Sorgearbeit

Who cares for the carers?

Vulnerabilität, Care und Widerstand in der Polypandemie.

Von Julia Manek

und Usche Merk

Zuerst erschienen in: Trauma – Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen 19 Jg. (2021) Heft 4

Die Polypandemie verschärfte die ungleich verteilte Produktion von Vulnerabilität. Anstelle von Resilienzprogrammen werden verschiedene Formen von Care zum Kitt, der Gesellschaften vor dem Auseinanderbrechen bewahren soll. Als kritische Hilfs- und Menschenrechtsorganisation gilt es, Formen von Care Arbeit für Partnerorganisationen in Ländern des Globalen Südens zu leisten, die es ermöglicht, trotz multipler Belastungen auch für würdige Lebens- und Arbeitsbedingungen streiten zu können – und relationaler Teil der Welt zu sein.

Polypandemie: Verschärfung von Krisen durch die Pandemie

Ein Bildschirm voller Kacheln mit Gesichtern und Stimmen aus aller Welt. Mpumi Zondi spricht aus Südafrika. Sie sagt: „In der Pandemie kämpfen wir als psychosoziale Begleiterinnen nicht nur mit dem Virus. Wir kämpfen mit zunehmendem Hunger. Und wir kämpfen mit unserer Hilflosigkeit und unserer Wut. Es kommen Frauen zu uns, die aus ihren Häusern geworfen wurden, nachdem ihre männlichen Partner an Covid gestorben sind. Sie werden misshandelt und ausgebeutet und wissen nicht, wohin.“ Die klinische Direktorin von Sophiatown Community Psychological Services in Johannesburg ist eine von vielen psychosozialen Aktivist:innen und Projektpartner:innen, mit denen medico international in über 30 Ländern kooperiert. Über Sprach- und Zeitgrenzen hinweg sind seit der Pandemie Austauschforen und Plattformen im digitalen Raum entstanden, die Verbindungen schaffen. Das ist nötiger denn je. Die Pandemie stellt einen massiven Einschnitt dar. Die Ausbreitung des Virus und die Eindämmungsmaßnahmen haben andere Krisen verschärft und sich zu einer „Polypandemie“ (Münchner Sicherheitskonferenz, 2021) ausgeweitet.

Covid-19 verschränkt sich mit „Pandemien“ der Armut, der Ungleichheit, der patriarchalen Gewalt, der Militarisierung, des Autoritarismus, der Isolation. Das Virus zeigt die globalen Hierarchien unerbittlich auf, wirkt wie ein Brennglas, das bestehende Unterschiede weiter verschärft (Oxfam, 2021). Insbesondere in den verschiedenen Formen und Wirkungsbereichen von Care artikuliert sich die Krise unübersehbar – gleich, ob in der häuslichen Arbeit in den Lockdowns, in der medizinischen Pflege, in der psychosozialen Begleitung von Menschen in perpetuierten Gewalt- und Krisenverhältnissen oder in den Formen von Fürsorgearbeit, mit denen Menschenrechts- und Hilfsorganisationen wie medico konfrontiert sind. Schon vor der Pandemie haben wir über unsere Arbeit alltäglich erfahren, was das nekropolitische Regieren post-kolonialer Subjekte, wie Achille Mbembe (2016) es nennt, bedeutet. Gemeint ist die Ordnung der Macht, zu bestimmen, wer leben wird und wer sterben muss – und was dies für die subjektive Lebensrealität von Menschen bedeutet: In einem existenziell unsicheren, schutzlosen Alltag ist „Trauma“ für viele keine Ausnahmeerfahrung, sondern Normalität. Diese Normalität wurde in den Jahren des neoliberalen Regierens, das der Pandemie vorausging, vor allem durch den boomenden Diskurs um Resilienz legitimiert: Dessen Credo „fit für die Katastrophe“ (medico international, 2017) flankierte die Aufkündigung des grundlegenden Gesellschaftsvertrags. Der staatliche Rückzug aus der Verantwortung für die Herstellung von sicheren und menschenwürdigen Lebensbedingungen wälzte diese in einer neoliberalen Transformation stattdessen an die Individuen und lokalen Gemeinden ab.

