Zusammenstoß der Erwartungen - ZUM LESEN UND ANHÖREN

Haitianer in Brasilien: Süd-Süd-Solidarität mit Anlaufschwierigkeiten. Von Gerhard Dilger.

Vormittags fährt der graue Bus mit der symbolträchtigen Aufschrift „Zumbi“ auf das großzügige hügelige Gelände nordöstlich von São Paulo, auf dem die Landlosenbewegung MST ihre Tagungsstätte aufgebaut hat, die „Nationale Schule Florestan Fernandes“ in Guararema. Im Bus sitzen 39 Frauen und Männer aus Haiti, sie sind in einer langen Nachtfahrt aus dem südlichen Bundesstaat Paraná angereist.

Als sie aussteigen, ist die Wiedersehensfreude groß. Empfangen werden sie von 35 Landsleuten, mit denen sie ein knappes Jahr zuvor an gleicher Stelle ihre ersten Gehversuche in der portugiesischen Sprache absolviert haben und zugleich in die brasilianische Geschichte von unten eingeführt wurden. Und von einer Handvoll MST-Betreuern, die sie in verschiedenen Phasen des Austauschs kennengelernt hatten.

Der schwarze Rebell

Der Name Zumbi passt gut zur Vorliebe des MST, seine Projekte nach heroischen Vorbildern zu taufen: Der ehemalige Sklave war der berühmteste schwarze Rebell Brasiliens, im 17. Jahrhundert führte er im Nordosten den Widerstand gegen die europäischen Kolonisatoren an. Im nordöstlichen Bundesstaat Sergipe hatten die Haitianer und Haitianerinnen, die schon zwei Tage zuvor zum Auswertungsseminar eingetroffen waren, auch die letzte Phase ihrer Ausbildung durchlaufen.

Die Entscheidung, insgesamt 77 Haitianer aus diversen Kleinbauernbewegungen oder deren Umfeld für ein Jahr nach Brasilien zu schicken, war aus einem der bemerkenswertesten Süd-Süd-Projekte der letzten Jahre entstanden: Seit 2004 sind auf Haiti unter brasilianischer Regie die UN-Truppen der „Stabilisierungsmission“ MINUSTAH stationiert. Dieser Militäreinsatz ist in der brasilianischen Linken äußerst umstritten. Das MST blieb allerdings nicht bei der Kritik stehen, sondern ist seit gut drei Jahren mit seiner „Brigade Dessalines“ in dem karibischen Krisenstaat – derzeit vermitteln zehn Brasilianer haitianischen Kleinbauern ihr Know-how beim Biolandbau, der Produktion von eigenem Saatgut, in der Kleinviehzucht oder bei der Wiederaufforstung.

„Da lag es nahe, unsere Zusammenarbeit auszuweiten , erzählt der Südbrasilianer Paulo Almeida, der von einem langen Arbeitseinsatz in Haiti direkt zum Auswertungsseminar nach Guararema gekommen ist. „Zusammen mit unseren Partnern beschlossen wir, junge Haitianer für ein Jahr zur praktischen und theoretischen Ausbildung nach Brasilien zu schicken“. Logistische und finanzielle Unterstützung kam von der Regierung, zu der die MST ein kritisch-solidarisches Verhältnis pflegt: Zur An- und Abreise stellte die Luftwaffe eine Mitfluggelegenheit bereit, die Ölgesellschaft Petrobras zahlte einen Zuschuss, und die letzten vier Monate verbrachten die Haitianer an Landwirtschaftsinstituten unter Bundesregie. medico international übernahm einen Teil der Kosten auf Seiten der MST-Schule.

Organisiert wurde der Einsatz unter dem Motto Agroökologie vom MST. Das NGO-Netzwerk „Plattform für Alternative Entwicklung Haitis“ (PAPDA) oder Kleinbauernorganisationen wie Tèt Kolé („Köpfe zusammen“), in der 80.000 Familien organisiert sind, suchten die Teilnehmer aus. Doch die Auswahlkriterien blieben offenbar ebenso nebulös wie die Informationen über das Programm in Brasilien, und nach den Verwerfungen des verheerenden Erdbebens vom Januar 2010 musste jungen Leuten ein einjähriger Brasilienaufenthalt selbst mit einem sehr grob skizzierten Programm besonders attraktiv erscheinen. Schließlich bestand die große Mehrheit der Gruppe aus Studierenden, viele hatten einen kleinbäuerlichen Hintergrund.

Zuviel Leerlauf

„Wir wollten uns nicht bei der Auswahl einmischen, und das Ergebnis war ein regelrechter Zusammenstoß der Erwartungen“, meint Paulo Almeida selbstkritisch. „Ich wollte ein anderes Land kennenlernen und meine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse in der Landwirtschaft einsetzen“, erinnert sich Bauernsohn Simon Matador aus der Provinzstadt Jacmel in bestem Portugiesisch, „aber die ersten Monate waren schlecht geplant, da gab es viel Leerlauf“.

