Mexiko / Italien

Verschollen

Wie in Mexiko macht nun auch in Italien eine internationale Karawane auf die Opfer der Abschottungspolitik aufmerksam

Von Erika Harzer

Die Aula der staatlichen Handelsakademie von Casal del Principe ist vollbesetzt. In der Kleinstadt nördlich von Neapel, die international vor allem wegen ihrer Verbindung zur Mafiaorganisation Camorra bekannt wurde, ist eine außergewöhnliche Veranstaltung angekündigt: die italienische Karawane für die Rechte der Migranten, für Würde und Gerechtigkeit macht Station. „Als ich die Schule betrat, war ich sehr nervös“, erzählt Ana Gricélides Enamorado. Eigentlich wollte sie den Studierenden von der Suche nach ihrem Sohn erzählen. Doch beim Anblick der jungen Menschen versagt ihr die Stimme. „Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten, weil ich in ihnen das Gesicht meines Oscar Antonios sah, der genauso wie diese jungen Menschen hier Lust auf das Leben hatte, bis er aus dem Leben gedrängt wurde.“

Ana Enamorado kommt aus Honduras, lebt allerdings schon seit vier Jahren in Mexiko City. Irgendwo in Mexiko ist ihr Sohn Oscar Antonio 2009 verschwunden. Er war 18 und wollte in die USA migrieren. Anfangs hatten sie Kontakt, dann herrschte Funkstille. Keine Spuren, kein Abschied. Sie weiß bis heute nicht, was Oscar zugestoßen ist. 2012 nahm sie an der von medico international unterstützten Karawane mittelamerikanischer Mütter auf der Suche nach ihren verschwundenen Söhnen und Töchtern durch Mexiko teil. Auf jeder Station zeigte sie das Foto ihres Sohnes. Doch sie erhielt keinen Hinweis. Ana Enamorado entschied, in Mexiko zu bleiben und sich dort dem Movimiento Migrante Mesoamericano (M3) anzuschließen. „Ich wusste, dass ich nun mein Leben der Suche meines Sohnes und weiterer Verschwundener auf der Migrationsroute widmen würde.“ Der nagende Schmerz habe sie in Italien wieder eingeholt. „Nachdem ich die Aula verlassen hatte, kamen einige der Studierenden zu mir, umarmten mich. Obwohl wir nicht die gleiche Sprache hatten, war die Nähe unglaublich.“

Von Turin bis nach Sizilien

Im April 2016 ist die italienische Variante der Karawane bereits zum zweiten Mal unterwegs – in jenen Wochen, in denen die Europäische Union mithilfe eines Abkommens mit der Türkei die Balkanroute dicht macht und damit die Migranten auf die Routen zwingt, auf denen auch in Europa Migrantinnen und Migranten einem System aus Schattenökonomie und Illegalität ausgeliefert sind. Die Karawane beginnt in der Industriestadt Turin und führt bis hinunter nach Catania auf Sizilien. 17 Tage lang, rund zweieinhalbtausend Kilometer. Organisiert wird die Karawane von Gianfranco Crua und Patricia Peinetti, beide um die 60, und einer Gruppe von rund 20 jungen Menschen aus Turin. Die Idee stammt von den mittelamerikanischen Müttern in Mexiko, die im Winter 2015 bereits zum elften Mal durch Mexiko gereist sind. Es gibt eine enge Zusammenarbeit zwischen der dortigen Organisationsgruppe, dem medico-Partner M3, und der Initiative in Italien. Seit zwei Jahren nehmen Delegierte an den jeweiligen Karawanen teil. Delegierte wie Ana Enamorado. Sie vertritt in Italien das Movimiento Migrante Mesoamericano.

