er Jahre eine in Nicaragua bis dahin unerhörte Sicht der Dinge – aber durchaus exemplarisch für einen zu dieser Zeit beginnenden Paradigmenwechsel innerhalb der nicaraguanischen Literatur. – Der literarische Diskurs der 80er Jahre war in höchstem Maße politisiert. Die Lyrik, die in den von der sandinistischen Regierung geförderten Poesiewerkstätten entstand, und die an das kubanische Vorbild anknüpfende Testimonialliteratur galten nicht nur als die geeignetsten Formen eines »literarischen Nationalismus« im Dienste der Revolution. In den Worten des Eduardo Galeanos stellten sie die wichtigsten Innovationen in der jüngsten lateinamerikanischen Literatur dar. Erst an der Wende der 80er in die 90er Jahre zeichnete sich ein Aufschwung der Romanliteratur ab. Dieser Wandel ist zumindest teilweise das Ergebnis struktureller gesellschaftlicher Veränderungen: der Alphabetisierung, der Schaffung eines flächendeckenden nationalen Erziehungswesens, der Beendigung des Krieges und einer gewissen politischen Stabilisierung. Was den engeren Prozeß der literarischen Schöpfung selbst angeht, so verfügt eine ganze Generation von Intellektuellen, die sich während Jahrzehnten für oder gegen das sandinistische Projekt engagierten, über mehr Zeit für das Nachdenken und Schreiben, und damit für die »große« Form des Romans. Gleichzeitig scheinen sie das Bedürfnis zu verspüren, die Vergangenheit zu analysieren, um die Gegenwart zu verstehen & neue Möglichkeiten für die Zukunft zu eröffnen. Eine ganze Reihe von Autoren beschäftigt sich direkt mit dem »sandinistischen Jahrzehnt«. Wie in Monica Zalaquetts Erstling der Krieg zwischen Sandinisten und der Contra, so stehen auch in Erick Blandóns »Vuelo de cuervos« (1997) und Georgina Lupiacs »Debio llamarse libertad« (1996) Ereignisse der 80er Jahre im Mittelpunkt: bei Blandón die Zwangsumsiedlung der Miskito-Indianer durch die sandinistische Regierung, bei Lupiac der patriotische Militärdienst, der Tausende von Jugendlichen in den Krieg gegen die Contra zwang, unermeßliches Leid über viele nicaraguanische Familien brachte und inzwischen als eine wichtige Ursache für die sandinistische Wahlniederlage im Februar 1990 gilt. Erick Blandón, ehemals selbst sandinistischer Funktionsträger, gelingt eine literarische Dekonstruktion der sandinistischen Revolution, indem er zeigt, wie sich auch die besten revolutionären Vorsätze (vor allem der mittleren Kader) zunächst in politische Farcen und dann Tragödien verwandeln, sei es aus mangelnder Erfahrung, Streben nach Machterhalt um jeden Preis oder blindem Gehorsam gegenüber dem Partei- und Staatsapparat. Gleichzeitig entwirft er eine mit Ironie gespickte Parabel auf den Mißbrauch der Intellektuellen durch die Macht und ihre Disposition zur »Selbsttäuschung«, die mit den Mitteln der Parodie und der Karnevalisierung auf die bürokratische Zwangsnivellierung des kulturell und ethnisch gespaltenen Landes reagiert. Kann der Roman Blandóns als literarisch-autobiographischer Ausdruck des aktuellen Geisteszustands eines großen Teils der nicaraguanischen Intellektuellen gelesen werden, die sich ehemals in den Dienst der Revolution stellten, so ist der Roman Georgina Lupiacs ein Dokument »von der anderen Seite«: Im Stil eines Kitschromans geschrieben und voller Schwarzweißmalerei, schildert er die Zerstörung einer Mittelschichtfamilie durch den Krieg und ihre Wiedergeburt im christlichen Glauben. Zahlreiche andere Autoren haben im Verlauf der 90er Jahre ebenfalls Romane vorgelegt, die sich mit den Jahren der Revolution beschäftigen, weitere sind schon angekündigt. Doch bemängelte kürzlich ein Kommentar der konservativen Tageszeitung La Prensa, es fehle noch immer ein »großer sandinistischer Roman«, quasi eine kritische Gesamtsicht der Revolution. Kaum vorstellbar ist, daß sich innerhalb der nicaraguanischen Literatur etwas Ähnliches herausbildet wie die Tradition des Revolutionsromans in Mexiko. Dazu fehlte den Geschehnissen in Nicaragua die historische Wucht und die kontinentale Bedeutung des Jahrhundertereignisses der mexikanischen Revolution. Nicht von ungefähr hat der bedeutendste lebende nicaraguanische Romanautor, der ehemalige sandinistische Vizepräsident Sergio Ramirez, der im letzten Jahr für seinen Roman »Margarita, está linda la mar...« den renommierten Premio Alfaguara erhielt, zu diesem Thema bisher literarisch geschwiegen. Der einzigen auch hierzulande einem breiteren Leserpublikum bekannten nicaraguanischen Autorin, Gioconda Belli, mag mit »Waslala« von 1996 ein solcher »großer« Roman vorgeschwebt haben. In der Suche nach dem mythischen Waslala, einer Art von Poetenrepublik, in der die revolutionäre Idee überlebt haben soll, symbolisiert sich der Glaube an die Weiterexistenz der Utopie. Dabei greift Belli auf die utopisch-mythischen Elemente des literarischen Nationalismus des sandinistischen Jahrzehnts zurück, mit dem Unterschied, daß sie die »Fehler« dieses Projekts nicht wiederholen will. Schon in den »Kosmischen Gesängen« (1989) Ernesto Cardenals wurde Waslala als revolutionärer Mythos stilisiert, ohne die Ablehnung der Revolution durch die dort lebenden Miskito-Indianer zu problematisieren. Heute ist der im Norden des Landes gelegene Ort einer derjenigen, die am meisten an den Folgen des jahrelangen Krieges leiden, in extreme Armut abgesunken sind und eine der höchsten Kriminalitätsraten Nicaraguas aufweisen. Nichts davon im Roman Bellis: »Waslala« bleibt ein mythischer, idyllischer, steriler, unglaubhafter Ort – ohne irdische Existenz, ja sogar ohne Einwohner: eine unbewohnte Utopie. Sie muß auf dem Weg dorthin abhanden gekommen sein.