Die Monate nach dem Einführungsseminar, in denen die Gruppe auf insgesamt acht Bundesstaaten verteilt worden war, gestalteten sich schwierig: Kommunikationsprobleme, wenige oder gar keine geplanten Kurse, teils prekäre Unterbringung in bescheidenen Landlosensiedlungen, vor allem im ärmeren Nordosten, und überforderte MST-Koordinatoren vor Ort, die mit Haitianern „aus elenden Verhältnissen“ gerechnet hätten, aber nicht mit Akademikern. Dass ihnen manche Brasilianer mit Rassismus begegnen würden, hatten wiederum die Besucher nicht erwartet. Aufgrund bürokratischer Barrieren bekamen sie ihr Taschengeld von umgerechnet 40 Euro erst ab dem siebten Monat ausgezahlt. Drei Teilnehmer reisten vorzeitig ab.

Dennoch gab es auch viel Positives zu berichten. Der 49-jährige Bauer Willy Hebistal, einer der Ältesten, schwärmt von seinem Aufenthalt in der bestens funkionierenden MST-Kooperative im südbrasilianischen Tapes, wo er den Anbau von Bioreis bis hin zur Verpackung für die Endverbraucher kennenlernte. Die Krankenschwester Enèse Labadie lobt die Gastfreundschaft der Landlosenfamilien im nordöstlichen Pernambuco. Der 32-jährige Maxi Aliès hat im Landesinnern von Espirito Santo viel über Fischzucht und ökologischen Kaffeeanbau gelernt.

In den letzten fünf Monaten wurden die Teilnehmer in zwei große Gruppen in den Bundesstaaten Sergipe und Paraná zusammengefasst. Dort belegten sie an zwei Bundesinstituten Spezialkurse in Agrarökologie, Bodenkunde oder Zisternenbau. „Es war mit Abstand die produktivste Zeit“, sagt Simon Matador. Besonders lobt er den engagierten Leiter seiner Fakultät und einen zweitägigen Spezialkurs zum Bananenanbau beim staatlichen Agrarforschungsinstitut Embrapa in Aracajú.

Parallel zum Beginn ihres Auswertungsseminars, das der Haiti-Kenner Paulo Almeida zusammen mit dem Funktionär Jean-Baptiste Rosnel vom Kleinbauernverband Tèt Kolé leitet, finden in der MST-Tagungsstätte zwei weitere international besetzte Seminare mit Aktivisten aus ganz Amerika und sogar Mosambik statt. Den Redebeiträgen auf Spanisch und Portugiesisch können nicht alle Haitianer folgen, nach einem Jahr Brasilien plagt sie das Heimweh. „Mein Körper ist hier, aber meine Seele ist schon längst in Haiti“, sagt einer.

Stärkung durch Mistica

Beim Einsatz in der Gemeinschaftsküche oder bei einem feministischen Theaterstück am Abend leben alle Haitianer auf. Auch wenn sie auf Kreolisch mit der MST-Aktivistin Socorro Lima scherzen, die ebenfalls einen längeren Einsatz in der haitianischen Provinz hinter sich hat und auch die zurückhaltendsten Frauen aus der Reserve locken kann. Die allmorgendlichen „Mistica“, ein poetisch-kämpferisches Ritual, bei dem die katholischen Wurzeln der MST am deutlichsten zum Tragen kommen, ist am beliebtesten: Angestrebt wird eine geradezu spirituelle Stärkung des gemeinsamen Engagements.

„Natürlich wollen wir den Austausch fortsetzen“, sagt Paulo Almeida, der mittlerweile in der Florestan-Fernandes-Schule arbeitet. „Aber nach dieser Erfahrung müssen wir das Format radikal umstellen“. Gedacht ist an eine gezieltere Auswahl der Teilnehmer, die in Zehnergruppen über einen viel kürzeren Zeitraum an Spezialkursen über Wassermanagement in semiariden Gegenden des Nordostens oder über agroökologische Anbautechniken in Südbrasilien teilnehmen. Und bei allen Schwierigkeiten bleibt die Erfahrung, Solidarität konkret praktiziert zu haben. Darauf gilt es aufzubauen.

Projektstichwort

Im Rahmen der Süd-Süd-Kooperationen, die medico nach dem Erdbeben in Haiti angestoßen hat, wird auch der Austausch zwischen der brasilianischen Landlosenbewegung MST und haitianischen Kleinbauern unterstützt. Anteilig gefördert wird die brasilianische Brigade in Haiti genauso wie die Ausbildung der Haitianer in Brasilien. Die kritischen Erfahrungen werden ausgewertet und darauf basierend die Süd-Süd-Zusammenarbeit fortgesetzt. Das Spendenstichwort dafür lautet: Haiti

Veröffentlicht am 22. März 2012

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