Die Etappen der Karawane koordiniert die Turiner Initiative mit örtlichen Antirassismus- und Menschenrechtsinitiativen, die an den Stationen Abendveranstaltungen, Schulbesuche, Kundgebungen, Gesprächsrun-den und kurze Demonstrationen organisieren. Sie debattieren über die immer gefährlicher werdenden Migrationsrouten, kritisieren die Festung Europa und das Grenzregime der USA. Und sie sprechen über die gemeinsamen politischen Forderungen nach legalen Wegen für die flüchtenden und migrierenden Menschen. „Der Austausch ist uns ebenso wichtig wie Vernetzungen der vorhandenen Strukturen“, erklärt Gianfranco Crua. Die mexikanische Karawane habe sie beeindruckt, erzählt er weiter, weil sie neben der Öffentlichkeitsarbeit auch viele Möglichkeiten bietet, Kontakte zu knüpfen. Die Carovane Migranti von Italien definiert sich bisher als Projekt ohne feste Organisationsstrukturen, ohne Fremdgelder, ohne Fremdbestimmung. Monatelang lud die Turiner Gruppe im Vorfeld zu politischen Abendessen ein. Mit den Erlösen finanzieren sie die Karawane. An den Etappen organisieren lokale Gruppen die Unterkunft.

Neben Ana Enamorado ist auch Guadalupe González Herrera von der mexikanischen Gruppe Las Patronas dabei, einer Selbsthilfegruppe von Frauen, die Migrantinnen und Migranten bei ihrer lebensgefährlichen Reise auf den Zügen Richtung Norden mit Wasser und Essen versorgen. Auch Omar Garcia kommt aus Mexiko. Garcia gehört zu den wenigen Überlebenden des Massakers von Iguala im mexikanischen Bundesstaat Morelos, bei dem vor zwei Jahren 43 Lehramtstudenten aus Ayotzinapa von der Polizei verhaftet wurden und seither verschwunden sind. Aus Tunesien nimmt Imed Soltani von der Organisation Terre pour tous (Die Erde für Alle) teil. Nach der Revolution 2011 sind viele Tunesier mit den „Todesbooten“ nach Italien geflohen. Ihre Spuren verloren sich vor Lampedusa. Imed Soltani vertritt die Angehörigen von 504 Verschwundenen. Aus Algerien ist Kauceila Zerguine angereist. Der Anwalt arbeitet für die algerische Liga zur Verteidigung der Menschenrechte und für das Angehörigenkollektiv verschwundener Algerier aus Annaba. Aus dieser Küstenstadt im Osten Algeriens sind zwischen 2007 und 2014 Hunderte junger Algerier auf mysteriöse Art und Weise verschwunden.

Orte der Solidarität

Auf ihrem Weg durch Italien sucht diese internationale Gruppe Orte auf, an denen Migranten als Arbeitssklaven gehalten werden, und sie macht Halt an staatlichen Erstaufnahme- und Abschiebezentren, den geplanten Hotspots. Dort und auch auf öffentlichen Plätzen finden Kundgebungen statt und zeigen die Teilnehmer aus Mexiko, Algerien und Tunesien mitgebrachte Fotos von Verschwundenen. Sie berichten von den Suchaktionen, aber auch von den Blockaden und der fehlenden Kooperationsbereitschaft der Behörden. Oft auch von dem Nichtverstehen. Doch gezielt reist die Karawane auch in Gemeinden, die beweisen, dass es anders geht. Orte wie Casal del Principe oder Vittoria auf Sizilien, eine Stadt mit über 60.000 Einwohnern, wo die Kirchengemeinde von Pfarrer Beniamino Sacco die Gruppe empfängt. Die Kirchengemeinde kaufte außerhalb der Stadt ein ehemaliges Erholungszentrum und richtete darin Unterkünfte für Geflüchtete ein. Eine Arbeit, mit der man sich nicht nur Freunde macht, erzählt Sacco. Auch Riace in Kalabrien nimmt, gefördert aus Mitteln der EU und des italienischen Innenministeriums, die Chance wahr, durch eine humanitäre Unterbringung und eine gelebte Willkommenskultur, neues Leben in ihre Dörfer zu bringen und Geflüchteten einen Zufluchtsort zu bieten – nicht in Massenunterkünften, sondern in den leerstehenden Häusern der abgewanderten Menschen.

