Haiti

Wenn der Staub sich legt

Nach dem jüngsten Erdbeben unterstützen medico-Partnerorganisationen den Wiederaufbau und stärken die Zivilgesellschaft.

Von Raul Rosenfelder

Nachdem sich der erste Staub gelegt hat, werden in Haiti die Schäden des Erdbebens vom 14. August sichtbar, verstärkt noch durch die schweren Unwetter infolge des Tropensturms Grace. Die schreckliche, noch immer nicht vollständige Bilanz: 2.200 Menschen starben, über 12.000 wurden verletzt. 130.00 Gebäude sind entweder zerstört oder schwer beschädigt, so die Vereinten Nationen.

Nur kurzfristig Abhilfe leistet angesichts dessen die internationale humanitäre Hilfe. Langfristig verstetigt sie die Abhängigkeit Haitis von den Geldgeber*innen und reproduziert das Bild der viktimisierten Anderen, die sich nicht selbst zu helfen wissen. „Es fehlte dem, was man gemeinhin haitianischen Staat nennt, jede institutionelle Möglichkeit, vorbeugende Maßnahmen wie den Ausbau des Katastrophenschutzes, die Aufklärung über Verhaltensmaßregeln bei Erdbeben wie die systematische Errichtung von erdbebensicheren Gebäuden durchzuführen“, so Katja Maurer.

Kritische Nothilfe bedeutet, gemeinsam mit lokalen Partner*innen in die akute Notsituation zu intervenieren sowie gleichzeitig Selbstorganisation und Prävention zu unterstützen. Immer mit der Aussicht, irgendwann nicht mehr gebraucht zu werden. medico unterstützt daher drei neue Projekte in Haiti, die die kurzfristige Nothilfe verbinden mit langfristiger Prävention und dem Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen.

Organisierung von unten

Das 1986 gegründete Forschungs- und Ausbildungszentrum für soziale und wirtschaftliche Entwicklung (CRESFED) in Port-au-Prince unterstützt demokratische und zivilgesellschaftliche Strukturen auf lokaler Ebene. In der Erdbebenregion ist CRESFED gut vernetzt und in verschiedenen Gemeinden aktiv, wo der Aufbau lokale Strukturen in den Bereichen ländliche Entwicklung und Ernährungssouveränität unterstützt wird. Viele Akteur*innen, mit denen CRESFED bereits zusammenarbeitete, sind durch das Erdbeben obdachlos geworden. In einer ersten Nothilfe half CRESFED 51 Familien mit „shelter-kits“, mit dem Nötigsten, um sich eine behelfsmäßige Bleibe einzurichten. Außerdem werden Schäden dokumentiert sowie mittel- und langfristige Maßnahmen identifiziert, um die Katastrophenvorsorge zu verbessern.

„Prävention ist besser als Heilung“

Das Menschenrechtsnetzwerk Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH) arbeitet seit 1992 unter dem Motto “prevention is worth more than a cure” und konzentriert sich in seiner Arbeit auf zwei Hauptaspekte: Erstens setzt sich RNDDH ein für die Aufklärung der Menschen über ihre Rechte, um sie zu ermächtigen, selbst dafür einzustehen. Zweitens beobachtet und kontrolliert das landesweit organisierte Netzwerk staatliche Institutionen, um die Einhaltung der Menschenrechte und weiterer rechtsstaatlicher Verpflichtungen sicherzustellen. Langfristiges Ziel ist die Herausbildung einer starken haitianischen Zivilgesellschaft, die den politischen Prozess mitbestimmt und auf die Erfüllung der Versprechen von Menschenrechten und Demokratie pocht. In der aktuellen Notsituation unterstützt RNDDH circa 50 Familien in der Gemeinde Saint Louis mit Hilfsgeldern, damit sie vor Ort das Nötigste kaufen können: Nahrungsmittel, Baumaterialien, Medikamente, Kleidung.

Helfen, wo Hilfe sonst kaum ankommt

Die dritte Organisation, über die wir derzeit in Haiti Nothilfe leisten, ist die Groupe d'Appui aux Rapatriés et Réfugiés (GARR), ein grenzübergreifendes Netzwerk von Aktivist*innen, das vor allem für die Rechte haitianischer Arbeitsmigrant*innen in der Dominikanischen Republik streitet. Nun organisieren die Aktivist*innen auch Hilfstransporte mit Nahrungsmitteln und Hygienekits in vom Erdbeben betroffene Gemeinden. Dabei konzentrieren sie sich vor allem auf ländliche Gebiete, die vom Erdbeben besonders stark betroffen sind und wohin Hilfe sonst kaum gelangt. Ein Schwerpunkt liegt auch auf der psychosozialen und medizinischen Unterstützung vor Ort.

In einem Aufruf, den GARR am 26. August veröffentlichte, schreiben sie: „Wir fordern die Behörden auf, solide und effiziente Strukturen für die Betreuung der Opfer zu schaffen und das Recht der Vertriebenen auf eine Unterkunft zu respektieren. Ein Recht, welches in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die Haiti unterzeichnet hat, garantiert wird.“

    Erdbeben und Tropensturm trafen Haiti in einer politisch ausweglosen Zeit nach dem Mord an Präsident Moïse und eskalierender Gang-Gewalt. Haitianische medico-Partner*innen leisten Nothilfe für die Betroffenen und streiten für den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen, die der Gewalt entgegentreten und den demokratischen Prozess fördern.

    Veröffentlicht am 06. September 2021

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