Mit der Pandemie trat die erwartete Katastrophe nun gewissermaßen ein. Doch die erwartete staatliche und flächendeckender Ruf nach Resilienz blieb aus. Es schien, als habe der Resilienzdiskurs die Illusion aufrechterhalten, dass den nahenden Krisen etwas entgegenzusetzen sei – und als sei nun zumindest diese Illusion in sich zusammengebrochen. Die neoliberale Ideologie der Selbstverantwortung wich einer Spaltung: Am „oberen Ende“ der globalen Hierarchie erschien wieder ein starker Staat, wurden erneut teure Gesundheitssysteme und eine nationale Wirtschaft als „Retter“ angerufen. Die Regionen und Menschen um „unteren Ende“ der Hierarchie jedoch wurden und werden dem Sterben überlassen – ganz ohne dass es dafür noch einen Rechtfertigungsdiskurs der Resilienzstärkung bedarf. Statt Resilienz bildet „Care“ den gesellschaftlichen Kitt, der die Krise managen soll. Im Kampf gegen die Ausbeutungen und multiplen Belastungen der multiplen Pandemien, der Polypandemie, sind die Carer – Menschen, die diese Sorgearbeit leisten – die allein zuständig gemachten. Die Perspektive von medico-Partner:innen aus den verschiedenen Weltregionen machen eine Welterfahrung sicht-, hör- und fühlbar, die meistens verborgen bleibt.

In diesem Beitrag möchten wir diese Erfahrungen zwischen Frankfurt, Johannesburg und anderswo teilen: Am Beispiel der Arbeit der Community Health Worker in Südafrika zeigen wir, was „Traumaarbeit weltweit“ für uns in der Polypandemie bedeutet: Solidarität mit den Carern zu organisieren, die Verzweiflung und Belastung sichtbar zu machen, ihre Kämpfe um Anerkennung, Schutz und würdige Arbeitsbedingungen zu unterstützen – und Austausch und Vernetzung zwischen uns allen mit zu organisieren. Dabei bildet der eingangs beschriebene digitale Austausch einen wichtigen Bezugspunkt der psychosozialen Arbeit bei medico: Auf den regelmäßigen Treffen wird auch über eigene Gefühle in der Krise gesprochen, nicht nur als psychosoziale Aktivist:innen in perpetuierten Gewaltverhältnissen, sondern als menschliche Subjekte. Die Pandemie erzeugt auch vicarious trauma – als sekundäre Folgen empathischer Zeugenschaft. Es gilt, besprechbar zu machen, was sonst unsichtbar bleibt und in eine Oszillation zwischen der Suche nach dem Begreifen der „neuen Normalität“ und der Entwicklung von alternativen Visionen einzutreten.

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die abrupte und weltweite Erfahrung von Vulnerabilität durch die Pandemie, die – zumindest kurzfristig – eine geteilte Erfahrung ist. Es sind zwar alle „im gleichen Ozean“, aber keinesfalls im gleichen „pandemischen Boot“, wie es der UN Generalsekretär Guterrez (2020) in seinem legendären Zitat treffend beschreibt: „Covid 19 hat die Lüge enthüllt, dass der freie Markt Gesundheitsversorgung für alle liefern kann, die Fiktion, dass unbezahlte Care Arbeit keine Arbeit sei, die wahnsinnige Täuschung, dass wir in einer postrassistischen Welt leben. Wir schwimmen alle im selben Ozean, aber einige sitzen in Superyachten, während andere sich an Treibgut festklammern.“ Anknüpfend an die These der Philosophin Judith Butler (2018) zur intrinsischen Verknüpftheit von Vulnerabilität und Widerstand möchten wir auf Spurensuche gehen, wie die Erfahrung der Verwundbarkeit, der Abhängigkeit von Hilfe und Care, zu Prozessen von Widerstand führen können, die in unsichtbaren und sichtbaren Formen der nekropolitischen Macht trotzen.