Für Solidarität steht auch die Gemeinde Sutera, südöstlich von Palermo. Hier wird die Karawane mit einem Konzert im Museumshof begrüßt. Am Abend organisiert das örtliche Komitee eine Veranstaltung mit interkulturellem Abendessen. Im Gemeindesaal erzählen die internationalen Gäste von ihrer Suche nach Verschwundenen. Danach berichten in Sutera lebende Geflüchtete aus dem Niger und der Elfenbeinküste von ihrer Aufnahme im Ort und ihrer Freude, nun wieder in die Zukunft schauen zu können. Omar Garcia aus Mexiko und Imed Soltani aus Tunesien freuen sich mit ihnen. Doch sie erinnern auch daran, dass andere kein Glück gehabt haben; jene, die im Mittelmeer ertrunken sind, die Folterzentren in Libyen nicht überlebt haben oder deren Familien kein Lösegeld an die Entführer der IS-Milizen zahlen konnten. Imed redet schnell, er will auf keinen Fall unterbrochen werden. Die Verschwundenen sollen nicht in Vergessenheit geraten. Auch Omar Garcia, der Überlebende des Massakers von Ayotzinapa, erzählt davon, dass er nicht aufhören könne, an die anderen zu denken. Das Überleben als Verpflichtung, sich für legale Wege einzusetzen. Doch dies, und darin sind sich alle einig, sei die Aufgabe aller Menschen, die innerhalb der Festung Europa leben.

Eine der letzten Stationen der Karawane ist das C.I.E., das Erstaufnahme- und Abschiebezentrum von Pian del Lago in Caltanissetta auf Sizilien. Schnell hängen die Teilnehmenden Transparente und Fotos an den Zaun der Anlage. Imed schnappt sich das Megaphon und erzählt den Migranten vor dem Zaun von den Tunesiern, nach deren Spuren er sucht. Ana Enamorado fragt die Wartenden, warum sie hier stehen. Ein junger Mann aus Bangladesch wartet auf sein Erstaufnahmegespräch, eine Gruppe pakistanischer Männer auf Verlängerungstermine. Plötzlich verbinden sich die Geschichten aus Algerien, aus Honduras und Tunesien mit denen der hier Gestrandeten, überlappen sich die Fotos der Verschwundenen aus Mittelamerika und Nordafrika mit den in Europa Angekommenen. Die globalen Grenzregimes produzieren ähnliche Schicksale und Geschichten. Unzählige Spuren verlieren sich im Nichts. Die Angehörigen warten. Hilflos. Leidend. Ohne Informationen. Ohne institutionelle Hilfe.

„Ohne die Karawane wüsste ich wenig über die Situation in Europa. Ich habe mich auf Mittelamerika und Mexiko konzentriert und sehe hier, dass ein globales Problem existiert“, erzählt Ana Enamorado kurz vor dem Ende der Reise. „Vor allem die Gleichgültigkeit der offiziellen Stellen gegenüber uns Suchenden ist überall gleich.“ Früher sei sie eine schweigende und vor sich hin trauernde Mutter gewesen. In der M3-Bewegung hat sie sich zu einer Kämpferin entwickelt. „Wir müssen uns mit unseren Forderungen zusammenschließen, in Mittelamerika, in Mexiko, in Italien, Tunesien, Algerien. Nur so werden wir mit unserer Suche ernst genommen. Denn wir haben ein Recht auf Wahrheit.“

Am 5. November 2016 wird um 18.05 Uhr im Deutschlandradio Kultur ein Feature mit dem Titel „Geschichten vom Verschwinden“ von Erika Harzer ausgestrahlt.

medico international fördert das Movimiento Migrante Mesoamericano seit 2011. Seit Jahren organisiert die Gruppe eine Karawane der Angehörigen verschwundener Migranten in Mexiko. Zurzeit arbeitet M3 am Aufbau einer Datenbank der Vermissten.

spendenstichwort: Mexiko

Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 18. Juli 2016

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