Werner Mackenbach

NATIONALE GEDENKSTÄTTE

Ein Projekt für die Campesinos vom El Casita

Das Existieren an den Steilhängen des Vulkans Casita & das Überleben des Hurrikans Mitch: das ergab den Weg aus Dantes Hölle in die Ebenen unterhalb des Bergs. 30 Jahre früher hatten sie dort bereits schon einmal gelebt. Dann Verdrängung durch die Baumwollfarmer. Einige von ihnen reagieren mit der Besetzung zweier Finca-Güter der Großgrundbesitzer am Vulkan. Die sandinistische Landreform legalisierte schließlich diesen Akt. 1998 dann die Schlammlawine des Hurrikans Mitch gegen die Campesinos am Steilhang. Anschließend erklärte die nachsandinistische Regierung das ganze Gebiet zu einer einzigen nationalen Gedenkstätte. In der Entschädigungsliste für die vom Hurrikan Betroffenen fanden sich nur die Namen der Besitzer aus der Zeit vor der sandinistischen Erhebung. Nun erinnerten die armen Menschen sich wieder daran, daß Landbesetzung möglich ist! Diesmal erneut in jener Ebene, von wo vor 30 Jahren sie und ihre Familien verjagt worden waren. medico international unterstützt den Häuserbau, sanitäre Maßnahmen, die psychosoziale Betreuung und die Wiederankurbelung der Landwirtschaft für die 200 Familien auf der besetzten Finca El Tanque. Wie wir sie mit diplomatischer Hilfe bedachten, durch politische Intervention beim deutschen BMZ & beim nicaraguanischen Landwirtschaftsministerium: das lesen Sie im Internet unter medico.de. Oder in einem Informationsblatt, das wir Ihnen gerne zusenden. Wir hoffen auf Ihre Spenden für die Menschen vom El Casita. Stichwort: »Nicaragua«.

Veröffentlicht am 01. September 1999

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