Vulnerabilität, Care und Widerstand – Community Health Workers in Südafrika

Es erscheint kontraintuitiv. Aber „Vulnerabilität“ zu thematisieren, bedeutet auch, Widerstand zu thematisieren. Butler wendet sich explizit gegen die Definition von Vulnerabilität als bloße Verletzlichkeit. Stattdessen betont sie den relationalen Charakter von Vulnerabilität als Abhängig-Sein, als Nicht-Überleben- Können ohne die materielle und soziale Welt, die uns umgibt. Mit dieser Abhängigkeit geht auch affektive Offenheit einher: Egal, ob man nun will oder nicht, alle können potenziell betroffen sein – auch man selbst in erster Person. Mit diesen Überlegungen wird ein Turn eingeleitet: „weg“ von Vulnerabilität als etwas Unpolitischem und Handlungsunfähigem und „hin“ zur Entstehung von Widerständigkeit. Vulnerabilität kann zu einer Grundlage für politische Mobilisierung werden: Durch das Erfahren der eigenen Verwundbarkeit wider den gesellschaftspolitischen, umweltzerstörerischen Verhältnissen politisieren sich Menschen, organisieren sich, fordern ihre Rechte und ihre Würde (zurück). Damit möchten wir auch die Idee davon diversifizieren, was „Widerstand“ alles ist und sein kann, und die Idee des verdeckten Widerstands (Scott, 1989) in den Blick nehmen, weil die Anerkennung als „Widerstand“ meist nur soziale Kämpfe erhält, die strategisch Öffentlichkeit herstellen.

Insbesondere in der Care Arbeit bleibt das Widerständige häufig unsichtbar. Die Erfahrung von ca. 50.000 Gesundheitsarbeiter:innen in den marginalisierten Gemeinden Südafrikas, der Community Health Workers, zeigt die Verbindung zwischen Vulnerabilität, Care und Widerstand (Zondi, 2018). Die Corona-Pandemie hat Südafrika schwer getroffen, besonders die Armenviertel: Dort ist die Sterberate an Covid-19 doppelt so hoch wie in den reichen Vierteln. Einer Studie zufolge haben arme schwarze Frauen durch die Pandemie die stärksten sozioökonomischen und gesundheitlichen Einbußen erlitten (Nwosu et al., 2021). Gleichzeitig waren auch sie es, die am meisten mit zusätzlicher Kinderbetreuung, Krankenpflege und Überlebenskämpfen belastet und zudem von zunehmender patriarchaler und sexualisierter Gewalt betroffen waren. Insbesondere in den armen Vierteln wurden die strengen Lockdown-Maßnahmen autoritär von Polizei und Militär durchgesetzt – ohne, dass den Menschen ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt wurden. Familien mussten auf engstem Raum zusammenleben, was häufig zu Konflikten und Gewalt führte. Zahlreiche informelle Siedlungen wurden geräumt und vertrieben. Projektpartner:innen berichteten von massiven psychosozialen Reaktionen wie extremen Angstzuständen als Folgen von Essensdeprivation und der Gefahr von Räumungen. Die Reaktivierung traumatischer Erfahrungen, depressive, selbstschädigende Reaktionen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern stiegen sprunghaft an (Kistner 2020). Gleichzeitig wuchs die Angst vor Covid mit den massiv angestiegenen Todeszahlen, insbesondere nach der zweiten Welle zum Jahreswechsel 2020/21, in der offensichtlich wurde, dass die öffentlichen Kliniken im Gegensatz zu den privaten kaum über Sauerstoff verfügen und den schwer Erkrankten daher fast keine Hilfe bieten können.

