
Liebe Leser:innen,
bei vielen, denen Unrecht und Gewalt angetan wurde, herrschte lange eine Art Gewissheit, dass ihre Situation bei den Menschen anderswo zu Empörung und Widerstand führen würde, wenn sie nur ausreichend bebildert wäre. Das geflügelte Wort von der „Macht der Bilder“ meint zwar vor allem eine Herrschaftstechnologie. Doch Bilder waren auch ein Instrument, eine Ultima Ratio in der Hand derer, deren Schicksale von der Weltöffentlichkeit ignoriert wurden. Wenn die Menschen anderswo nur sehen könnten, was wirklich passiert, dann würden sie es auch nicht hinnehmen.
Man muss sich heute fragen, ob die hochfrequente Bebilderung von Tod, Leid und Zerstörung nicht oftmals den gegenteiligen Effekt hat. Die Bilder aus Gaza jedenfalls, die seit zwei Jahren auf uns einprasseln, sensibilisieren uns schon lange nicht mehr für das Leid der Palästinenser:innen. Sie gewöhnen uns vielmehr und zunehmend an seine Alltäglichkeit. Wir kennen das von den Toten auf dem Mittelmeer: Bilder, die einmal Empörung und Entrüstung hervorriefen, werden zum Medium der Normalisierung. Das permanente Hinsehen stumpft ab. Bleibt dann auch noch der politische Eingriff folgenlos, wird aus dem, was eben Skandal war, Beiläufiges.
Dieses rundschreiben geht der Frage nach, wie wir mit dieser Permanenz des Unrechts, aber auch mit der sie begleitenden Machtlosigkeit umgehen können. Der Leitartikel von medicos Geschäftsführer Tsafrir Cohen blickt auf die deutsche Komplizenschaft im Gaza-Krieg. Bebildert ist sein Text mit Paul Klees Gemälde „Angelus Novus“: Eben dieser wurde bei Walter Benjamin zum Engel der Geschichte. „Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. […] Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert“, schreibt Benjamin. Aufgerissene Augen, offener Mund – und dann? Das muss sich der Engel vielleicht nicht fragen lassen. Wir aber schon.
Unsere langjährige israelische Partnerorganisation Physicians for Human Rights (PHR) stellte kürzlich gemeinsam mit der Menschenrechtsorganisation B‘Tselem auf einer international breit rezipierten Pressekonferenz einen Bericht vor, der den Titel „Our Genocide“ trägt. Er schlussfolgert sowohl aus dem gegenwärtigen Kriegsgeschehen in Gaza als auch aus seiner Vorgeschichte, dass wir einem systematischen Vernichtungsfeldzug gegen das palästinensische Leben beiwohnen. Die Geschäftsführerin von B‘Tselem, Yuli Novak, schreibt für uns darüber, was diese Feststellung für sie und ihr Land bedeuten.
Die Gewöhnung an die Regression lässt auch positive Erinnerungen verblassen, die hochzuhalten sich lohnen könnte. Zehn Jahre liegt der Fall des europäischen Grenzregimes im Sommer der Migration nun zurück. Unsere Kollegin Valeria Hänsel blickt anlässlich dieses Jubiläums ausführlich zurück auf ein Jahrzehnt migrantischer Kämpfe in Europa, den sie begleitenden autoritären Rollback und eine Vielzahl von medico-Kooperationen entlang der europäischen Migrationsrouten. Während vor zehn Jahren noch die meisten Blicke nach Griechenland gingen, wo an Orten wie Athen, Idomeni oder Moria Katastrophen provoziert und Geschichte geschrieben wurde, ist inzwischen auch die polnische Grenze zu Belarus ein Hotspot der Migration und der Grenzgewalt. Eine erschütternde Reportage über die Lage unweit der deutschen Gartenzäune finden Sie im hinteren Teil des Hefts. Sie erzählt auch davon, wie ganz normale Dorfbewohner:innen nicht in engelsgleicher Schockstarre verharrten, sondern angesichts des Leids zu mutigen Fluchthelfer:innen wurden. Manche von ihnen mussten sich dieser Tage dafür vor Gericht verantworten.
Am 27. September veranstaltet medico gemeinsam mit vielen weiteren Organisationen und Einzelpersonen eine Großkundgebung mit Konzert in Berlin. Das Motto: „All Eyes on Gaza“. Das Format zählt eigentlich nicht zum klassischen medico-Repertoire. Es ist einer unserer Versuche, der Ausnahmesituation zu begegnen – auch wenn es sicher Mutigeres gibt und auch braucht.
Ich wünsche Ihnen eine in diesem Sinne inspirierende Lektüre.
Ihr Mario Neumann