In dieser Situation waren es vor allem die Gesundheitsarbeiterinnen in den Gemeinden, die dafür sorgten, dass sich Menschen in den marginalisierten Vierteln wenigstens rudimentär gegen Covid-19 schützen können und chronisch Kranke weiterhin mit Medikamenten versorgt werden. Sie informierten die Familien über Lebensmittelhilfen und Essenspakete, waren Anlaufstellen bei sexualisierter Gewalt und vermittelten in die wenigen noch zugänglichen Zufluchtsorte. Die Community Health Workers, zumeist in Armut lebende, oft alleinerziehende schwarze Frauen, die über kurzfristige, prekäre Verträge beschäftigt sind, bilden die unsichtbare Basis des Gesundheitssystems. Zuhause sowie in der Nachbarschaft leisten diese Frauen, deren Leben selbst häufig durch Krankheit, Gewalt und Not geprägt ist, Sorge-Arbeit. Sie kümmern sich gleichzeitig um die elementare Gesundheitsversorgung. Selbst im harten Lockdown und inmitten hoher Infektionszahlen organisierten sie Aufklärung, Kontaktverfolgung und Krankenbetreuung – vom südafrikanischen Präsidenten wurden sie daher als „Frontsoldatinnen“ bezeichnet (Ngema et al, 2021). Gleichzeitig wurden ihre Rechte und ihre Sicherheit missachtet: Das Gesundheitsministerium schickte sie ohne Vorbereitung, ohne ausreichende Masken und Schutzausrüstung, zudem ohne angemessene Bezahlung und Absicherung im Krankheitsfall an die „Front“.

Gale Mdluli ist eine Gemeindegesundheitshelferin und arbeitet in der Nähe von Johannesburg. Sie beschreibt den Kampf gegen die Polypandemie und um den Schutz für sich und andere so: „Wir arbeiten ohne Masken und Schutzausrüstung. Die Distriktverwaltung stellt uns nichts zur Verfügung, obwohl sie dazu verpflichtet wäre. Wir haben uns jetzt mit der Selbstorganisation der Community Health Workers (CHW), dem Gauteng CHW Forum, zusammengetan und haben Klage gegen die Verwaltung eingereicht. In der Zwischenzeit haben wir Unterstützung mobilisiert, um uns selbst Masken und Schutzkleidung zu besorgen“ (Forum News Staff, 2021). Die Vulnerabilität der Gesundheitsarbeiterinnen wurde zum Ausgangspunkt eines Widerstands, der sich zunächst als Fürsorgeübernahme für andere und sich selbst manifestierte. Die verängstigten und verunsicherten Community Health Workers begannen sich untereinander und mit befreundeten Aktivist:innen auszutauschen – per Telefon und in Chat-Gruppen, so gut es eben ging unter den Bedingungen der Kontaktlosigkeit. Manchmal gab es Treffen am Zaun oder im Freien. Im Kampf um Schutz und Kollektivität mobilisierten sie unter schwierigsten Bedingungen mit Hilfe von zivilgesellschaftlichen Organisationen und finanzieller Unterstützung Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel. Gleichzeitig begannen sie, zusammen mit den Aktivist:innen gegenseitige politische – und psychosoziale – Unterstützung zu organisieren.

Innerhalb kürzester Zeit entwickelten sich (digitale) Netzwerke von über 300 zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie die C19 People’s Coalition. Diese leistet Rechtshilfe bei Übergriffen und Gewalt, bei Repression und Vertreibung und verbreitet Informationen über noch funktionierende Hilfs- und Versorgungsangebote. Um kollektive Diskussionsräume gegen die Unsichtbarkeit zu schaffen, organisierten diese Netzwerke gleichzeitig digitale Zugänge auch für Community Health Workers in marginalisierten Gemeinden. Sie stellten entsprechende Datenvolumen und technische Ressourcen zur Verfügung und organisierten Fortbildungskurse für den Umgang mit digitalen Kommunikationsformen (Witbooi, 2021). Nach zähen Kämpfen mit zahlreichen Hürden – darunter falsche Versprechungen von Seiten privater Akteur:innen, mangelnde Zugänge zu Versorgungsketten, Korruption und Bereicherung von staatlichen Behörden oder undurchsichtige Lieferwege von medizinischen Schutzutensilien – gelang es, Zehntausende von Schutzmasken zu kaufen und zu verteilen. Auch darüber wurden Verbindungen und Netzwerke aufgebaut: Die Diskussion über die fehlenden Schutzmasken und die Organisation der Verteilung wurden zu einem psychosozialen Prozess der gegenseitigen Anerkennung und Solidarität. Für kurze Zeit wurden vertrauliche Orte geschaffen – im digitalen Raum, zwischen den Unterkünften oder unter Bäumen –, in denen über die Schmerzen, Verletzungen, Demütigungen und traumatischen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Pandemie gesprochen werden konnte.

Auch Wut und Widerstand wurden darin zum Ausdruck gebracht, deren Mobilisierung weit über den temporären Ort der Gespräche hinausreichte: Als mitten in der Pandemie tausende Gesundheitsarbeiterinnen in Eastern Cape entlassen wurden bzw. keine Verträge mehr bekamen, gingen sie – mit Abstand und Maske – auf die Straße. Gemeinsam zog die Demonstration vor das dortige Gesundheitsministerium. Innerhalb kürzester Zeit wurde ihr Protest auf vielfältige Weise in den sozialen Medien verbreitet, sodass sich bald die nationalen Medien und Politik mit ihm auseinandersetzten bzw. auseinandersetzen mussten. Trotz repressiver und verschleppender Reaktionen auf Seiten des Ministeriums protestierten bald überall im Land Community Health Workers für sofortigen Gesundheitsschutz, für sichere und würdige Arbeitsbedingungen. Über Vernetzungen zwischen verschiedenen Provinzen entstand die Idee, in allen Provinzen Arbeitsgerichtsprozesse vorzubereiten. Das Ziel sollte eine gesicherte Festanstellung statt befristeter Honorarverträge sein.

Aus den digitalen Verbindungen und Netzwerken, die sich unter dem Lockdown entwickelten und den schon vor der Pandemie begonnenen Selbstorganisationsstrukturen der Community Health Workers entstand auch die People’s Vaccine Campaign (2020). Die Kampagne zur Forderung und Verteilung von Impfstoffen für alle verlangt Zugang zu einer gerechten Gesundheitsversorgung und Schutz für alle. Sie wehrt sich gegen die Patentrechte. Dementsprechend sagt sie auch der andauernden Verletzlichkeit gegenüber dem Virus den Kampf an – die von der globalen Impfstoffproduktion und -verteilung für weite Teile der Weltbevölkerung perpetuiert wird, während in anderen Teilen der Welt das „Leben“ bereits wenig eingeschränkt weitergeht. Im Verlauf der Kampagne entstanden immer mehr Fragen, die weit über die Pandemie hinausgehen. Vor allem drehen sie sich um eine andere gesellschaftliche Care Arbeit – in deren Zentrum menschenwürdige, antipatriarchale, dekoloniale und anti-kapitalistische Arbeits- und Care Lebensbedingungen stehen. Sie artikulieren sich in konkreten Forderungen genauso wie in Visionen, die in Anerkennung der gegenseitigen Vulnerabilität auf Fürsorge und psychosoziale Stärkung angesichts der dramatischen Folgen der Pandemie ausgerichtet sind.

Dabei ermöglicht die enge Verknüpfung von politischen Kampagnen und kollektiven Strukturen auch einen Umgang mit traumatischen Erfahrungen und Realitäten, der die Einzelnen nicht isoliert und von professioneller Hilfe abhängig macht. Trotz zahlreicher Herausforderungen und Rückschläge, trotz extrem prekärer Rahmenbedingungen und politischer Machtlosigkeit zeigen solche Prozesse, dass Empathie und Solidarität neue Wege dorthin bereiten, wie eine andere – eine fürsorgliche – Welt aussehen könnte. Ein solch auf relationales und auf Interdependenz gestütztes Verständnis von Vulnerabilität wie das der Community Health Workers bietet die Möglichkeit, eine Form des Lebens jenseits von neoliberal organisierten Überlebenskämpfen zu entwerfen. Es macht die Gesamtaufgabe nicht weniger beängstigend. Vielleicht aber macht es sie weniger einsam (Bracke, 2018). Und es lädt dazu ein, Verbindungslinien zu ziehen, zwischen „hier“ und „dort“.

Vulnerabilität als geteilte Erfahrung und Ermöglichungsbedingung globaler Solidarität?

Angesichts dessen, dass die Pandemie immer wieder als erstes „wahrhaft globales“ Ereignis in der Geschichte der Menschheit bezeichnet wird – denn alle menschlichen Subjekte erleben sie quasi in Echtzeit –, wird auch nach Momenten der Gleichheit gesucht. Die pandemische Normalität zeigt, dass „wir alle“ ohne Ausnahme vulnerabel und möglichen Verletzungen gegenüber schutzlos sind. Doch obwohl Verletzlichkeit per se eine Grund- und Grenzerfahrung allen – und so auch unseres – Lebens ist, wird diese Erfahrung weitgehend verdrängt. Im Angesicht der Pandemie aber, das unterstreicht Rita Segato (2020), verunmöglichte das Virus die Aufrechterhaltung der Leugnung der eigenen Vulnerabilität. Damit spüren auch Menschen im „sicheren Europa“, dass ihre Lebensgrundlagen, insbesondere der eigene Körper, zerbrechlich sind. Die Pandemie bringt die Verdrängung der Sterblichkeit und die durch sie ermöglichte patriarchale Allmachtsphantasie der Unsterblichkeit ins Wanken, die maßgebend für die moderne Subjektkonstitution ist.

Obgleich die biopolitische Metrisierungsfähigkeit des Lebens nach dem Zusammenbruch zu Beginn der Pandemie (Demirovic, 2020) zurückgewonnen scheint, gesellt sich zur unmittelbar körperlichen Bedrohung eine ungleich größere Bedrohung hinzu: Es ist nicht mehr zu leugnen, dass der Klimawandel genauso wenig vor den europäischen Grenzen Halt machen wird wie das Coronavirus. Angesichts all dessen gibt es viel zu betrauern in diesen Zeiten der Pandemie – natürlich die Leben der Gestorbenen. Aber es gilt auch, die „alte“ Normalität zu Grabe zu tragen. Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) zufolge ist Trauer die natürliche Konsequenz dort, wo Verlust erlitten wurde. Doch diverse Abwehrmechanismen schieben sich immer wieder zwischen Verlust und Trauer: Es scheint an der Zeit, die Idealisierung und Identifikation mit der „alten“ Normalität und deren Allmachts-angeboten zu lösen. Angesichts der multiplen Verwerfungen der Pandemie erscheint es wichtig, sich wieder einmal zu fragen, in welcher Welt zu leben es sich lohnt? Welcher Umgang muss mit den diversen gesellschaftlichen Zurichtungen und der unaufhaltbaren Zerstörung der Lebensgrundlagen auf dem Planeten gefunden werden – und mit der Vulnerabilität, die sie produzieren?

Ausblick

In den digitalen Austauschplattformen, die wir mit Partner:innen und Carer aus aller Welt organisiert haben, entsteht ein Raum, der trotz dessen digitaler Körperlosigkeit zusammenschweißt und große Fragen, aber auch gemeinsames Trauern besprechbar macht: Es ist eine Plattform von Vulnerabilität und Widerstand. Einige der Aktivist:innen und psychosozialen Care-Arbeitenden bezeichnen sich als trauma survivors. Die meisten sind unmittelbar von dem Virus betroffen, da sie selbst Angehörige durch Corona verloren haben. Ausnahmslos alle berichten davon, dass und wie sich die patriarchale Gewalt verschlimmert hat und sie mehrfach betroffen sind – „als läge die Welt auf unseren Schultern“.

Auch wir aus Frankfurt sind Teil dieser globalen Care Arbeit, sind mit Verletzlichkeiten und Erschütterungen konfrontiert. Überall hat sich etwas verändert. Nur wenig zum Guten. Doch das politische Projekt der Entprivatisierung des Leids kann nur ein gemeinsames sein. Auch und gerade in der Polypandemie, gegenüber einer Weltordnung, die sich immer weiter von Solidaritätsgedanken und Multilateralismus abwendet. „Es fühlt sich an, als ob es keine Zukunft gibt. Gemeinsam sind wir wütend und gleichzeitig sind wir sehr getrennt voneinander“, sagte eine Teilnehmerin im digitalen Austausch. Zum Abschluss der Sitzung fügt sie hinzu: „Aber egal, in welcher Zeitzone, egal ob Tag oder Nacht – wir werden alle gemeinsam hier sein.“

Literatur

Bracke, S. (2016). Bouncing back – vulnerability and resistance in times of resilience. In J. Butler, Z. Gambetti, & L. Sabsay (Hrsg.), Vulnerability in Resistance (S. 52–76). Durham: Duke University Press.

Butler, J. (2016). Rethinking Vulnerability and Resistance. In J. Butler, Z. Gambetti & L. Sabsay (Eds.), Vulnerability in Resistance (S. 12–27). Durham: Duke University Press.

Demirovic, A. (2020). In der Krise die Weichen stellen. Die Corona-Pandemie und die Perspektiven der Transformation. Abgerufen von: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/in-der-krise-die-weichen-stellen-die-corona-pandemie-und-die-perspektiven-der-transformation/

Forum News Staff (2021). West Rand CHWs Forced to Work Without PPEs. Abgerufen von: karibu.org.za/west-rand-chws-forced-to-work-withoutppes/

Guterres, A. (2020, Juli 18). #COVID19 has exposed the lie that free markets can deliver healthcare for all, the fiction that unpaid care work isn’t work, the delusion that we live in a post-racist world. We are all floating on the same sea, but some are in superyachts & others clinging to drifting debris. [Tweet]. Abgerufen von: twitter.com/antonioguterres/ status/1284494828034760706

Kistner, J. (2020). Die Hierarchisierung des Lebens und die Herausforderung der Solidarität. Abgerufen von https://www.youtube.com/watch?v=bL96bD7x9P0

Mbembe, A. (2016). Necropolitics. Durham: Duke University Press. medico international (2017). Fit für die Katastrophe? Kritische Anmerkungen zum Resilienzdiskurs im aktuellen Krisenmanagement. Gießen: Psychosozial- Verlag.

Mitscherlich, A. & Mitscherlich-Nielsen, M. (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper.

Münchner Sicherheitskonferenz (2021). Polypandemie: Sonderausgabe des Munich Security Report. Abgerufen von: securityconference.org/publikationen/ msr-special-editions/stability-2020/

Ngema, A. (2021). Household Registrations Difficult for Community Healthcare Workers. Abgerufen 15. Oktober 2021, von Karibu – A Working Class News website: https://karibu.org.za/household-registrations- difficult-for-community-healthcare-workers/

Nwosu Ch. & Oyenubi A. (2021). Income-related health inequalities associated with the coronavirus pandemic in South Africa: A decomposition analysis, International Journal for Equity in Health. Abgerufen von: https://doi.org/10.1186/s12939-020-01361-7

Oxfam (2021). The inequality virus. Abgerufen von: https://www.oxfam.de/system/files/documents/the_inequality_virus_-_english_full_report_-_embargoed_00_01_gmt_25_january_2021.pdf

Scott, J. C. (1989). Everyday Forms of Resistance. The Copenhagen Journal of Asian Studies, 4, 33–62. https:// doi.org/10.22439/cjas.v4i1.1765

Segato, R. L. (2021). Corona oder: Die idiotische Leugnung des Todes. Blätter für deutsche und internationale Politik, 5, 97–104.

Witbooi, K. (2021). Siyahlola Campaign Goes to North West to Meet with CHWs. Abgerufen 15. Oktober 2021, von Karibu – A Working Class News website: https://karibu.org.za/siyahlola-campaign-goes-to-north-west-to-meet-with-chws/

Zondi, M. (2018). Strengthening the Wounded Carer. Westdene: Sophiatown Community Psychological Services. Abgerufen von https://sophiatowncounselling.files.wordpress.com/2018/08/strengthening-the-wounded-carer.pdf

Veröffentlicht am 19. Januar 2022

Julia Manek

Julia Manek ist Psychologin und Humangeographin. In der Öffentlichkeitsarbeit von medico international ist sie als Referentin für psychosoziale Arbeit tätig.


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